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»Bonjour, ma cousine«, sagte Pierre. »Vous ne me reconnaissez pas?«

»Ich erkenne Sie nur zu gut, nur zu gut.«

»Wie ist das Befinden des Grafen? Kann ich ihn sehen?« fragte Pierre unbeholfen, aber ohne verlegen zu werden.

»Der Graf leidet physisch und seelisch sehr, und anscheinend haben Sie sich bemüht, ihm noch mehr seelische Leiden zu verursachen.«

»Kann ich ihn sehen?« wiederholte Pierre.

»Hm! Wenn Sie ihn töten wollen, ihn vollends töten wollen, dann können Sie ihn sehen.«

»Olga, geh und sieh nach, ob die Bouillon für den Onkel fertig ist, es ist jetzt Zeit«, fügte sie hinzu und wollte damit Pierre zeigen, daß sie beschäftigt seien, und zwar damit beschäftigt, seinem Vater Beruhigung zu verschaffen, während er augenscheinlich nur daran dachte, ihm Aufregungen zu bereiten.

Olga ging hinaus. Pierre blieb noch eine Weile stehen, sah die Schwestern an und verbeugte sich dann mit den Worten: »Dann werde ich auf mein Zimmer gehen. Wenn ich ihn sehen kann, so sagen Sie es mir, bitte.«

Er ging hinaus, und hinter ihm her hallte das helltönende, aber nicht laute Lachen der Schwester mit dem Leberfleck.

Am nächsten Tag kam Fürst Wassilij an und quartierte sich ebenfalls im Hause des Grafen ein. Er ließ Pierre zu sich bitten und sagte zu ihm: »Mon cher, si vous vous conduisez ici comme à Pétersbourg, vous finirez très mal, c’est tout ce que je vous dis. Der Graf ist sehr, sehr krank. Es ist ganz unnötig, daß du zu ihm hineingehst.«

Seitdem belästigte man Pierre nicht mehr. Er verbrachte den ganzen Tag allein oben in seinem Zimmer.

Als Boris bei ihm eintrat, ging Pierre gerade in seinem Zimmer auf und ab. Hin und wieder blieb er in der einen oder anderen Ecke stehen, hob drohend die Faust gegen die Wand, als ob er einen unsichtbaren Feind mit dem Degen durchbohren wolle, und blickte finster über seine Brille. Dann nahm er seine Wanderung durchs Zimmer wieder auf, murmelte undeutlich etwas vor sich hin, zuckte mit den Achseln und breitete die Arme auseinander.

»L’Angleterre a vécu«, sagte er stirnrunzelnd und zeigte auf jemand mit dem Finger. »Monsieur Pitt[32] comme traître à la nation et au droit des gens est condamné à …«

Er bildete sich in diesem Augenblick ein, Napoleon zu sein, und hatte zusammen mit seinem Helden schon die gefährliche Überfahrt über den Pas de Calais bewerkstelligt und sogar London erobert. Doch kam er nicht mehr dazu, sein Urteil über Pitt zu Ende zu sprechen, denn plötzlich sah er einen jungen, schlanken, schönen Offizier ins Zimmer treten. Pierre blieb stehen. Er hatte Boris zum letztenmal als vierzehnjährigen Knaben gesehen und konnte sich nicht mehr auf ihn besinnen. Trotzdem aber griff er mit der schnellen und gutherzigen Art, die ihm eigen war, nach Boris’ Hand und lächelte ihm freundlich zu.

»Erinnern Sie sich noch meiner?« fragte Boris ruhig und mit freundlichem, angenehmem Lächeln. »Ich bin mit meiner Mutter hergekommen, um den Grafen zu besuchen. Es scheint ihm sehr schlecht zu gehen.«

»Ja, er ist anscheinend sehr krank, man beunruhigt ihn dauernd«, antwortete Pierre und bemühte sich, darauf zu kommen, wer dieser junge Mensch sei.

Boris fühlte, daß Pierre ihn nicht erkannte, aber er hielt es nicht für nötig sich vorzustellen und sah ihm, ohne die geringste Verlegenheit zu empfinden, offen in die Augen.

»Graf Rostow bittet Sie, heute zu ihm zum Diner zu kommen«, sagte er nach längerem, für Pierre ziemlich peinlichem Schweigen.

»Ah, Graf Rostow«, rief Pierre erfreut. »So sind Sie also sein Sohn Ilja. Können Sie sich vorstellen, ich hatte Sie in der ersten Minute gar nicht erkannt. Erinnern Sie sich noch, wie wir mit Madame Jacquot einen Ausflug nach den Sperlingsbergen machten. Das ist zwar schon sehr lange her.«

»Sie irren sich«, erwiderte Boris, ohne jede Eile und mit einem freimütigen, etwas spöttischen Lächeln. »Ich bin Boris, der Sohn der Fürstin Anna Michailowna Drubezkaja. Graf Rostow, der Vater, heißt Ilja, sein Sohn aber Nikolaj. Und eine Madame Jacquot kenne ich überhaupt nicht.«

Pierre schüttelte mit dem Kopf und den Armen, als ob Mücken oder Bienen über ihn hergefallen wären.

