Er zuckte die Achseln und breitete die Arme auseinander. Pierre setzte gerade an, um etwas zu sagen, da ihn das Gespräch interessierte; aber Anna Pawlowna, die ihn überwachte, ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Kaiser Alexander«, sagte sie in dem wehmütigen Ton, dessen sie sich stets bediente, wenn sie von der kaiserlichen Familie sprach, »hat erklärt, daß er es den Franzosen selbst anheimstelle, sich die Form ihrer Regierung zu wählen. Und ich meine, es kann gar nicht zweifelhaft sein, daß die ganze Nation sich von dem Usurpator befreien und sich ihrem legitimen König in die Arme werfen wird.« Anna Pawlowna beabsichtigte, mit diesen Worten dem Emigranten und Royalisten eine Liebenswürdigkeit zu erweisen.
»Das dürfte denn doch zweifelhaft sein«, bemerkte Fürst Andrei. »Der Herr Vicomte hat durchaus recht mit seiner Anschauung, daß die Sache sich schon zu weit entwickelt hat. Ich glaube, es wird schwer sein, zu den alten Zuständen zurückzukehren.«
»Soviel ich gehört habe«, mischte sich Pierre, seinen Versuch erneuernd, mit lebhaftem Erröten in das Gespräch, »ist fast der ganze Adel bereits auf Bonapartes Seite getreten.«
»Das sagen die Bonapartisten«, entgegnete der Vicomte, ohne Pierre anzusehen. »Es ist jetzt schwer, über die Ansichten der besseren Kreise Frankreichs ins klare zu kommen.«
»Bonaparte selbst hat das gesagt«, warf Fürst Andrei lächelnd ein. (Es war deutlich, daß ihm der Vicomte nicht gefiel, und daß seine Bemerkung, obwohl er den Vicomte dabei nicht anblickte, gegen diesen gerichtet war.)
»›Ich habe ihnen den Weg des Ruhmes gezeigt‹«, fuhr er nach kurzem Stillschweigen, wieder Worte Napoleons zitierend, fort, »›aber sie haben ihn nicht gehen wollen; ich habe ihnen meine Vorzimmer geöffnet, und sie sind in Scharen herbeigeeilt …‹ Ich weiß nicht, bis zu welchem Grade er ein Recht hatte, so zu sprechen.«
»Gar kein Recht hatte er dazu«, entgegnete der Vicomte. »Nach der Ermordung des Herzogs haben selbst seine getreuesten Anhänger aufgehört, einen Helden in ihm zu sehen. Und wenn er wirklich für manche Leute ein Held war«, fuhr der Vicomte, zu Anna Pawlowna gewendet, fort, »so kann man doch sagen: nach der Ermordung des Herzogs gibt es im Himmel einen Märtyrer mehr und auf Erden einen Helden weniger.«
Anna Pawlowna und manche ihrer Gäste hatten noch nicht Zeit gefunden, ihre Bewunderung für diese Worte des Vicomtes durch ein Lächeln zu bezeigen, da stürzte sich schon Pierre von neuem in das Gespräch, und obgleich Anna Pawlowna ahnte, daß er etwas Unpassendes vorbringen werde, war sie doch nicht mehr imstande, ihn zurückzuhalten.
»Die Hinrichtung des Herzogs von Enghien«, sagte Pierre, »war eine politische Notwendigkeit, und ich betrachte es geradezu als ein Zeichen von Seelengröße, daß Napoleon sich nicht gescheut hat, die Verantwortung für diese Tat ganz allein auf sich zu nehmen.«
»Mein Gott!« flüsterte Anna Pawlowna ganz entsetzt.
»Sie billigen einen Mord …? Wie, Monsieur Pierre, Sie sehen in einem Mord ein Zeichen von Seelengröße?« sagte die kleine Fürstin, indem sie ihre Handarbeit lächelnd näher an ihre Brust hielt.
»Ah! Ah!« riefen verschiedene Stimmen.
»Vorzüglich!« sagte Fürst Ippolit auf englisch und schlug sich ein paarmal mit der flachen Hand aufs Knie. Der Vicomte zuckte nur mit den Achseln.
Pierre blickte triumphierend über seine Brille weg die Zuhörer an.
»Ich spreche so«, fuhr er kühnen Mutes fort, »weil die Bourbonen vor der Revolution davongelaufen sind und das Volk der Anarchie preisgegeben haben; Napoleon war der einzige, der es verstand, die Revolution richtig zu beurteilen und sie zu besiegen, und deshalb durfte er, wo es sich um das allgemeine Wohl handelte, nicht vor dem Leben eines einzelnen haltmachen.«
»Mögen Sie nicht an den Tisch dort drüben mit herüberkommen?« sagte Anna Pawlowna. Aber Pierre fuhr, ohne ihr zu antworten, in seiner Meinungsäußerung fort.
