Die Erwachsenen sprachen nun über Bonaparte. Julie, die Tochter der Frau Karagina, wandte sich jetzt an den jungen Rostow.
»Wie schade, daß Sie am Donnerstag nicht bei den Archarows waren. Ich habe mich gelangweilt ohne Sie«, sagte sie, ihm zärtlich zulächelnd.
Der geschmeichelte junge Mann setzte sich mit dem koketten Lächeln der Jugend näher zu der strahlenden Julie und begann mit ihr allein ein Gespräch, ohne dabei im geringsten zu bemerken, daß sein unwillkürliches Lächeln das Herz der eifersüchtig errötenden und doch erkünstelt lächelnden Sonja wie mit einem Messer zerschnitt. Mitten im Gespräch sah er sich nach ihr um. Sonja blickte ihn leidenschaftlich und zornig an und konnte kaum die Tränen zurückhalten und ihr gekünsteltes Lächeln bewahren. Sie stand auf und ging aus dem Zimmer. Jetzt verschwand Nikolajs ganze Lebhaftigkeit mit einem Schlag. Er wartete die erste Pause in der Unterhaltung ab und entfernte sich dann mit verstörtem Gesicht ebenfalls, um Sonja zu suchen.
»Wie leicht kann man doch die Geheimnisse dieser Jugend durchschauen«, sagte Anna Michailowna und wies auf den hinausgehenden Nikolaj. »Cousinage – dangereux voisinage«, fügte sie hinzu.
»Ja«, sagte die Gräfin, nachdem der Sonnenstrahl verschwunden war, den dieses junge Volk in den Salon getragen hatte, und es schien, als beantworte sie eine Frage, die ihr zwar niemand gestellt, die sie aber immer beschäftigt hatte, »ja, wie viele Leiden und Unruhe muß man durchmachen, um jetzt an ihnen Freude zu haben. Und auch jetzt hat man mehr Angst als Freude durchzukosten. Immer ist man in Furcht und Sorgen. Es ist ja gerade dieses Alter, das so gefährlich für Mädchen und Knaben ist.«
»Alles hängt von der Erziehung ab«, warf die Besucherin ein.
»Ja, Sie haben recht«, fuhr die Gräfin fort. »Bis jetzt bin ich, Gott sei Dank, immer noch die Freundin meiner Kinder gewesen und genieße ihr volles Vertrauen« – sie befand sich in demselben Irrtum wie viele Eltern, die da meinen, ihre Kinder hätten keine Geheimnisse vor ihnen. »Ich weiß, daß ich immer die erste Vertraute meiner Töchter sein werde und daß Nikolenka, wenn er auch mal mit seinem temperamentvollen Charakter wirklich Streiche machen sollte – ein Junge kann ja nun einmal nicht anders –, immerhin doch nicht so sein wird wie diese Petersburger Herren.«
»Ja, es sind prächtige, prächtige Kinder«, bestätigte der Graf, der verwickelte Fragen immer dadurch löste, daß er alles prächtig fand. »Was ist da zu machen, er will nun einmal Husar werden. Was kann man dagegen tun, ma chère?«
»Was für ein reizendes Wesen ist doch Ihre jüngste Tochter«, sagte die Besucherin, »ein Blitzmädel!«
»Ja, ein Blitzmädel«, griff der Graf auf. »Sie ist nach mir geartet. Und was für eine prächtige Stimme sie hat! Wenn sie auch meine Tochter ist, ich kann es wirklich sagen, sie wird eine Sängerin werden, eine zweite Salomoni[28]. Wir haben uns einen Italiener genommen, um ihr Unterricht geben zu lassen.«
»Ist das nicht zu früh? Man sagt, es schade nur der Stimme, wenn man schon in diesem Alter Gesangunterricht nimmt.«
»Ach nein, warum denn zu früh!« sagte der Graf. »Unsere Mütter haben sich doch sogar schon mit zwölf, dreizehn Jahren verheiratet.«
»Sie ist ja schon jetzt in Boris verliebt! Was sagen Sie dazu?« fragte die Gräfin still lächelnd und sah dabei Boris’ Mutter an. Dann fuhr sie fort, wobei sie augenscheinlich einen Gedanken aussprach, der sie dauernd beschäftigte: »Nun, sehen Sie, hielte ich sie streng und verböte es ihnen …, weiß Gott, was sie dann heimlich machen würden« – die Gräfin meinte damit, sie würden sich küssen –, »so aber weiß ich jedes Wort von ihr. Sie selbst kommt abends zu mir und erzählt mir alles. Vielleicht verwöhne ich sie. Aber das scheint mir immerhin noch das beste zu sein. Meine Älteste habe ich strenger gehalten.«
»Ja, mich hat man ganz anders erzogen«, bestätigte lächelnd die älteste Tochter, die schöne Gräfin Wera.
