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»Und Sie glauben, daß es Napoleon gelingen wird, die Armee überzusetzen?« fragte Boris lächelnd.

Pierre begriff, daß Boris das Gesprächsthema ändern wollte, war damit einverstanden und begann die Vor- und Nachteile der Boulogner Expedition auseinanderzusetzen.

Da erschien ein Lakai und rief Boris zu seiner Mutter. Die Fürstin wollte wieder abfahren. Pierre versprach, zum Diner zu kommen, um noch näher mit Boris bekannt zu werden, drückte ihm kräftig die Hand und sah ihm durch seine Brille freundlich in die Augen. Nachdem Boris fortgegangen war, ging Pierre noch lange in seinem Zimmer auf und ab. Aber er durchbohrte nicht mehr jenen unsichtbaren Feind mit dem Degen, sondern lächelte in der Erinnerung an diesen lieben, klugen und charakterfesten jungen Menschen.

Wie es im ersten Jünglingsalter oft zu geschehen pflegt und ganz besonders bei denen, die sonst einsam sind, empfand er für diesen jungen Mann plötzlich eine Zärtlichkeit, deren Ursache er sich selber nicht erklären konnte, und nahm sich daher vor, mit ihm sofort in ein freundschaftliches Verhältnis zu treten.

Fürst Wassilij begleitete die Fürstin hinaus. Sie hielt sich ihr Taschentuch vor die Augen, und ihr Antlitz war voller Tränen.

»Ach, wie schrecklich, wie schrecklich«, sagte sie. »Aber so schwer es auch für mich sein mag, ich werde meine Pflicht erfüllen. Ich komme zur Nachtwache. Man darf ihn so nicht sterben lassen. Jede Minute ist kostbar. Ich verstehe nicht, warum die Prinzessinnen noch zaudern. Vielleicht wird Gott mir helfen, ein Mittel zu finden, um ihn vorzubereiten. Adieu, mon prince, que le bon Dieu vous soutienne.«

»Adieu, ma bonne«, antwortete Fürst Wassilij und wandte sich von ihr ab.

»Ach, er ist in einem schrecklichen Zustand«, sagte die Mutter zu ihrem Sohn, als sie wieder im Wagen saßen. »Er erkennt fast niemanden mehr.«

»Ich sehe nicht ganz klar, Mama, wie verhält er sich denn Pierre gegenüber?« fragte der Sohn.

»Das alles wird das Testament uns sagen, mein Freund. Von ihm hängt unser Schicksal ab.«

»Aber warum glauben Sie denn, daß er uns etwas hinterlassen wird?«

»Ach, mein Freund! Er ist so reich, und wir sind so arm.«

»Aber das ist doch kein genügender Grund, Mama …«

»Ach, mein Gott, mein Gott! Wie schlecht geht es ihm!« rief die Mutter aus.

17

Nachdem Anna Michailowna mit ihrem Sohn zum Grafen Kirill Wladimirowitsch Besuchow gefahren war, blieb die Gräfin Rostowa noch lange allein sitzen und hielt sich ihr Taschentuch vor die Augen. Endlich läutete sie.

»Meine Liebe«, sagte sie ärgerlich zu dem Mädchen, das nicht sofort erschienen war, »wollen Sie eigentlich Ihren Dienst versehen oder nicht? Ich kann ja für Sie auch einen anderen Platz finden.«

Die Gräfin war angegriffen aus Kummer über die erniedrigende Armut ihrer Freundin und daher in schlechter Laune, was sich bei ihr immer dadurch äußerte, daß sie das Dienstmädchen »Meine Liebe« und »Sie« nannte.

»Verzeihung«, sagte das Mädchen.

»Bitten Sie den Grafen zu mir her.«

Der Graf kam, sich hin und her wiegend, wie immer mit etwas schuldbewußter Miene, zu seiner Frau herein.

»Ich sage dir, meine liebe Gräfin, was für ein feines HaselhuhnSauté mit Madeira es heute geben wird, ma chère! Ich habe soeben gekostet. Nicht umsonst gebe ich für unsern Koch Tarass tausend Rubel. Er ist es wert.«

Mit diesen Worten setzte er sich neben seine Frau, stützte die Arme keck auf die Knie und fuhr sich durch seine grauen Haare.

»Und was wünschen Sie, meine liebe Gräfin?«

»Siehst du, mein guter Freund … was hast du denn da für einen Fleck?« fragte sie und zeigte auf seine Weste. »Wahrscheinlich vom Sauté«, fügte sie lächelnd hinzu, »also passen Sie auf, Graf, ich brauche Geld.«

Ihr Gesicht wurde traurig.

»Aber liebste Gräfin!«

Der Graf wurde unruhig und holte seine Brieftasche hervor.

