»Und das steht nun endgültig fest, daß du in den Krieg gehst, Andrei?« fragte sie seufzend.
Lisa seufzte ebenfalls.
»Ich reise sogar schon morgen ab«, antwortete der Bruder.
»Er läßt mich hier allein, und Gott weiß warum, da er doch auch ohne das ein gutes Avancement haben konnte …«
Prinzessin Marja hörte nicht nach ihr hin; ihren eigenen Gedankenfaden weiterspinnend, wandte sie sich zu ihrer Schwägerin und fragte, mit freundlichem Blick auf deren Leib deutend:
»Ist es denn sicher?«
Der Gesichtsausdruck der Fürstin veränderte sich. Sie seufzte.
»Ja, es ist sicher«, antwortete sie. »Ach, das ist so furchtbar …«
Lisas Lippe senkte sich herab. Sie näherte ihr Gesicht dem Gesicht ihrer Schwägerin und brach unerwartet wieder in Tränen aus.
»Sie muß sich erholen«, sagte Fürst Andrei mit finsterer Miene. »Nicht wahr, Lisa? Führe sie in dein Zimmer; ich will unterdes zu unserm Vater gehen. Wie geht es ihm? Alles unverändert?«
»Jawohl, alles unverändert; wenigstens meine ich, daß es auch dir so vorkommen wird«, antwortete die Prinzessin in freudigem Ton.
»Immer noch dieselbe Stundeneinteilung, dieselben Spaziergänge in den Alleen? Auch die Drehbank?« fragte Fürst Andrei mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln, welches zeigte, daß er bei all seiner Liebe und Achtung für seinen Vater doch dessen Schwächen kannte.
»Dieselbe Stundeneinteilung und die Drehbank und auch seine Beschäftigung mit der Mathematik und meine Geometriestunden«, erwiderte Prinzessin Marja fröhlich, als ob diese Geometriestunden zu ihren angenehmsten Erlebnissen gehörten.
Als die zwanzig Minuten um waren, die noch bis zum Aufstehtermin des alten Fürsten gefehlt hatten, kam Tichon, um den jungen Fürsten zu seinem Vater zu rufen. Der Ankunft des Sohnes zu Ehren ließ der alte Fürst in seiner gewöhnlichen Lebensordnung nun doch insofern eine Abweichung eintreten, als er den Sohn in der Zeit, wo er sich zum Mittagessen ankleidete, in sein Zimmer kommen ließ. Der Fürst war bei der altväterischen Tracht geblieben: dem langschößigen Kaftan und dem gepuderten Haar. Als Fürst Andrei bei seinem Vater eintrat (nicht mit dem mürrischen Gesicht und Benehmen, das er in den Salons annahm, sondern mit der lebhaften Miene, die er bei dem Gespräch mit Pierre gehabt hatte), saß der alte Herr im Pudermantel auf einem breiten, mit Saffian überzogenen Lehnsessel und hatte seinen Kopf den Händen Tichons anvertraut.
»Aha! der Krieger! Also den Bonaparte willst du bekriegen?« sagte der Alte und schüttelte seinen gepuderten Kopf, soweit das der Zopf gestattete, welchen Tichon gerade zum Flechten in den Händen hielt. »Dann nimm ihn dir nur gehörig vor, sonst macht er bald auch uns noch zu seinen Untertanen. Sei willkommen!« Er hielt ihm seine Backe hin.
Der Alte befand sich jetzt, da er vor Tisch geschlafen hatte, in guter Laune. (Er pflegte zu sagen, der Schlaf nach Tisch sei Silber, der Schlaf vor Tisch Gold.) Vergnügt richtete er unter seinen dichten, buschigen Brauen hervor einen schrägen Blick auf den Sohn. Fürst Andrei trat heran und küßte den Vater auf die Stelle, die dieser ihm angewiesen hatte. Auf das Lieblingsthema des Vaters, Spötteleien über die Kriegsleute der Gegenwart und namentlich über Bonaparte, ging er nicht ein.
»Ich habe Ihnen, lieber Vater, auch meine Frau mithergebracht, die sich in anderen Umständen befindet«, sagte Fürst Andrei und verfolgte mit lebhaften, respektvollen Blicken jede Bewegung in den Gesichtszügen seines Vaters. »Wie steht es mit Ihrem Befinden?«
»Krank, mein Sohn, sind nur Dummköpfe und Schlemmer. Mich aber kennst du ja wohclass="underline" ich habe vom Morgen bis zum Abend meine Beschäftigung und lebe mäßig; nun, da bin ich denn auch gesund.«
»Gott sei Dank!« sagte der Sohn lächelnd.
