»Küssen Sie meine Puppe«, sagte sie.
Boris sah mit einem fragenden, freundlichen Blick in ihr erregtes Gesicht und antwortete nichts.
»Wollen Sie nicht? Nun, dann kommen Sie hierher«, rief sie, trat tiefer zwischen die Blumen und warf ihre Puppe beiseite. »Näher, näher«, flüsterte sie.
Sie ergriff den Offizier mit beiden Händen an seinem Ärmelaufschlag, und in ihrem geröteten Gesichte war eine gewisse Feierlichkeit, aber auch etwas Furcht zu sehen.
»Aber mich wollen Sie doch küssen?« flüsterte sie kaum hörbar, indem sie ihn lächelnd von unten herauf ansah und vor Erregung beinahe weinte.
Boris wurde rot.
»Wie komisch Sie sind!« sagte er, indem er sich noch mehr errötend zu ihr hinabbeugte, unternahm aber nichts, sondern wartete ab.
Da sprang sie plötzlich auf den Kübel, so daß sie größer war als er, umfing ihn mit beiden Armen, wobei ihre dünnen nackten Ärmchen ihn oberhalb des Halses umschlangen, warf mit einem Ruck ihres Kopfes die Haare nach hinten und küßte ihn mitten auf die Lippen.
Dann glitt sie zwischen den Kübeln hindurch auf die andere Seite hinüber, senkte den Kopf und blieb stehen.
»Natascha«, sagte er, »Sie wissen, daß ich Sie liebe aber …«
»Sind Sie verliebt in mich?« unterbrach ihn Natascha.
»Ja, ich liebe Sie, aber bitte, wir wollen das nicht machen, was wir eben … Noch vier Jahre … dann werde ich um Sie anhalten.«
Natascha dachte nach.
»Dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn«, sagte sie, an ihren dünnen Fingerchen abzählend. »Gut! Also abgemacht?«
Und ein Lächeln der Freude und Beruhigung erleuchtete ihr erregtes Gesicht.
»Abgemacht!« sagte Boris.
»Auf immer?« fragte das Mädchen, »bis zum Tode?«
Sie nahm seinen Arm und ging mit glücklichem Gesicht zusammen mit ihm in das Diwanzimmer.
14
Die Gräfin war von diesen Besuchen so ermüdet, daß sie befahl, niemanden mehr vorzulassen. Dem Portier wurde aufgetragen, alle weiteren Gratulanten einfach zum Diner einzuladen.
Die Gräfin Rostowa hatte die Absicht, sich mit ihrer Jugendfreundin Anna Michailowna, die sie seit deren Rückkehr aus Petersburg noch kaum gesehen hatte, einmal unter vier Augen ordentlich auszusprechen. Anna Michailowna, mit ihrem abgehärmten, aber angenehmen Gesicht, rückte ihren Sessel näher zu der Gräfin heran.
»Dir gegenüber will ich vollständig offen sein«, fing Anna Michailowna an. »Von uns alten Freundinnen sind nur noch wenige übrig. Daher schätze ich auch deine Freundschaft so sehr.«
Anna Michailowna sah Wera an und hielt inne. Die Gräfin drückte ihrer Freundin die Hand.
»Wera«, sagte sie und wandte sich an ihre älteste Tochter, die sie augenscheinlich nicht gern hatte. »Hast du denn gar kein Verständnis dafür? Fühlst du nicht, daß du hier überflüssig bist? Geh zu deinen Schwestern, oder …«
Die schöne Wera lächelte geringschätzig. Anscheinend fühlte sie sich nicht gekränkt.
»Wenn Sie es mir schon eher gesagt hätten, Mama, so wäre ich sogleich fortgegangen«, antwortete sie und ging auf ihr Zimmer. Als sie aber das Diwanzimmer durchschritt, sah sie dort in beiden Fenstern symmetrisch zwei Paare sitzen. Sie blieb stehen und lächelte verächtlich. Sonja saß dicht neben Nikolaj, der für sie Verse abschrieb, die er zum erstenmal in seinem Leben gemacht hatte; Boris und Natascha hatten im andern Fenster Platz genommen und schwiegen, als Wera eintrat. Sonja und Natascha sahen mit schuldbewußten und glücklichen Gesichtern Wera an.
Lustig und zugleich rührend war es, diese verliebten Mädchen zu sehen, aber ihr Anblick erweckte anscheinend in Wera keine angenehmen Gefühle.
»Wie oft habe ich euch schon gebeten«, fing sie an, »nicht meine Sachen zu nehmen, ihr habt doch euer eigenes Zimmer.«
Sie nahm Nikolaj das Tintenfaß weg.
»Gleich, gleich«, sagte er und tauchte die Feder noch einmal ein.
»Ihr tut alles zur unrechten Zeit«, fuhr Wera fort. »Vorhin lauft ihr in den Salon hinein, daß sich alle für euch schämen müssen.«
Obwohl oder gerade weil das, was sie sagte, ganz richtig war, antwortete ihr niemand. Alle vier sahen sich nur untereinander an. Sie blieb, das Tintenfaß in der Hand, noch zögernd einen Augenblick im Zimmer stehen.
