»Ja, aber, wen hast du denn Boris’ wegen gebeten?« fragte die Gräfin. »Sieh, deiner ist nun schon Gardeoffizier und mein Nikoluschka erst Junker. Wir haben niemanden, den wir um Fürsprache bitten könnten. Wen hast du denn gebeten?«
»Den Fürsten Wassilij. Er war sehr nett. Gleich war er mit allem einverstanden und hat es dann dem Kaiser vorgetragen«, sagte die Fürstin Anna Michailowna ganz verzückt und vergaß dabei alle Demütigungen, die sie hatte durchmachen müssen, ehe sie zu ihrem Ziel gelangt war.
»Er ist wohl recht alt geworden, der Fürst Wassilij?« fragte die Gräfin. »Ich habe ihn seit unserer Theateraufführung bei den Rumjanzews nicht mehr gesehen. Ich glaube, er hat mich vergessen. Il me faisait la cour«, erinnerte sich die Gräfin mit leisem Lächeln.
»Immer noch derselbe wie früher«, antwortete Anna Michailowna. »Er sprudelt über von Liebenswürdigkeit. Les grandeurs ne lui ont pas tourné la tête du tout. ›Ich bedaure, liebe Fürstin, daß ich nicht mehr für Sie tun kann‹, sagte er mir, ›aber bitte, befehlen Sie!‹ Ja, er ist ein ausgezeichneter Mensch und ein prächtiger Verwandter. Aber du kennst ja meine Liebe zu meinem Sohn, Natalie. Ich weiß nicht, was ich für sein Glück nicht alles tun könnte. Doch meine Verhältnisse sind so schlecht«, fuhr Anna Michailowna traurig fort und senkte dabei ihre Stimme, »so schlecht, daß ich jetzt in einer fürchterlichen Lage bin. Dieser unglückselige Prozeß frißt alles auf, was ich noch habe, und kommt dabei doch nicht von der Stelle. Kannst du dir vorstellen, ich habe oft keine zehn Kopeken mehr und weiß nicht, wovon ich Boris equipieren soll.« Sie zog ihr Taschentuch hervor und weinte. »Ich brauche wenigstens fünfhundert Rubel und habe nur noch einen Fünfundzwanzigrubelschein. Ich bin in einer solchen Lage … Meine einzige Hoffnung ist jetzt noch der Graf Kirill Wladimirowitsch Besuchow. Wenn er sein Patenkind nicht unterstützt – er ist doch Boris’ Pate – und ihm nicht irgendeine Summe zu seinem Lebensunterhalt anweist, dann sind alle meine Bemühungen umsonst gewesen: Ich habe dann nichts, wovon ich ihn equipieren kann.«
Der Gräfin kamen beinahe die Tränen, und sie überlegte schweigend etwas.
»Ich denke oft – aber vielleicht ist das eine Sünde«, sagte die Fürstin, »ich denke oft: Da lebt nun der Graf Kirill Wladimirowitsch Besuchow so allein … mit diesem ungeheuren Vermögen … und wozu lebt er? Ihm ist das Leben doch nur eine Last, und mein Boris fängt erst an zu leben.«
»Er wird doch sicher Boris etwas hinterlassen«, meinte die Gräfin.
»Gott mag das wissen, chère amie! Diese reichen und vornehmen Leute sind alle Egoisten. Aber trotzdem will ich jetzt gleich mit Boris zu ihm hinfahren und es ihm geradeheraus sagen, worum es sich handelt. Mögen sie von mir denken, was sie wollen, mir ist das wirklich ganz gleich, wenn das Schicksal meines Sohnes davon abhängt.« Die Fürstin erhob sich. »Jetzt ist es zwei Uhr, und um vier Uhr ist bei euch Diner. Da habe ich gerade noch Zeit, hinzufahren.«
Und nach Art einer geschäftigen Petersburger Dame, die ihre Zeit auszunutzen versteht, ließ Anna Michailowna ihren Sohn rufen und ging mit ihm in das Vorzimmer.
»Leb wohl, liebes Herz«, sagte sie zu der Gräfin, die sie zur Tür begleitete, »wünsche mir guten Erfolg«, fügte sie flüsternd, damit es ihr Sohn nicht verstehe, hinzu.
