Es kam ihr, wie auch sonst manchmal, der Gedanke, dieser Unterschied möge wohl vom Lebensalter herrühren; aber sie fühlte sich ihm gegenüber schuldig und gelobte sich im Herzen, sich zu bessern und das Unmögliche zu tun, d.h. in diesem Leben ihren Mann und ihre Kinder und Nikolenka und alle ihre Nächsten so zu lieben, wie Christus die Menschheit geliebt hat. Die Seele der Gräfin Marja strebte immer dem Unendlichen, Ewigen, Vollkommenen zu und konnte darum niemals völlig ruhig sein. Auch jetzt trat auf ihr Gesicht der tiefernste Ausdruck eines verborgenen schweren Leides der vom Körper beschwerten Seele. Nikolai blickte sie an. »Mein Gott«, dachte er, »was soll aus uns werden, wenn sie stirbt! Und wenn ihr Gesicht so aussieht, kommen mir die schlimmsten Ahnungen!« Er trat vor das Heiligenbild und sprach das Abendgebet.
XVI
Als Natascha mit ihrem Mann allein geblieben war, sprach sie gleichfalls mit ihm so, wie nur Mann und Frau miteinander sprechen, d.h. indem einer des andern Gedanken mit außerordentlicher Klarheit und Schnelligkeit erkennt und ihm ebenso die seinigen mitteilt, auf einem Weg, der allen Regeln der Logik zuwiderläuft, ohne das Mittel der Urteile, Schlüsse und Beweisführungen, vielmehr auf eine ganz besondere Weise. Natascha war dermaßen daran gewöhnt, mit ihrem Mann in dieser Art zu reden, daß ein logischer Gedankengang von seiten Pierres ihr als sicherstes Merkmal dafür diente, daß zwischen ihr und ihrem Mann irgend etwas nicht richtig war. Wenn er zu beweisen und vernunftgemäß und ruhig zu sprechen anfing, und wenn sie dann selbst, unwillkürlich seinem Beispiel folgend, dasselbe tat, so wußte sie, daß dies mit Sicherheit zu einem Streit führte.
Von dem Augenblick an, wo sie miteinander allein geblieben waren und Natascha mit weitgeöffneten, glückseligen Augen leise zu ihm herangetreten war, auf einmal schnell seinen Kopf gefaßt und an ihre Brust gedrückt und gesagt hatte: »Jetzt gehörst du ganz mir, ganz mir! Nun kannst du mir nicht davon!«, von diesem Augenblick an hatte dieses Gespräch begonnen, das allen Gesetzen der Logik zuwiderlief, ihnen schon deshalb zuwiderlief, weil gleichzeitig über ganz verschiedene Gegenstände gesprochen wurde. Und diese gleichzeitige Erörterung vieler Dinge tat der Klarheit des Verständnisses in keiner Weise Eintrag, ja, sie war sogar das sicherste Zeichen dafür, daß die beiden Gatten einander vollständig verstanden.
Wie im Traum alles unrichtig, sinnlos und widerspruchsvoll ist, mit Ausnahme des Gefühls, das dem Traum zugrunde liegt, so waren auch bei diesem Gedankenaustausch, der allen Gesetzen der Vernunft widersprach, folgerichtig und klar nicht die gesprochenen Sätze, sondern das zugrunde liegende Gefühl.
Natascha erzählte ihrem Mann von der Lebensweise ihres Bruders, und was für ein trauriges Leben sie während der Abwesenheit ihres Mannes geführt habe, eigentlich gar kein Leben, und daß ihre Liebe zu Marja noch stärker geworden sei, und daß Marja in jeder Hinsicht besser sei als sie. Indem Natascha das sagte, erkannte sie aufrichtig Marjas höheren Wert an; aber gleichzeitig verlangte sie doch von Pierre, er solle sie dieser und allen anderen Frauen vorziehen und solle ihr gerade jetzt, nachdem er in Petersburg so viele Frauen gesehen habe, dies von neuem versichern.
In Erwiderung auf Nataschas Mitteilungen erzählte ihr Pierre, wie unerträglich es ihm in Petersburg gewesen sei, Abendgesellschaften mitzumachen und mit Damen bei Tisch zu sitzen. »Ich habe es ganz verlernt, mich mit Damen zu unterhalten«, sagte er. »Es ist mir geradezu langweilig. Und noch dazu, da ich so sehr beschäftigt war.«
Natascha blickte ihn unverwandt an und fuhr fort:
»Marja ist ein entzückendes Wesen! Wie sie die Kinder versteht! Gerade als ob sie nur ihre Seelen sähe. Gestern z.B. war der kleine Dmitri unartig …«
»Was hat der für eine überraschende Ähnlichkeit mit seinem Vater!« bemerkte Pierre, seine Frau unterbrechend.