»Und was für Geheimnisse könnt ihr in eurem Alter nur miteinander haben, Natascha und Boris, und ihr beiden andern. Weiter nichts als Dummheiten!«
»Na, was geht dich denn das an, Wera?« entgegnete mit leiser Stimme Natascha und trat damit für alle ein.
Sie war sichtlich an diesem Tag noch gütiger und freundlicher gegen alle, als sie es sonst schon zu sein pflegte.
»Sehr dumm ist das«, sagte Wera, »ich schäme mich für euch. Was sind das für Geheimnisse?«
»Jeder hat seine Heimlichkeiten. Wir lassen dich mit Berg ja auch zufrieden«, entgegnete Natascha, die sich jetzt ereiferte.
»Das versteht sich wohl von selbst, daß ihr das tut«, sagte Wera, »weil in meinem Benehmen niemand etwas Unschickliches finden kann. Ich werde es Mama sagen, wie du mit Boris umgehst.«
»Natalja Iljinitschna behandelt mich sehr freundlich«, sagte Boris, »ich kann mich nicht beklagen.«
»Lassen Sie nur, Boris, Sie sind ein solcher Diplomat« – das Wort Diplomat war gang und gäbe bei den Kindern, und zwar in einer ganz besonderen Bedeutung, die sie ihm selber gaben. »Das ist doch nachgerade langweilig«, sagte Natascha in gekränktem Ton und mit zitternder Stimme. »Warum belästigt sie mich immer? Du wirst das nie begreifen«, wandte sie sich an Wera, »weil du niemals jemanden geliebt hast. Du hast kein Herz, du bist nur Madame de Genlis[*][29]« – diesen Spitznamen, der als sehr beleidigend galt, hatte Nikolaj Wera gegeben – »und dein Hauptvergnügen besteht nur darin, andern Unannehmlichkeiten zu bereiten. Du aber kokettierst mit deinem Berg, soviel du willst«, fügte sie schnell hinzu.
»Ich werde jedenfalls in Anwesenheit von Gästen niemals einem jungen Mann nachlaufen …«
»Na, sie hat ja nun ihren Zweck erreicht«, mischte sich Nikolaj ein, »hat allen etwas Unangenehmes gesagt und allen die Stimmung verdorben. Kommt, wir gehen ins Kinderzimmer!«
Alle vier erhoben sich wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm und verließen das Zimmer.
»Mir habt ihr etwas Unangenehmes gesagt, nicht ich euch«, entgegnete Wera.
»Madame de Genlis, Madame de Genlis«, riefen lachende Stimmen hinter der Tür.
Die schöne Wera, die alle so aufreizte und allen so unangenehm war, lächelte und fühlte sich anscheinend gar nicht von dem getroffen, was man ihr gesagt hatte. Sie trat vor den Spiegel und strich ihre Schärpe und ihre Frisur glatt. Während sie ihr schönes Gesicht betrachtete, wurde sie, wie es schien, noch ruhiger und kühler.
Im Salon hatte die Unterhaltung inzwischen ihren Fortgang genommen.
»Ah, ma chère«, sagte die Gräfin, »auch in meinem Leben ist nicht alles rosig. Du train, que nous allons, das sehe ich doch, wird unser Vermögen nicht mehr lange reichen. Und das kommt alles nur von seinem Klub und seiner Gutmütigkeit. Und selbst wenn wir auf dem Lande wohnen, haben wir da etwa Ruhe? Theater, Jagden und Gott weiß was alles. Ja, aber was rede ich nur von mir? Wie hast du denn bloß alles einzurichten verstanden? Ich bewundere dich oft, Annette, wie du in deinen Jahren im Reisewagen ganz allein nach Moskau und nach Petersburg fährst zu all den Ministern und vornehmen Leuten und mit allen umzugehen verstehst. Ich staune. Sag, wie hast du das bloß fertiggebracht? Siehst du, davon verstehe ich rein gar nichts.«
»Ach, meine Liebe«, sagte die Fürstin Anna Michailowna. »Gott bewahre dich davor, jemals erfahren zu müssen, wie schwer es ist, als Witwe ohne Stütze zurückzubleiben, mit einem Sohn, den man vergöttert. Aber man lernt alles«, fuhr sie mit etwas Stolz fort. »Mein Prozeß hat es mich gelehrt. Wenn ich irgendeine von diesen Größen sprechen will, dann schreibe ich einfach ein Billett: ›Princesse une telle wünscht Herrn Soundso zu sprechen‹ und fahre dann allein in einer Droschke zwei –, drei –, na meinetwegen auch viermal hin, bis ich das erreicht habe, was ich brauche. Was man von mir denkt, ist mir dabei ganz gleichgültig.«
Französische moralisierende Schriftstellerin, die als Männerfeindin galt. (Anm. d. Übers.)