Aber dieses Lächeln verschönte Weras Gesicht nicht so, wie es doch bei andern gewöhnlich der Fall ist. Im Gegenteil, ihr Ausdruck wurde dadurch unnatürlich und wirkte somit unangenehm. Diese älteste Tochter Wera war ein hübsches, kluges Mädchen; sie lernte vortrefflich, war gut erzogen und hatte eine angenehme Stimme. Was sie eben gesagt hatte, war ganz richtig und zutreffend gewesen, aber seltsam, alle Anwesenden, insbesondere die Besucherin und die Gräfin, sahen sie an, als wunderten sie sich darüber, daß sie das gesagt hatte, und alle fühlten sich unbehaglich.
»Bei den ältesten Kindern will man immer besonders weise vorgehen, man will aus ihnen etwas noch nie Dagewesenes machen«, bemerkte die Besucherin.
»Warum soll man das verheimlichen, ma chère? Meine teure Gattin ist bei Wera auch äußerst weise vorgegangen«, scherzte der Graf. »Aber was wollen Sie denn: sie ist trotzdem ein prächtiges Mädchen geworden«, fügte er hinzu und zwinkerte Wera beifällig zu.
Endlich erhoben sich die Gäste und gingen hinaus, nachdem sie versprochen hatten, zum Diner wiederzukommen.
»Was ist das für eine Art, so lange sitzenzubleiben!« sagte die Gräfin, nachdem sie ihren Besuch hinausbegleitet hatte.
13
Als Natascha den Salon so schnell verlassen hatte, war sie nur bis zum Blumenzimmer gelaufen. Hier blieb sie stehen, horchte dem Gespräch im Salon zu und wartete, daß Boris herauskäme. Sie wurde schon ungeduldig, stampfte mit ihrem kleinen Fuß auf und wollte bereits losweinen, weil er nicht gleich gekommen war. Da hörte sie die gemessenen, weder zu langsamen noch zu schnellen Schritte Boris’. Schnell sprang sie hinter einen Blumenkübel und versteckte sich.
Boris blieb mitten im Zimmer stehen, sah sich um, klopfte ein paar Stäubchen von seinem Uniformärmel, trat dann vor den Spiegel und betrachtete sein hübsches Gesicht. Natascha verhielt sich ganz still, lugte aus ihrem Versteck und wartete, was er wohl tun werde. Boris blieb eine Weile vor dem Spiegel stehen, lächelte und ging dann zu der Ausgangstür. Natascha wollte ihn schon rufen, überlegte es sich dann aber anders. Er soll mich nur suchen! dachte sie.
Kaum war Boris hinausgegangen, so trat durch die andere Tür Sonja herein. Sie war rot, hatte Tränen in den Augen und flüsterte zornig etwas vor sich hin. Natascha, die schon eine Bewegung gemacht hatte, auf sie zuzulaufen, blieb dann doch in ihrem Versteck und sah wie unter einer Tarnkappe zu, was auf der Welt vorging. Sie empfand dabei einen besonderen, neuen Reiz. Sonja flüsterte etwas vor sich hin und sah sich nach der Salontür um. Nikolaj trat herein.
»Sonja, was ist mit dir? Wie kann man nur so sein?« sagte er und lief auf sie zu.
»Nichts, nichts, lassen Sie mich«, schluchzte Sonja.
»Nein, ich weiß, was es ist.«
»Na, dann ist es schön, wenn Sie es wissen. Gehen Sie nur zu ihr.«
»So-o-onja! Nur ein Wort. Wie kannst du nur mich und dich wegen eines solchen Einfalls quälen?« sagte Nikolaj und ergriff ihre Hand.
Sonja riß ihre Hand nicht fort, weinte aber weiter. Natascha, die sich nicht rührte und nicht zu atmen wagte, spähte mit glänzenden Augen aus ihrem Versteck hervor. Was wird jetzt werden? dachte sie.
»Sonja, die ganze Welt ist mir gleichgültig. Du allein bist für mich alles«, sagte Nikolaj, »ich werde es dir beweisen.«
»Ich habe es nicht gern, wenn du so mit einer anderen sprichst,«
»Na, ich werde es nicht wieder tun, entschuldige, Sonja.« Er zog sie an sich und küßte sie.
Ach, wie schön! dachte Natascha, und als Sonja und Nikolaj das Zimmer verlassen hatten, ging sie hinter ihnen her und rief Boris zu sich.
»Boris, kommen Sie her«, sagte sie mit wichtiger und listiger Miene. »Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen. Hierher, hierher«, sagte sie und führte ihn in das Blumenzimmer an den Platz zwischen den Blumenkübeln, wo sie sich vorhin versteckt hatte.
Boris ging lächelnd hinter ihr her.
»Nun, was ist denn das für eine wichtige Sache?« fragte er.
Sie wurde verlegen, sah sich rings um, und als sie ihre hinter den Kübel geworfene Puppe erblickte, nahm sie sie in den Arm.