Natascha durchschaute sofort, warum er diese Bemerkung über die Ähnlichkeit des kleinen Dmitri mit Nikolai gemacht hatte: die Erinnerung an seinen Streit mit seinem Schwager war ihm unangenehm, und er wollte gern Nataschas Meinung darüber hören.
»Es ist eine Schwäche Nikolais«, sagte sie, »daß er um keinen Preis einer Ansicht zustimmt, wenn sie nicht allgemein angenommen ist. Du dagegen, das weiß ich, legst gerade Wert darauf, neue Bahnen zu erschließen.« Diese letzten Worte waren die Wiederholung eines Ausdrucks, den Pierre einmal gebraucht hatte.
»Nein«, erwiderte Pierre, »die Hauptsache ist dies: für Nikolai sind Gedanken und Überlegungen eine Spielerei, eigentlich nur ein Mittel, um die Zeit hinzubringen. Da sammelt er sich nun eine Bibliothek und hat es sich zum Grundsatz gemacht, kein neues Buch zu kaufen, ehe er nicht das zuletzt gekaufte durchgelesen hat. Schriften von Sismondi, Rousseau und Montesquieu«, fügte Pierre lächelnd hinzu. »Du weißt ja, wie ich ihn …«, begann er, um das Gesagte herabzumildern; aber Natascha unterbrach ihn und gab ihm dadurch zu verstehen, daß das nicht nötig sei.
»Du meinst also, daß die Gedanken für ihn nur eine Spielerei sind …«
»Ja, und für mich ist alles übrige Spielerei. Ich habe während der ganzen Zeit in Petersburg alle Menschen nur wie im Traum gesehen. Wenn mich ein Gedanke beschäftigt, so ist mir alles übrige Spielerei.«
»Ach, wie schade, daß ich nicht mit angesehen habe, wie du die Kinder begrüßt hast«, sagte Natascha. »Welche hat sich denn am meisten gefreut? Gewiß Lisa?«
»Ja«, antwortete Pierre und fuhr fort, von dem zu sprechen, was ihn beschäftigte. »Nikolai sagt, wir sollten nicht denken. Aber darauf zu verzichten ist mir unmöglich. Ich will gar nicht davon reden, daß ich in Petersburg die Empfindung hatte (dir kann ich das ja sagen), ohne meine Bemühung würde alles auseinanderfallen und jeder eine Partei für sich bilden. Aber mir ist es gelungen, sie alle zu vereinigen; und dann ist ja auch meine Idee so einfach und so klar. Ich sage ja nicht, daß wir gegen dies und das Widerstand leisten sollen. Wir könnten ja irren. Sondern ich sage: Reicht euch die Hände, ihr, die ihr das Gute liebt, und laßt uns nur dieses eine Panier haben: werktätige Tugend. Fürst Sergei ist ein prächtiger Mensch und ein kluger Mensch.«
Natascha hätte nicht daran gezweifelt, daß Pierres Idee eine große Idee sei; nur ein Umstand machte sie betroffen, nämlich daß er ihr Mann war. »Kann ein so bedeutender und für die menschliche Gesellschaft so unentbehrlicher Mensch wirklich zugleich mein Mann sein? Wie kann das zugegangen sein?« Gern hätte sie ihm diesen Zweifel ausgesprochen. »Wo sind eigentlich die Leute zu finden, die imstande wären, ein Urteil darüber abzugeben, ob er wirklich soviel klüger ist als alle andern?« fragte sie sich und musterte in Gedanken alle diejenigen Menschen, welche Pierre besonders hochschätzte. Keinen von diesen Menschen schätzte er, nach seinen Erzählungen zu urteilen, so hoch wie seinen einstigen Leidensgenossen Platon Karatajew.
»Weißt du, woran ich denke?« sagte sie. »An Platon Karatajew. Wie würde der sich dazu stellen? Würde er dir jetzt zustimmen?«
Pierre wunderte sich über ihre Frage nicht im mindesten. Er verstand den Gedankengang seiner Frau.
»Platon Karatajew?« erwiderte er und dachte nach, offenbar ernstlich bemüht, sich von Karatajews Urteil über diesen Gegenstand eine Vorstellung zu bilden. »Er würde es nicht verstehen; übrigens vielleicht doch.«
»Ich liebe dich schrecklich!« sagte Natascha auf einmal. »Schrecklich, schrecklich liebe ich dich!«
»Nein, er würde mir nicht zustimmen«, sagte Pierre, nachdem er eine Weile überlegt hatte. »Was seinen Beifall haben würde, das wäre unser Familienleben. Er wollte in allem so gern Einklang und Glück und Ruhe sehen, und ich hätte ihm mit Stolz unsere Familie gezeigt. Du sprachst vom Getrenntsein; aber du glaubst gar nicht, was für eine besondere Empfindung ich für dich habe, wenn wir getrennt sind …«
»Vielleicht, daß du mich noch …«, begann Natascha.