»Sie fahren zum Grafen Kirill Wladimirowitsch, ma chère?« fragte der Graf, der aus dem Speisesaal gleichfalls in das Vorzimmer trat. »Sollte es ihm besser gehen, so laden Sie doch Pierre ein, bei uns zu dinieren. Er war doch früher oft bei uns, hat mit den Kindern getanzt. Laden Sie ihn auf jeden Fall ein, ma chère. Na, nun wollen wir mal sehen, ob unser Koch Tarass sich heute mit Ruhm bedeckt hat. Er sagt, nicht einmal beim Grafen Orlow habe es je ein solches Diner, wie wir es heute veranstalten, gegeben.«
15
»Mon cher Boris«, sagte die Fürstin Anna Michailowna, als der Wagen der Gräfin Rostowa, in dem sie saßen, durch die mit Stroh belegte Straße[30] fuhr und in den großen Hof beim Hause des Grafen Kirill Wladimirowitsch Besuchow einbog, »mon cher Boris«, sagte die Mutter und streckte ihre Hand aus der alten Saloppe[31] hervor, um sie mit schmeichelnder Gebärde in die ihres Sohnes zu legen, »sei recht liebenswürdig und zuvorkommend. Graf Kirill Wladimirowitsch ist immerhin dein Pate, und von ihm hängt dein zukünftiges Schicksal ab. Denke daran, mon cher, und sei so liebenswürdig, wie du es sein kannst.«
»Wenn ich wüßte, daß dabei etwas anderes herauskäme als nur immer Demütigungen …«, antwortete ihr Sohn kühl, »aber ich habe es Ihnen versprochen und werde es Ihretwegen tun.«
Mutter und Sohn gingen, ohne sich anmelden zu lassen, durch zwei Reihen von Statuen, die seitlich in Nischen standen, geradewegs in eine Halle mit hohen Glasfenstern. Obgleich sie in einem herrschaftlichen Wagen vorgefahren waren, musterte sie der Portier doch mißtrauisch, als sie hineingingen. Er sah bedeutsam die alte Saloppe an und fragte, wen man zu sprechen wünsche, die Prinzessinnen oder den Grafen. Als er hörte, daß die beiden zum Grafen wollten, sagte er, Seine Erlaucht befänden sich heute schlechter und empfingen niemanden.
»Da können wir nun wieder abfahren«, sagte der Sohn auf französisch.
»Mon ami!« bat die Mutter mit flehender Stimme und griff wieder nach seiner Hand, als ob diese Berührung ihn beruhigen oder anregen solle.
Boris schwieg und sah, ohne den Mantel abzunehmen, seine Mutter fragend an.
»Mein Lieber«, sagte Anna Michailowna äußerst liebenswürdig zu dem Portier, »ich weiß, daß der Graf Kirill Wladimirowitsch sehr krank ist. Deswegen bin ich ja gerade hergekommen … ich bin eine Verwandte von ihm. Keinesfalls werde ich ihn beunruhigen, mein Lieber. Ich möchte ja nur den Fürsten Wassilij Sergejewitsch sprechen: der wohnt doch hier. Melde es, bitte.«
Der Portier zog mürrisch an der Schnur, die nach oben führte, und wandte ihnen den Rücken.
»Die Fürstin Drubezkaja zu dem Fürsten Wassilij Sergejewitsch«, rief er dem mit Strümpfen, Schuhen und Frack bekleideten Diener zu, der von oben heruntergelaufen kam und vom Treppenabsatz hinuntersah.
Die Mutter strich die Falten ihres gefärbten Seidenkleides zurecht, betrachtete sich in dem großen, venezianischen Wandspiegel und stieg mutig in ihren schiefgetretenen Schuhen die mit Teppichen belegte Treppe hinauf.
»Mon cher, vous m’avez promis«, wandte sie sich wieder an ihren Sohn und suchte ihn durch eine Berührung mit der Hand anzuregen.
Boris ging mit gesenkten Augen ruhig hinter ihr her.
Sie traten in den Saal ein, aus dem eine Tür in die Zimmer führte, die dem Fürsten Wassilij angewiesen waren.
Gerade in dem Augenblick, als Mutter und Sohn mitten im Zimmer standen und eben einen alten Diener, der bei ihrem Eintritt aufgesprungen war, fragen wollten, wohin sie zu gehen hätten, drehte sich der Bronzegriff an der einen Tür und Fürst Wassilij trat ein. Er war in Hauskleidung, trug einen samtbesetzten Pelz und nur einen Orden. Er geleitete eben einen schönen, schwarzhaarigen Herrn hinaus. Dies war der berühmte Petersburger Doktor Lorrain.
»C’est donc positif?« fragte der Fürst.
»Mon prince, ›errare humanum est‹, mais …« entgegnete der Doktor schnarrend, indem er die lateinischen Worte mit französischer Aussprache zitierte. »C’est bien, c’est bien …«
Als Fürst Wassilij Anna Michailowna mit ihrem Sohn bemerkte, entließ er den Doktor mit einer Verbeugung und trat mit fragender Miene schweigend auf sie zu. Boris sah, wie sich plötzlich in den Augen seiner Mutter ein tiefer Gram ausprägte, und er lächelte leicht.
»Ach, unter welch traurigen Umständen müssen wir uns wiedersehen, Fürst. – Nun, wie geht’s unserm teuren Kranken?« fragte sie, als bemerkte sie seinen kalten, beleidigenden, scharf auf sie gerichteten Blick nicht.
30