»Ich brauche viel, Graf, fünfhundert Rubel.«

Sie zog ihr Batisttaschentuch hervor und rieb damit die Weste ab.

»Aber gleich, gleich! He, wer ist gerade da?« rief er mit einer Stimme, wie nur Leute rufen, die überzeugt sind, daß sogleich alle Hals über Kopf auf ihren Ruf herbeistürzen werden. »Mitja soll man zu mir herschicken!«

Mitja, ein adeliger Sprößling, der beim Grafen erzogen worden war und jetzt alle seine Geschäfte führte, trat mit leisen Schritten ins Zimmer.

»Paß auf, mein Lieber«, sagte der Graf zu dem ehrerbietig eintretenden jungen Mann. »Bringe mir …« Er überlegte. »Ja, bringe mit siebenhundert Rubel, hörst du? Aber paß auf, bringe nicht wieder solch zerrissene und schmutzige Scheine wie voriges Mal, sondern schöne, für die Gräfin.«

»Ja bitte, Mitja, saubere«, bat die Gräfin, traurig aufseufzend.

»Wann befehlen Euer Erlaucht, daß ich das Geld herbringe«, sagte Mitja. »Sie geruhen doch zu wissen, daß … Jedoch bitte beunruhigen Sie sich nicht«, fügte er hinzu, als er sah, daß der Graf schwer und kurz zu atmen begann, was immer ein Zeichen nahenden Zornes war. »Ich hatte vergessen – wünschen Sie das Geld augenblicklich?«

»Ja, ja, natürlich, bringe es und hier, der Gräfin, gib es.«

»Was ist das doch für ein goldener Mensch, dieser Mitja«, fügte der Graf lächelnd hinzu, als der junge Mann hinausgegangen war. »Es gibt für ihn nichts, was unmöglich wäre. So etwas kann ich nicht leiden. Alles kann man, wenn man will.«

»Ach, das Geld, Graf, das liebe Geld! Wieviel Kummer verursacht es doch auf dieser Welt«, sagte die Gräfin, »aber diese Summe brauche ich sehr nötig.«

»Sie sind eine Verschwenderin, meine liebe Gräfin, das weiß ich«, erwiderte der Graf, seiner Frau die Hand küssend, und ging dann wieder auf sein Zimmer.

Als Anna Michailowna nun von Besuchow zurückkehrte, lag das Geld, lauter nagelneue Scheine, schon bei der Gräfin unter ihrem Taschentuch auf dem kleinen Tisch. Anna Michailowna merkte sofort, daß die Gräfin über irgend etwas unruhig war.

»Nun, wie war es, liebe Freundin?« fragte die Gräfin.

»Ach, in was für einem entsetzlichen Zustand er sich befindet! Er ist nicht wiederzuerkennen, so schlecht geht es ihm, so schlecht. Ich war nur einen Augenblick drin und habe keine zwei Worte gesagt.«

»Annette, um Gottes willen, schlage es mir nicht ab«, sagte die Gräfin errötend, was bei ihrem alten, mageren und ernsten Gesicht merkwürdig aussah, und holte unter dem Taschentuch das Geld hervor.

Anna Michailowna begriff augenblicklich, worum es sich handelte, und beugte sich schon herab, um im passenden Augenblick die Gräfin geschickt zu umarmen.

»Hier, das ist von mir für Boris, zu seiner Ausstaffierung …«

Doch Anna Michailowna hatte schon die Gräfin umarmt und weinte. Diese schluchzte ebenfalls. Beide weinten darüber, daß sie so befreundet und so gut und Jugendfreundinnen waren, und daß sie sich mit einem so niedrigen Gegenstand wie dem Geld befassen müßten, und darüber, daß ihre Jugend vorbei war … Aber ihre Tränen waren für beide eine Wohltat.

18

Die Gräfin Rostowa saß mit ihren Töchtern und schon zahlreichen Gästen im Salon. Der Graf führte die Herren in sein Zimmer und bot ihnen seine türkischen Pfeifen an, von denen er aus Liebhaberei eine ganze Sammlung besaß. Ab und zu ging er hinaus und erkundigte sich, ob sie schon gekommen sei. Man erwartete nämlich Marja Dmitrijewna Achrosimowa, die in der Gesellschaft den Spitznamen le terrible dragon führte, eine Dame, die nicht durch Reichtum und Vornehmheit, sondern durch ihren gesunden Menschenverstand und ihre offenherzige Naivität im Verkehr mit andern berühmt war. Nicht nur in ganz Moskau und Petersburg, sondern auch bei der kaiserlichen Familie war Marja Dmitrijewna bekannt, und wenn sich die Gesellschaft beider Städte auch oft über sie wunderte, im stillen über ihre Grobheit lachte und sich von ihr allerlei Anekdoten erzählte, so wurde sie doch von allen ohne Ausnahme sehr geachtet, ja beinahe gefürchtet.