Выбрать главу

Pierre hatte sich die Hand vor die Augen gehalten, und ein leises, verlorenes Lächeln blieb auf seinem Gesicht zurück, wenn es auch jetzt Angst und Schrecken ausdrückte. Alle schwiegen. Pierre nahm die Hand von den Augen; Dolochow saß noch immer in derselben Haltung da; nur den Kopf hatte er zurückgelehnt, so daß die krausen Haare seines Hinterkopfs den Hemdkragen berührten. Die Hand mit der Flasche hob sich zitternd und mit Anstrengung immer höher und höher. Augenscheinlich leerte sich die Flasche langsam und hob sich dadurch höher, so daß sie Dolochows Kopf immer weiter zurückbog. Warum dauert das so lange? dachte Pierre. Es kam ihm vor, als ob schon eine halbe Stunde vergangen wäre. Plötzlich machte Dolochow eine Bewegung nach rückwärts und seine Hand zitterte nervös. Dieses Zittern genügte, um den ganzen Körper, der auf dem abschüssigen Vorsprung saß, aus seiner Lage zu bringen.

Er schwankte etwas, und seine Hand und sein Kopf zitterten vor Anstrengung. Der eine Arm hob sich bereits, um sich am Fensterkopf festzuhalten, senkte sich dann aber wieder herab. Pierre schloß wieder die Augen und nahm sich vor, sie nicht mehr aufzumachen. Plötzlich fühlte er, daß alles um ihn herum in Bewegung kam. Er sah auf: Dolochow stand auf dem Fensterkopf; sein Gesicht war blaß und fröhlich.

»Leer!«

Er warf die Flasche dem Engländer zu, der sie geschickt auffing, und sprang vom Fenster herab. Er roch stark nach Rum.

»Ausgezeichnet, ein Mordskerl; das ist eine Wette gewesen! Potztausend noch mal!« schrie es von allen Seiten.

Der Engländer zog seine Börse hervor und zählte das Geld ab. Dolochow kniff die Augen zusammen und schwieg. Da sprang Pierre auf das Fenster zu.

»Meine Herren! Wer will mit mir wetten? Ich mache es nach!« rief er plötzlich. »Wir brauchen auch gar nicht zu wetten, ich mache es so. Laß eine Flasche holen, ich mache es, laß eine holen!«

»Na, mach es nur!« sagte Dolochow lächelnd.

»Was ist los? Bist du verrückt geworden? Wer wird denn das zulassen? Du wirst ja schon auf der Leiter schwindelig«, sprach man von allen Seiten auf ihn ein.

»Ich trinke sie aus, gib eine Flasche Rum her!« schrie Pierre, indem er mit der entschlossenen Geste eines Betrunkenen auf den Tisch schlug, und kletterte auf das Fenster.

Man packte ihn am Arm, aber er war so stark, daß er jeden, der sich ihm näherte, zurückstieß.

»Nein, so kann man ihn nicht davon abbringen«, sagte Anatol. »Paßt auf, ich werde ihm was vorreden. Hör zu, ich werde mit dir wetten, aber morgen, denn jetzt wollen wir alle zu … fahren!«

»Ach ja«, schrie Pierre, »ach ja, und den Mischka nehmen wir auch mit!«

Er packte den Bären, umarmte ihn, hob ihn hoch und tanzte mit ihm im Zimmer herum.

10

Fürst Wassilij hatte sein Versprechen erfüllt, das er auf der Abendgesellschaft bei Anna Pawlowna der Fürstin Drubezkaja gegeben hatte, als sie ihn für ihren einzigen Sohn Boris gebeten hatte. Er trug die Angelegenheit dem Kaiser vor, und Boris wurde, was sonst selten zu geschehen pflegte, als Fähnrich in das Semjonowsche Garderegiment versetzt. Aber zum Adjutanten Kutusows oder zu seinem Stabe wurde er nicht kommandiert, trotz aller Bemühungen und Intrigen Anna Michailownas. Bald nach der Abendgesellschaft bei Anna Pawlowna war sie nach Moskau zurückgekehrt, und zwar sofort wieder zu ihren reichen Verwandten, den Rostows, bei denen sie in Moskau wohnte. Bei ihnen war auch Boris von seiner ersten Kindheit an erzogen worden und hatte dort lange Jahre gelebt, ihr vergötterter Boris, der soeben in einem Linienregiment zum Fähnrich ernannt worden war und nun sofort in die Garde versetzt werden sollte. Die Garde hatte Petersburg schon am 10. August verlassen, und ihr Sohn, der wegen der Equipierung noch in Moskau geblieben war, mußte sie dann auf dem Wege nach Radziwillow einholen,