»Nein«, sagte er, immer lebhafter werdend, »Napoleon ist ein großer Geist, weil er sich über die Revolution gestellt und ihre Auswüchse vertilgt hat, während er alles Gute, das sie gebracht hatte, beibehielt: die Gleichheit aller Bürger und die Freiheit des Wortes und der Presse; nur durch dieses Verfahren hat er die Macht erlangt.«
»Ja, wenn er die Macht, nachdem er sie erlangt hatte, nicht zum Mord mißbraucht, sondern in die Hände des legitimen Königs gelegt hätte«, entgegnete der Vicomte, »dann würde ich ihn einen großen Mann nennen.«
»Das hätte er gar nicht tun können. Das Volk hatte ihm die Macht nur zu dem Zweck gegeben, damit er es von den Bourbonen befreien möchte, und weil es in ihm einen großen Mann sah. Die Revolution ist eine große Tat gewesen«, fuhr Monsieur Pierre fort und bekundete durch die unnötige Hinzufügung dieser verwegenen, herausfordernden These seine große Jugendlichkeit und seinen Eifer, alles möglichst schnell herauszureden.
»Revolution und Königsmord eine große Tat …! Wenn jemand so redet … Aber wollen Sie nicht an den Tisch dort drüben mit herüberkommen?« wiederholte Anna Pawlowna ihre Aufforderung.
»Rousseaus Gesellschaftsvertrag«, sagte der Vicomte mit sanftem Lächeln.
»Ich spreche nicht vom Königsmord; ich spreche von den Ideen.«
»Jawohl, von den Ideen des Raubes, des Mordes und des Königsmordes«, unterbrach ihn wieder eine ironische Stimme.
»Das waren tadelnswerte Ausschreitungen, versteht sich. Aber nicht darin liegt die eigentliche Bedeutung der Revolution; sondern ihre Bedeutung liegt in der Anerkennung der Menschenrechte, in der Ablegung von Vorurteilen, in der Gleichstellung aller Bürger. Und alle diese Ideen hat Napoleon in ihrer ganzen Kraft beibehalten.«
»Freiheit und Gleichheit«, entgegnete der Vicomte geringschätzig, als ob er sich endlich entschlossen hätte, diesem jungen Menschen ernsthaft die ganze Torheit seines Geredes zu beweisen, »das sind hochtönende Worte, die schon längst in Verruf gekommen sind. Wer sollte nicht Freiheit und Gleichheit lieben? Schon unser Heiland hat Freiheit und Gleichheit gepredigt. Sind denn etwa die Menschen nach der Revolution glücklicher geworden? Im Gegenteil. Wir wünschten die Freiheit; aber Bonaparte hat sie vernichtet.«
Fürst Andrei sah lächelnd bald Pierre, bald den Vicomte, bald die Wirtin an. Bei Pierres exzentrischen Reden hatte Anna Pawlowna im ersten Augenblick trotz ihrer gesellschaftlichen Routine einen gewaltigen Schreck bekommen; aber als sie sah, daß bei den von Pierre ausgestoßenen gotteslästerlichen Reden der Vicomte nicht außer sich geriet, und als sie ferner sah, daß ein Vertuschen dieser Reden nicht mehr möglich war, da nahm sie ihren Mut zusammen, ergriff die Partei des Vicomtes und machte einen Angriff auf den dreisten Redner.
»Aber mein lieber Monsieur Pierre«, sagte Anna Pawlowna, »wie können Sie nur jemand für einen großen Mann erklären, der den Herzog – oder sagen wir überhaupt schlechtweg einen Menschen – ohne ordentliches Gericht schuldlos hat hinrichten lassen?«
»Ich möchte fragen«, sagte der Vicomte, »wie man den achtzehnten Brumaire auffassen soll. War das etwa kein Betrug? Das war eine Gaunerei, die mit der Handlungsweise eines großen Mannes ganz und gar keine Ähnlichkeit hat.«
»Und die Gefangenen in Afrika, die er ermorden ließ?« fügte die kleine Fürstin hinzu. »Das ist doch entsetzlich!« Sie zuckte mit den Schultern.
»Er ist ein Emporkömmling; da kann man nun sagen, was man will«, bemerkte Fürst Ippolit.
Monsieur Pierre wußte nicht, wem er antworten sollte, sah ringsumher alle an und lächelte. Sein Lächeln war von anderer Art als bei anderen Menschen; es war nicht eine Verschmelzung von Ernst und Heiterkeit, sondern, sobald sich bei ihm ein Lächeln einstellte, verschwand sofort, im gleichen Augenblick, das ernste und sogar etwas mürrische Gesicht vollständig, und es erschien ein anderes, kindliches, gutmütiges, sogar etwas einfältiges Gesicht, das gewissermaßen um Verzeihung bat.