»Connaissez-vous le proverbe: Wärst du zu Hause geblieben, dann hättest du ruhig deine Spindel drehen können«, sagte Schinschin stirnrunzelnd und lächelte. »Cela nous convient à merveille. Denken Sie bloß an Suworow[34], auch den haben sie à plate couture zusammengehauen, und wo haben wir jetzt noch Leute wie Suworow? Je vous demande un peu«, sagte er, unaufhörlich vom Russischen ins Französische überspringend.
»Wir müssen bis zum letzten Blutstropfen kämpfen«, sagte der Oberst und schlug auf den Tisch, »und für unseren Kaiser sterben, und dann wird alles gut werden. Aber darüber nachdenken, das sollen wir mö-ö-öglichst wenig«, er zog das Wort ›möglichst‹ unendlich in die Länge und wandte sich mit diesen letzten Worten wieder an den Grafen. »So halten es alte Husaren und damit basta! Aber wie denken Sie darüber, junger Mann und angehender Husar?« fügte er hinzu und wandte sich an Nikolaj, der, als er vom Krieg sprechen hörte, seine Nachbarin sich selbst überließ und mit glänzenden Augen den Oberst ansah und seinen Worten gespannt lauschte.
»Ich bin vollkommen Ihrer Ansicht«, antwortete Nikolaj, der feuerrot geworden war, seinen Teller in der Hand drehte und die Gläser mit so entschiedener und tollkühner Miene hin und her schob, als stünde er schon in diesem Augenblick einer großen Gefahr gegenüber. »Meiner Überzeugung nach müssen wir Russen entweder siegen oder sterben«, fuhr er fort, fühlte aber gleich, nachdem er diesen Satz ausgesprochen hatte, ebenso wie alle übrigen, daß seine Worte zu begeistert und zu geschwollen und daher ungeschickt klangen.
»C’est bien beau ce que vous venez de dire«, meinte die neben ihm sitzende Julie.
Sonja zitterte am ganzen Körper und errötete bis zu den Ohren, bis zum Halse und den Schultern herab, während Nikolaj sprach.
Pierre hörte der Rede des Obersten zu und nickte beifällig. »Das ist vortrefflich«, pflichtete er bei.
»Sie sprechen wie ein echter Husar, junger Mann«, sagte der Oberst und schlug wieder auf den Tisch.
»Worüber macht Ihr da einen solchen Lärm?« ertönte plötzlich über den Tisch herüber die Baßstimme Marja Dmitrijewnas. »Was haust du da immer auf den Tisch?« wandte sie sich an den Husaren. »Auf wen bist du so wütend? Du denkst wohl, du hast schon einen Franzosen vor dir?«
»Ich sage die Wahrheit«, entgegnete lächelnd der Husar.
»Immer nur vom Krieg«, rief der Graf über den Tisch. »Mein Sohn geht ja auch mit, Marja Dmitrijewna, er geht auch mit.«
»Na und ich habe vier Söhne in der Armee und gräme mich nicht. Es kommt alles nach Gottes Willen. Wenn man auf dem Ofen liegt, kann man ebenso sterben, und andererseits wieder kann Gott auch in der Schlacht Erbarmen mit einem haben«, tönte ohne jede Anstrengung die volle Stimme Marja Dmitrijewnas vom andern Ende des Tisches herüber.
»So ist es.«
Hierauf wurde die Unterhaltung wieder getrennt geführt; die Damen sprachen miteinander auf ihrer Seite, die Herren auf der anderen Seite.
»Aber du wirst doch nicht fragen«, sagte der kleine Bruder zu Natascha, »du wirst doch nicht fragen!«
»Und ich werde doch fragen«, antwortete Natascha.
Ihr Gesicht erglühte plötzlich, und es prägte sich auf ihm eine tollkühne, fröhliche Entschlossenheit aus. Sie erhob sich ein wenig, forderte mit einem Blick den neben ihr sitzenden Pierre auf, zuzuhören, und wandte sich dann an ihre Mutter.
»Mama!« tönte über den ganzen Tisch ihre kindliche Bruststimme.
»Was willst du denn?« fragte die Gräfin erschrocken, sah aber sofort an dem Gesicht ihrer Tochter, daß es nur Ausgelassenheit war. Doch winkte sie ihr streng mit der Hand zu und machte eine drohende und abweisende Geste mit dem Kopf. Die Unterhaltung verstummte.
»Mama, was für eine Nachspeise gibt es denn heute?« tönte noch entschlossener, ohne sich abbringen zu lassen, Nataschas Stimmchen.
Die Gräfin wollte die Stirn kraus ziehen, vermochte es aber nicht. Marja Dmitrijewna drohte mit ihrem dicken Finger. »Kosak«, sagte sie verweisend.
Die Mehrzahl der Gäste sah sich nach den älteren Herrschaften um und wußte nicht, wie sie diese Ausgelassenheit aufnehmen sollte.