»Ach! Nein, so etwas! Ich habe alles verwechselt! Soviel Verwandte habe ich in Moskau! Sie sind Boris … ja. Na, jetzt haben wir uns also geeinigt! Nun, was halten Sie von der Boulogner Expedition[33]? Den Engländern wird es doch wohl schlecht gehen, wenn Napoleon über den Kanal setzt? Ich glaube, daß diese Expedition sehr wohl möglich ist. Wenn Villeneuve nur nicht die Gelegenheit verpaßt.«

Boris wußte nichts von der Boulogner Expedition. Er las keine Zeitungen und hörte den Namen Villeneuve zum erstenmal.

»Wir hier, in Moskau, beschäftigen uns mehr mit Diners und Klatsch als mit Politik«, sagte er in seinem ruhigen, spöttischen Ton. »Ich weiß nichts davon und konnte daher auch nicht darüber nachdenken. Moskau interessiert sich vor allem für Klatsch«, fuhr er fort. »Jetzt redet man von Ihnen und dem Grafen.«

Pierre lächelte gutmütig, als ob er für Boris Angst habe, er könne etwas sagen, was er nachher bereuen würde. Aber Boris sprach bestimmt, klar und trocken weiter, und sah dabei Pierre gerade in die Augen: »Moskau kann nichts anderes als klatschen«, fuhr er fort. »Alles ist jetzt mit dem Problem beschäftigt, wem der Graf wohl sein Vermögen hinterläßt, obwohl er vielleicht uns alle überleben wird, was ich ihm von ganzer Seele wünschen möchte.«

»Ja, das ist sehr schwer«, fiel Pierre ein, »sehr schwer.«

Er fürchtete immer noch, dieser junge Offizier könnte unvermutet in ein für ihn selbst peinliches Gespräch geraten.

»Ihnen muß es doch so vorkommen«, fuhr Boris, leicht errötend, aber ohne die Stimme oder Haltung zu verändern, fort, »Ihnen muß es doch so vorkommen, als ob alle nur den einen Gedanken hätten, etwas von diesem reichen Mann zu bekommen.«

So ist es tatsächlich, dachte Pierre.

»Aber ich möchte Ihnen, um alle Mißverständnisse zu vermeiden, nun geradeheraus sagen, daß Sie sich irren, wenn Sie mich und meine Mutter zu diesen Leuten rechnen. Wir sind zwar sehr arm, aber ich kann, wenigstens für meine Person, behaupten: Eben gerade deshalb, weil Ihr Vater sehr reich ist, sehe ich ihn nicht als meinen Verwandten an, und weder ich noch meine Mutter werden ihn jemals um etwas bitten oder etwas von ihm annehmen.«

Pierre verstand lange nicht, was Boris eigentlich sagen wollte, aber als er es endlich begriffen hatte, sprang er vom Sofa auf und ergriff mit der ihm eigenen Schnelligkeit und unbeholfenen Art von unten her Boris’ Hand. Er errötete noch stärker als Boris und sagte aus einem aus Scham und Ärger gemischten Gefühl heraus: »Das ist merkwürdig! Habe ich vielleicht … ja und wer könnte denken … Ich weiß sehr wohl.«

Aber Boris fiel ihm wieder ins Wort. »Ich freue mich, daß ich alles herausgesagt habe. Vielleicht war es Ihnen unangenehm, dann verzeihen Sie mir bitte«, setzte er hinzu, um Pierre zu beruhigen, anstatt von jenem beruhigt zu werden. »Aber ich hoffe, daß ich Sie damit nicht gekränkt habe. Ich habe es mir zur Regel gemacht, alles geradeheraus zu sagen. Doch was sollte ich eigentlich ausrichten? Kommen Sie zu den Rostows zum Diner?«

Boris hatte sich augenscheinlich einer schweren Pflicht entledigt und war nun aus dieser peinlichen Lage herausgekommen, in die jetzt den anderen hineingebracht hatte. Er wurde nun wieder ganz heiter.

»Nein, hören Sie«, sagte Pierre, der sich schon wieder beruhigt hatte. »Sie sind ein erstaunlicher Mensch. Das, was Sie da eben gesagt haben, ist sehr gut, sehr gut. Es ist ja nur begreiflich, daß Sie mich nicht kennen, wir haben uns ja so lange nicht gesehen … wir waren noch Kinder … Vielleicht halten Sie mich … für … Ich verstehe Sie, verstehe Sie sehr gut. Ich hätte das nicht fertiggebracht, dazu hätte mir der Mut gefehlt. Aber das ist schön. Ich freue mich sehr, daß ich mit Ihnen bekannt geworden bin. Seltsam«, fügte er nach kurzem Schweigen hinzu und lächelte, »wofür Sie mich gehalten haben mögen.« Er lachte los. »Na aber, was ist dabei. Wir werden schon noch besser miteinander bekannt werden. Ich bitte Sie darum.« Er drückte Boris die Hand. »Wissen Sie, ich bin nicht einmal beim Grafen gewesen. Er hat mich nicht zu sich rufen lassen. Er tut mir schon rein als Mensch leid. Aber was ist da zu machen?«

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32

Monsieur Pitt: William Pitt d. J. (1759-1806), britischer Staatsmann, Führer der europäischen Koalitionen gegen das revolutionäre, später das kaiserliche Frankreich.

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33

von der Boulogner Expedition: Napoleon bereitete von Boulogne aus den Angriff auf England vor. Doch in der Seeschlacht von Trafalgar 1805 wurden die Franzosen unter Admiral Villeneuve von Admiral Nelson geschlagen.