»Es ist ganz und gar nicht so, wie du meinst; ich will dir sagen, was es mit dem deutschen Tugendbund für eine Bewandtnis hatte, und mit dem, den ich in Vorschlag bringe.«
»Na, mein Bester, für die Wurstmacher mag das ja ganz gut sein, dieser Tugendbund; aber ich habe kein Verständnis für ihn und mag seinen Namen gar nicht aussprechen«, ließ sich Denisow in lautem, entschiedenem Ton vernehmen. »Daß alles scheußlich und greulich ist, das ist auch meine Ansicht; bloß für den Tugendbund habe ich kein Verständnis. Der gefällt mir schon deshalb nicht, weil er sich als Rebellion1 bezeichnet. Das ist meine bescheidene Meinung.«
Pierre lächelte, Natascha lachte laut auf, Nikolai aber zog die Augenbrauen noch finsterer zusammen und wollte Pierre beweisen, daß keine Revolution zu befürchten sei und die ganze Gefahr, von der er spreche, nur in seiner Einbildung existiere. Pierre bewies das Gegenteil, und da seine geistigen Kräfte stärker und gewandter waren, so fühlte Nikolai, daß er bei der Debatte den kürzeren zog. Dies brachte ihn noch mehr auf, da er in tiefster Seele, nicht aufgrund von Vernunftschlüssen, sondern aufgrund von etwas, was stärker war als Vernunftschlüsse, die zweifellose Überzeugung hatte, daß seine Ansicht die richtige sei.
»Ich will dir etwas sagen«, hob er an, indem er aufstand; er versuchte mit nervösen Bewegungen seine Pfeife in die Ecke zu stellen, ließ sie aber schließlich hinfallen. »Beweisen kann ich dir das nicht. Du sagst, es sei bei uns alles schlecht und es komme eine Revolution; ich sehe davon nichts. Aber du sagst, ein Eid habe nur einen bedingten Wert, und darauf antworte ich dir: du weißt, daß du mein bester Freund bist; aber wenn ihr einen geheimen Bund bildet und anfangt, euch der Regierung, mag sie sein, wie sie will, zu widersetzen, so weiß ich, daß es meine Pflicht ist, ihr zu gehorchen. Und sollte mir Araktschejew gleich diesen Augenblick befehlen, mit einer Eskadron gegen euch loszureiten und euch niederzuhauen, ich würde, ohne mich eine Sekunde lang zu bedenken, losreiten. Darüber magst du nun denken, wie du willst.«
Nach diesen Worten trat ein unbehagliches Schweigen ein. Natascha war die erste, die wieder zu reden anfing: sie verteidigte ihren Mann und fiel über ihren Bruder her. Ihre Verteidigung war ja nur schwach und ungeschickt, erreichte aber doch ihren Zweck. Das Gespräch kam wieder in Gang, und zwar nun nicht mehr in dem unangenehm feindseligen Ton, in welchem Nikolai die letzten Worte gesprochen hatte.
Als alle aufstanden, um zum Abendessen zu gehen, trat Nikolenka Bolkonski zu Pierre heran; er war blaß, und seine Augen glänzten und leuchteten.
»Onkel Pierre … Sie … nein … Wenn Papa noch lebte … würde er mit Ihnen derselben Ansicht sein?« fragte er.
Pierre begriff sofort, welch eine eigenartige, selbständige, komplizierte, starke Arbeit des Empfindungs- und Denkvermögens in der Seele dieses Knaben während ihres Gesprächs vorgegangen sein mußte, und indem er sich schnell alles vergegenwärtigte, was er gesagt hatte, ärgerte er sich, daß der Knabe es mit angehört hatte. Indes mußte er ihm doch eine Antwort geben.
»Ich glaube, ja«, sagte er mit innerem Widerstreben und verließ das Zimmer.
Der Knabe senkte den Kopf und schien jetzt erst zu bemerken, was er auf dem Schreibtisch angerichtet hatte. Er wurde dunkelrot und trat an seinen Onkel Nikolai Rostow heran.
»Verzeih mir, Onkel; ich habe das hier gemacht … ohne Absicht«, sagte er und wies auf die zerbrochenen Siegellackstangen und Federn.
Nikolai zuckte ärgerlich zusammen.
»Gut, gut«, erwiderte er und warf die Bruchstücke des Siegellacks und der Federn unter den Tisch.
Er hielt offenbar nur mit Mühe den in ihm aufsteigenden Zorn zurück und wandte sich von ihm ab.
»Du hattest hier überhaupt nichts zu suchen«, sagte er.
Fußnoten
1 bunt heißt im Russischen die Rebellion.
Anmerkung des Übersetzers.