Bei den Rostows feierten die Mutter und die jüngste Tochter, die beide Natalja hießen, ihren Namenstag. Schon vom frühen Morgen an fuhr ein Wagen nach dem andern mit Gratulanten vor dem großen, ganz Moskau bekannten Hause der Gräfin Rostowa auf der Powarskaja-Straße vor. Die Gräfin saß mit ihrer schönen ältesten Tochter und den Gästen, die einander fortwährend ablösten, im Salon. Sie hatte ein mageres Gesicht von orientalischem Typ, war etwa fünfundvierzig Jahre alt und augenscheinlich durch die Geburten ihrer Kinder, deren sie zwölf hatte, stark mitgenommen. Die Langsamkeit ihrer Bewegungen und Worte, die wohl von ihrer Kraftlosigkeit herrührte, gab ihr ein gewichtiges Aussehen, das allen Achtung einflößte. Die Fürstin Anna Michailowna Drubezkaja saß, da sie ja zum Hause gehörte, ebenfalls hier und war ihr behilflich, die Gäste zu empfangen und sich mit ihnen zu beschäftigen. Die Jugend, die es nicht für nötig gehalten hatte, an dem Besuchsempfang teilzunehmen, befand sich in den hinteren Gemächern. Der Graf begrüßte die Gäste, geleitete sie wieder hinaus und lud sie alle zum Essen ein.

»Ich danke Ihnen sehr, ma chère oder mon cher« – ma chère oder mon cher sagte er ohne Ausnahme und ohne die geringsten Schattierungen zu allen, sowohl zu Leuten von höherem als auch von niedrigerem Rang –, »für die Ehre, die Sie mir und den lieben Namenstagskindern erweisen. Bitte kommen Sie doch zum Diner. Sie beleidigen mich sonst, mon cher. Ich bitte Sie herzlich im Namen der ganzen Familie, ma chère.« Diese Worte sagte er ohne Unterschied zu allen, wer es auch sein mochte, mit einem stets gleichen Ausdruck auf dem vollen, heiteren, glattrasierten Gesicht, mit dem gleichen Händedruck und mit den gleichen, immer wiederholten kurzen Verbeugungen. Hatte der Graf einen Gast hinausbegleitet, so kehrte er zu den anderen zurück, die noch im Salon waren, schob sich einen Sessel heran und setzte sich hin. Mit der Miene eines Menschen, der sich seines Lebens freut und auch zu leben versteht, spreizte er schneidig die Beine und wiegte sich gewichtig hin und her. Er stellte Betrachtungen über das Wetter an, gab und empfing gute Ratschläge über die Gesundheit, bald auf russisch, bald in einem sehr schlechten, aber selbstgefällig gesprochenen Französisch. Dann erhob er sich wieder mit der Miene eines abgespannten Menschen, der aber doch in der Erfüllung seiner Pflichten festbleibt, um einen Gast hinauszubegleiten, und lud auch ihn zum Diner ein, indem er sich die wenigen grauen Haare seiner Glatze glattstrich. Hin und wieder ging er, wenn er aus dem Vorzimmer zurückkehrte, durch das Blumenzimmer und den Bedientenraum in den großen Marmorsaal, wo ein Tisch für achtzig Personen gedeckt wurde. Er sah den Dienern zu, die das Silber und Porzellan brachten, die Tische auseinanderstellten und die Kamtschatkatischtücher[26] ausbreiteten, rief dann Dimitrij Wassiljewitsch zu sich, einen adligen jungen Mann, der des Grafen Geschäfte erledigte, und sagte zu ihm: »Nun, mein lieber Dimitrij, sehen Sie zu, daß alles gut wird. Ja, so ist es recht«, und er betrachtete mit Vergnügen die große, ausgezogene Tafel. »Ein kunstvoll gedeckter Tisch ist immer die Hauptsache. Ja, ja.« Dann kehrte er mit einem selbstzufriedenen Seufzer in den Salon zurück.

»Marja Lwowna Karagina mit ihrer Tochter«, meldete, durch die Salontür tretend, in tiefstem Baß ein riesiger Lakai, der sonst den Grafen auf seinen Ausfahrten zu begleiten pflegte. Die Gräfin dachte einen Augenblick nach und schnupfte aus einer goldenen Tabaksdose, die mit dem Bild ihres Mannes geschmückt war.

»Diese Visiten machen mich ganz krank«, sagte sie. »Na, das ist aber nun die letzte, die ich annehme. Sie ist sehr empfindlich. Ich lasse bitten«, sagte sie in melancholischem Ton, wie wenn sie sagen wollte: »Bitte, schlagt mich nur vollends tot!«

Eine hohe, stattliche, sehr stolz aussehende Dame und ihr rundbäckiges lächelndes Töchterchen traten mit rauschenden Kleidern in den Salon ein.

вернуться

26

Kamtschatkatischtücher: Tischtücher aus gemustertem Damast.