Er war stolz darauf, daß sie so klug und gut war, sah ein, daß er auf geistigem Gebiet hinter ihr zurückstand, und freute sich um so mehr darüber, daß sie mit ihrer Seele nicht nur ihm gehörte, sondern sogar einen Teil seines eigenen Ich bildete.
»Das hat meinen vollen Beifall, meinen vollen Beifall, liebe Frau«, sagte er mit wichtiger Miene, und nach kurzem Stillschweigen fügte er hinzu: »Aber ich habe mich heute schlecht benommen. Du warst nicht in meinem Zimmer. Ich hatte einen Streit mit Pierre und wurde dabei etwas heftig. Aber es war auch nicht zum Aushalten. Er ist ja das reine Kind. Ich weiß nicht, was aus ihm werden sollte, wenn ihn Natascha nicht noch im Zaum hielte. Kannst du dir vorstellen, warum er nach Petersburg gereist war? Sie haben da so eine Art Bund gestiftet …«
»Ja, ich weiß«, fiel Gräfin Marja ein. »Natascha hat es mir erzählt.«
»Na, also du weißt es«, fuhr Nikolai fort, der bei der bloßen Erinnerung an den Streit wieder hitzig wurde. »Er wollte mir beweisen, daß es die Pflicht jedes ehrenhaften Mannes sei, der Regierung entgegenzutreten, während doch Eid und Pflicht … Schade, daß du nicht dabei warst. Und da fielen sie alle über mich her, auch Denisow und Natascha … Natascha ist überhaupt eine zu komische Person. Sie hält ihn ja gehörig unter dem Pantoffel; aber sowie es zu einer Debatte kommt, hat sie gar keine eigenen Gedanken, sie redet geradezu mit Pierres eigenen Worten«, fügte Nikolai hinzu, da er jener unwiderstehlichen Neigung unterlag, die uns dazu verführt, gerade die Menschen, die uns die liebsten sind und uns am nächsten stehen, abfällig zu beurteilen.
Nikolai vergaß dabei, daß man Wort für Wort dasselbe, was er von Natascha sagte, auch von ihm selbst im Verhältnis zu seiner Frau sagen konnte.
»Ja, das habe ich auch bemerkt«, erwiderte Gräfin Marja.
»Als ich ihm sagte, Pflicht und Eid ständen höher als alles andre, fing er an, Gott weiß was zu beweisen. Schade, daß du nicht dabei warst; was hättest du dazu gesagt?«
»Meiner Ansicht nach hast du vollständig recht«, sagte Gräfin Marja. »Das habe ich auch zu Natascha gesagt. Pierre sagt, alle hätten jetzt schwer zu leiden, würden gepeinigt, gerieten auf Abwege, und es sei unsere Pflicht, unserm Nächsten zu helfen. Natürlich hat er recht; aber er vergißt, daß wir noch andere, nähere Pflichten haben, auf die uns Gott selbst hingewiesen hat, und daß wir zwar unsere eigene Person aufs Spiel setzen dürfen, aber nicht unsere Kinder.«
»Na ja, siehst du, genau dasselbe habe ich ihm auch gesagt«, rief Nikolai einfallend, der sich wirklich einbildete, dasselbe gesagt zu haben. »Aber sie blieben bei ihrem Satz, daß die Liebe zum Nächsten und das Christentum usw … Und das alles in Nikolenkas Gegenwart, der sich da ins Zimmer eingeschlichen hatte und alles zerbrach.«
»Ach ja, weißt du, Nikolai, Nikolenka macht mir so oft Sorge«, sagte Gräfin Marja. »Er ist ein ganz eigenartiger Charakter. Und ich fürchte, daß ich über der Beschäftigung mit meinen eigenen Kindern ihm nicht genug Teilnahme zuwende. Wir alle haben hier Kinder, jeder im Haus hat seine Familie, nur er hat niemanden. Er ist immer allein mit seinen Gedanken.«
»Nun, ich möchte doch meinen, daß du keinen Grund hast, dir seinetwegen Vorwürfe zu machen. Alles, was nur die zärtlichste Mutter für ihren Sohn tun kann, hast du für ihn getan und tust du noch für ihn. Und ich freue mich darüber natürlich. Er ist ein prächtiger, ganz prächtiger Junge. Heute hörte er in einer Art von Selbstvergessenheit zu, was Pierre sagte. Und denke maclass="underline" als wir hinausgehen wollen zum Abendbrot, da sehe ich, daß er auf meinem Schreibtisch alles kurz und klein gebrochen hat; und er sagte es auch sofort. Ich habe noch nie bemerkt, daß er die Unwahrheit gesagt hätte. Ein prächtiger, ganz prächtiger Junge!« sagte Nikolai noch einmal, dem der Knabe im Grunde des Herzens nicht sympathisch war, der aber immer gern hervorhob, daß er ein prächtiger Junge sei.