»Na, ich werde dir …« sagte die Gräfin.
»Mama, was für eine Nachspeise gibt es heute?« rief Natascha fröhlichnaseweis und jetzt schon kühner, da sie im voraus wußte, daß ihre Mutwilligkeit gut aufgenommen werden würde.
Sonja und der dicke Petja versteckten sich, weil sie sich vor Lachen nicht mehr halten konnten.
»Siehst du, ich habe doch gefragt«, flüsterte Natascha ihrem kleinen Bruder und Pierre zu, indem sie ihm wieder einen Blick zuwarf.
»Eis gibt es, aber du bekommst keins«, antwortete Marja Dmitrijewna.
Natascha sah, daß sie keine Angst zu haben brauchte, und fürchtete sich daher auch nicht vor Marja Dmitrijewna.
»Marja Dmitrijewna! Was denn für Eis? Ich esse Sahne-Eis nicht gern.«
»Mohrrübeneis!«
»Nein, was für Eis? Marja Dmitrijewna, was für Eis?« schrie sie fast, »ich möchte es doch so gern wissen!«
Marja Dmitrijewna und die Gräfin lachten und nach ihnen alle anderen Gäste auch.
Alle lachten nicht über die Antwort Marja Dmitrijewnas, sondern über die unbegreifliche Keckheit und Gewandtheit dieses kleinen Mädchens, das es verstanden und gewagt hatte, so mit Marja Dmitrijewna umzugehen.
Natascha gab erst dann nach, als man ihr gesagt hatte, es werde Ananaseis geben.
Vor dem Eis wurde Champagner gebracht. Wieder fing die Musik zu spielen an. Der Graf küßte die Gräfin; die Gäste standen auf, um ihr zu gratulieren, und stießen über den Tisch mit dem Grafen, mit den Kindern und untereinander an. Wieder liefen die Diener hin und her, die Stühle wurden gerückt, und in derselben Ordnung, nur mit etwas röteren Gesichtern, kehrten die Gäste in den Salon und in das Zimmer des Grafen zurück.
20
Die Bostontische wurden ausgezogen, ein paar Partien kamen zustande, und die Gäste verteilten sich in die beiden Salons, das Diwanzimmer und die Bibliothek.
Der Graf breitete die Karten fächerförmig aus, und obgleich es ihm schwer fiel, sein gewohntes Mittagsschläfchen entbehren zu müssen, lachte er doch über alles. Die Jugend versammelte sich, von der Gräfin dazu aufgefordert, um das Klavier und die Harfe. Auf allgemeines Bitten spielte Julie zuerst ein Stück mit Variationen auf der Harfe und bat dann zusammen mit den anderen Mädchen Natascha und Nikolaj, die als sehr musikalisch bekannt waren, etwas vorzusingen. Natascha, an die man sich wie an eine Erwachsene wandte, war augenscheinlich sehr stolz, zugleich aber auch etwas schüchtern.
»Was wollen wir singen?« fragte sie.
»Die Quelle«, antwortete Nikolaj.
»Nun, dann gleich los! Boris, kommen Sie hierher«, sagte Natascha, »aber wo ist Sonja?«
Sie sah sich um, und als sie merkte, daß ihre Freundin nicht im Zimmer war, lief sie fort, um sie zu suchen.
Als sie auf Sonjas Zimmer kam und dort ihre Freundin nicht fand, lief sie ins Kinderzimmer, aber auch hier war Sonja nicht. Da wußte Natascha gleich, daß Sonja nur im Korridor auf der Truhe sitzen konnte. Die Truhe im Korridor war für das junge weibliche Geschlecht im Hause Rostow der Ort der Tränen. Wirklich lag Sonja in ihrem leichten rosenfarbenen Kleidchen, das dabei ganz zerknüllt wurde, mit dem Gesicht nach unten auf dem schmutzigen gestreiften Bett der Kinderfrau auf der Truhe. Sie hatte das Gesicht mit ihren kleinen Fingern bedeckt und weinte so schluchzend, daß ihre nackten Schultern zuckten. Nataschas Gesicht, das den ganzen Tag über so lebhaft und feiertagsfroh gewesen war, nahm plötzlich einen andern Ausdruck an. Ihre Augen wurden ganz starr, dann zuckte es über ihren breiten Hals, und ihre Mundwinkel senkten sich.
»Sonja, was ist mit dir … Was, was ist los? U-u-u! …«
Natascha riß ihren großen Mund weit auf und wurde dabei ganz häßlich. Sie brüllte los wie ein kleines Kind, ohne zu wissen warum, nur deshalb, weil Sonja weinte. Sonja wollte den Kopf heben, um zu antworten, vermochte es aber nicht und versteckte sich nur noch mehr. Natascha setzte sich weinend auf das blaue Federbett und umarmte ihre Freundin. Sonja nahm sich zusammen, richtete sich auf, rieb ihre Tränen ab und begann zu erzählen.
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