XV
Beim Abendessen handelte das Gespräch nicht mehr von Politik und Geheimbünden, sondern vielmehr von einem für Nikolai höchst angenehmen Gegenstand: von Erinnerungen an das Jahr 1812. Darauf hatte Denisow das Gespräch gebracht, und Pierre zeigte sich dabei ganz besonders liebenswürdig und unterhaltend. So trennten sich alle in der freundschaftlichsten Stimmung.
Nach dem Abendessen ging Nikolai in sein Zimmer, entkleidete sich dort und gab dem Verwalter, der auf ihn lange gewartet hatte, seine Befehle; dann begab er sich im Schlafrock ins Schlafzimmer, wo er seine Frau noch am Schreibtisch traf: sie schrieb etwas.
»Was schreibst du, Marja?« fragte Nikolai.
Gräfin Marja errötete. Sie fürchtete, daß das, was sie schrieb, bei ihrem Mann kein Verständnis und keinen Beifall finden werde.
Sie hätte es ihm gern verborgen, was sie schrieb; aber gleichzeitig freute sich sich auch darüber, daß er sie dabei getroffen hatte und sie es ihm nun sagen mußte.
»Es ist ein Tagebuch, Nikolai«, sagte sie und reichte ihm ein blaues Heftchen, das zum Teil mit ihren festen, großen Schreibzügen gefüllt war.
»Ein Tagebuch?« erwiderte Nikolai mit einem leisen Anflug von Spott und nahm das Heft in die Hand.
Darin stand auf französisch folgendes geschrieben:
»Den 4. Dezember. Heute wollte Andrei« (der älteste Sohn), »nachdem er aufgewacht war, sich nicht anziehen, und Mademoiselle Luise ließ mich rufen. Er war unartig und eigensinnig. Ich versuchte es mit Drohungen; aber er wurde nur noch halsstarriger. Da nahm ich die Erledigung der Sache ganz auf mich, wandte mich von ihm weg und begann mit der Kinderfrau die andern Kinder zurechtzumachen, ihm aber sagte ich, daß ich ihm böse sei. Er schwieg lange, als wenn er erstaunt wäre; dann sprang er aus dem Bett, kam im bloßen Hemd zu mir gelaufen und schluchzte so heftig, daß ich ihn lange Zeit nicht beruhigen konnte. Offenbar war ihm das allerschmerzlichste, daß er mich betrübt hatte. Nachher am Abend, als ich ihm sein Zettelchen gab, küßte er mich und begann wieder kläglich zu weinen. Durch Zärtlichkeit kann man bei ihm alles erreichen.«
»Was ist denn das: sein Zettelchen?« fragte Nikolai.
»Ich habe angefangen, den älteren Kindern jeden Abend kleine Zensuren zu geben, wie sie sich aufgeführt haben.«
Nikolai blickte in die leuchtenden Augen, die ihn anschauten, und fuhr fort zu blättern und zu lesen. In dem Tagebuch war alles aus dem Kinderleben aufgezeichnet, was der Mutter bemerkenswert erschienen war, weil es auf den Charakter der Kinder schließen ließ oder auf allgemeine Ideen über Erziehungsmethoden hinleitete. Es waren größtenteils ganz geringfügige Kleinigkeiten; aber weder die Mutter faßte sie so auf noch auch der Vater, als er jetzt zum erstenmal dieses Kindertagebuch las.
Unter dem 5. Dezember war notiert:
»Dmitri war bei Tisch unartig. Der Papa befahl, er sollte nichts von der süßen Speise bekommen. So geschah es auch; aber er sah die andern, während sie aßen, so kläglich und gierig an. Ich meine, daß eine Bestrafung durch Entziehung der süßen Speise nur die Gier entwickelt. Ich will das doch auch Nikolai sagen.«
Nikolai legte das Büchlein hin und blickte seine Frau an, deren leuchtende Augen auf ihn mit der stillen Frage gerichtet waren, ob das Tagebuch seinen Beifall habe oder nicht. Es war kein Zweifel darüber möglich, daß Nikolai nicht nur das Tagebuch billigte, sondern auch seine Frau aufrichtig bewunderte.
»Vielleicht braucht man das nicht in so pedantischer Weise zu machen; vielleicht ist es sogar überhaupt nicht nötig«, dachte Nikolai; aber diese unermüdliche, stetige geistige Anstrengung, deren Ziel nur das sittliche Wohl der Kinder war, erregte seine Bewunderung. Wäre er imstande gewesen, sich seiner eigenen Empfindungen klar bewußt zu werden, so würde er gefunden haben, daß die wichtigste Grundlage, auf der seine feste, zärtliche, stolze Liebe zu seiner Frau ruhte, immer dieses Gefühl der Bewunderung für ihr Seelenleben war, für diese hohe sittliche Welt, in der seine Frau stets lebte und die ihm selbst beinah unzugänglich war.