»Ich bin ihm doch kein Ersatz für eine Mutter«, sagte Gräfin Marja. »Ich fühle meine Unzulänglichkeit, und das ist mir ein Schmerz. Er ist ein wunderbarer Knabe; aber ich bin um ihn in großer Sorge. Es wäre für ihn nützlich, wenn er Gesellschaft hätte.«
»Nun, es dauert ja nicht mehr lange; im nächsten Sommer bringe ich ihn nach Petersburg«, antwortete Nikolai. »Ja, Pierre ist von jeher ein Phantast gewesen und wird immer einer bleiben«, fuhr er fort, indem er auf das Gespräch zurückkam, das sie in seinem Zimmer geführt hatten; dieses Gespräch hatte ihn offenbar sehr erregt. »Na, was gehen mich alle diese Dinge an, daß Araktschejew ein schlechter Mensch sein soll usw.? Was habe ich mich um all dergleichen damals geschert, als ich mich verheiratete und so viel Schulden hatte, daß meine Gläubiger mich ins Loch stecken wollten, und dazu die Mutter, die das nicht sehen und begreifen konnte? Und dann nachher, als ich dich hatte und die Kinder und die Wirtschaft. Bin ich denn etwa zu meinem Vergnügen vom Morgen bis zum Abend in der Wirtschaft und im Kontor tätig? Nein, ich weiß, daß ich arbeiten muß, um meine Mutter zu versorgen, um dir meine Schuld zurückzuzahlen und um die Kinder nicht als solche Bettler zurückzulassen, wie ich einer war.«
Gräfin Marja hätte ihm gern gesagt, der Mensch lebe nicht vom Brot allein und er lege diesen materiellen Dingen eine zu große Wichtigkeit bei; aber sie wußte, daß es keinen Zweck und keinen Nutzen hatte, das zu sagen. Sie ergriff nur seine Hand und küßte sie. Er faßte diese Handlung seiner Frau als ein Zeichen dafür, daß sie seine Anschauungen billige und teile, und nachdem er ein Weilchen schweigend nachgedacht hatte, fuhr er fort, seine Gedanken laut zu äußern.
»Weißt du, Marja«, sagte er, »heute ist Ilja Mitrofanowitsch« (dies war der Geschäftsführer) »von dem Gut im Tambowschen angekommen und berichtet, daß für den Wald schon achtzigtausend Rubel geboten sind.«
Und nun sprach Nikolai mit lebhafter Erregung von der Möglichkeit, in sehr kurzer Zeit Otradnoje wieder zurückzukaufen. »Wenn ich noch so zehn Jahre lebe, werde ich die Kinder in vorzüglichen Verhältnissen zurücklassen.«
Gräfin Marja hörte ihrem Mann zu und verstand alles, was er ihr sagte. Sie wußte, daß, wenn er in dieser Weise laut dachte, er sie manchmal fragte, was er gesagt habe, und ärgerlich wurde, wenn er merkte, daß sie an andere Dinge gedacht hatte. Aber sie mußte sich sehr zum Zuhören zwingen, da sie für das, was er sagte, gar kein Interesse hatte. Während sie ihn anblickte, hatte sie zwar nicht eigentlich andere Gedanken, aber andere Empfindungen. Sie empfand eine demütige, zärtliche Liebe zu diesem Mann, von dem sie wußte, daß er niemals Verständnis für alles das haben werde, wofür sie selbst Verständnis hatte; und es war, als liebe sie ihn deswegen noch stärker, mit einer Beigabe leidenschaftlicher Zärtlichkeit. Außer diesem Gefühl, das sie ganz erfüllte und sie hinderte, in alle Einzelheiten der Pläne ihres Mannes einzudringen, huschten ihr noch Gedanken durch den Kopf, die mit dem, was er sagte, nichts gemein hatten. Sie dachte an ihren Neffen (die Erzählung ihres Mannes von der Aufregung desselben bei Pierres Auseinandersetzungen hatte auf sie einen starken Eindruck gemacht), und es traten ihr mancherlei Züge seines zarten, empfindsamen Charakters vor die Seele; und bei dem Gedanken an ihren Neffen mußte sie dann auch an ihre eigenen Kinder denken. Sie verglich nicht den Neffen mit ihren Kindern, aber sie verglich ihr Gefühl für den einen mit ihrem Gefühl für die andern und fand zu ihrer Betrübnis, daß ihrem Gefühl für Nikolenka ein gewisser Mangel anhaftete.