»Gott hat damit nichts zu schaffen. Aber nun erzähle«, fuhr er, auf sein Steckenpferd zurückkommend, fort; »ihr habt ja da eine neue Wissenschaft, die sogenannte Strategie, und die Deutschen sind darin eure Lehrmeister; wie werdet ihr also nun mit Bonaparte kämpfen?«
Fürst Andrei lächelte.
»Lassen Sie mich nur erst nach der Reise zur Besinnung kommen, lieber Vater«, antwortete er, und sein Lächeln zeigte, daß die Schwächen des Vaters seine Liebe und Verehrung für diesen nicht beeinträchtigten. »Ich habe mich ja noch nicht einmal einlogiert.«
»Unsinn, Unsinn!« rief der Alte, schüttelte sein Zöpfchen, um zu probieren, ob es auch fest geflochten sei, und ergriff den Sohn bei der Hand. »Die Wohnung für deine Frau steht bereit. Prinzessin Marja wird sie hinführen und ihr alles zeigen und ein langes und breites mit ihr schwatzen. Das werden alles die Weiber unter sich besorgen. Ich freue mich, daß wir deine Frau hier haben. Na, nun setz dich her und erzähle. Was die Michelsonsche Armee bezweckt, verstehe ich; auch die Tolstoische … eine gleichzeitige Landung. Aber was soll die Südarmee tun? Preußen hält sich neutral … das weiß ich. Wie steht es mit Österreich?« Während er so sprach, war er von seinem Lehnsessel aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab, wobei Tichon hinter ihm herlief und ihm die einzelnen Stücke seines Anzuges zureichte. »Und wie wird sich Schweden verhalten? Wie werden sie durch Pommern hindurchkommen?«
Da Fürst Andrei sah, daß der Vater hartnäckig auf seinem Verlangen bestand, so begann er, anfangs nur ungern, aber dann allmählich lebhafter werdend (dies zeigte sich auch darin, daß er mitten in der Erzählung unwillkürlich vom Russischen zu dem ihm geläufigeren Französischen überging), den Operationsplan des bevorstehenden Feldzuges auseinanderzusetzen. Er berichtete, eine Armee von neunzigtausend Mann solle Preußen bedrohen, um es zur Aufgabe seiner Neutralität zu veranlassen und es in den Krieg mit hineinzuziehen; ein Teil dieser Truppen solle sich in Stralsund mit den schwedischen Truppen vereinigen; zweihundertzwanzigtausend Österreicher nebst hunderttausend Russen seien für die Operationen in Italien und am Rhein bestimmt; fünfzigtausend Russen und fünfzigtausend Engländer würden in Neapel landen; so würden im ganzen fünfhunderttausend Mann von verschiedenen Seiten auf die Franzosen losgehen. Der alte Fürst bekundete auch nicht durch das geringste Zeichen ein Interesse für diese Darlegung, als ob er gar nicht danach hinhörte, und während er fortfuhr, sich im Auf- und Abgehen anzukleiden, unterbrach er den Redenden dreimal in recht unerwarteter Weise. Das erstemal zwang er ihn innezuhalten, indem er rief:
»Die weiße, die weiße!«
Dies bedeutete, Tichon habe ihm nicht die Weste gegeben, die er anziehen wolle. Das zweitemal blieb er stehen und fragte:
»Steht ihre Entbindung bald bevor?« Und auf Fürst Andreis bejahende Antwort sagte er: »Schlimm, schlimm! Aber sprich nur weiter!«
Das drittemal fing der Alte, als Fürst Andrei seine Auseinandersetzung beendigt hatte, mit seiner Greisenstimme und mit mancher falschen Note an zu singen: »Marlborough s’en va-t-en guerre; dieu sait quand reviendra.«
Der Sohn lächelte nur.
»Ich sage nicht, daß dieser Plan mir besonders gut schiene«, sagte der Sohn. »Ich habe Ihnen nur berichtet, was man tatsächlich beabsichtigt. Napoleon hat gewiß auch schon seinen Feldzugsplan fertig, und der wird nicht schlechter sein als der unsrige.«