»Nikolenka reist in einer Woche ab … sein Befehl … ist gekommen … er selbst hat es mir gesagt. Aber ich würde trotzdem nicht weinen …« Sie zeigte auf einen Zettel, den sie in der Hand hielt: es waren Nikolajs Verse. »Ich würde trotzdem nicht weinen, aber du kannst dir nicht vorstellen, niemand kann sich das vorstellen, was er für ein gutes Herz hat.«
Und sie fing wieder an zu weinen darüber, daß er ein so gutes Herz hatte.
»Du hast es gut … ich beneide dich nicht … ich liebe dich und Boris auch«, sagte sie, nachdem sie sich wieder ein wenig zusammengenommen hatte, »er ist ein netter Mensch; für euch gibt es keine Hindernisse. Aber Nikolaj ist mein Vetter … Da muß der Metropolit selbst … und das kann man auch nicht … Und dann, wenn ich es Mama …« Sonja betrachtete die Gräfin als ihre Mutter und nannte sie auch so. »Sie wird sagen, daß ich Nikolaj die Karriere verderbe, daß ich kein Herz habe, daß ich undankbar bin, aber wirklich, Herr Gott …« Sie bekreuzigte sich. »Ich liebe sie und euch alle, nur Wera allein … Weshalb? Was habe ich ihr getan. Ich bin euch so dankbar, daß ich alles für euch opfern könnte, aber ich habe ja nichts!« Sonja konnte nicht mehr weiterreden und versteckte ihr Gesicht wieder in den Händen und im Bett. Natascha beruhigte sie, aber man konnte es ihr ansehen, daß sie den ganzen Ernst des Kummers ihrer Freundin begriff.
»Sonja!« sagte sie plötzlich, als ob sie die wahre Ursache des Kummers ihrer Cousine erraten hätte, »Wera hat wohl mit dir nach dem Mittagessen gesprochen, ja?«
»Ja, diese Verse hat Nikolaj selber gedichtet, und ich habe noch andere abgeschrieben. Sie hat sie bei mir auf dem Tisch gefunden und gesagt, sie werde sie Mama zeigen. Und dann hat sie noch gesagt, daß ich undankbar sei, daß Mama ihm nie erlauben würde, mich zu heiraten. Er würde Julie heiraten. Hast du gesehen, wie er den ganzen Tag mit ihr zusammen ist, Natascha? Warum ist er …«
Und wieder weinte sie, noch bitterlicher als vorher. Natascha richtete sie auf, umarmte sie und suchte sie, unter Tränen lächelnd, wieder zu beruhigen.
»Sonja, Herzchen, glaub ihr doch nicht; glaub ihr doch nicht. Weißt du noch, wie wir drei mit Nikolaj im Diwanzimmer darüber gesprochen haben? Weißt du noch, nach dem Abendbrot? Da haben wir doch alle beschlossen, wie es werden soll. Ich kann mich nicht mehr besinnen wie, aber du weißt doch wohl noch, daß alles schön war und alles gut ging. Sieh, der Bruder von Onkel Schinschin hat ja auch eine Cousine ersten Grades geheiratet, und wir sind doch sogar Cousinen zweiten Grades. Und Boris hat auch gesagt, daß man es sehr gut kann. Du weißt, ich habe ihm alles erzählt. Er ist so klug und so gut«, fuhr Natascha fort. »Sonja, Liebling, Herzchen, weine doch nicht, Sonja.« Sie küßte sie lachend. »Wera ist ein böses Geschöpf, laß sie! Und alles wird gut werden, und auch Mama wird sie es nicht sagen; Nikolenka wird es ihr selber sagen, und an Julie hat er überhaupt nicht gedacht.«
Sie küßte sie auf den Kopf. Sonja richtete sich auf. Das Kätzchen wurde wieder lebendig, seine Augen fingen an zu glänzen, und es schien bereit zu sein, gleich wieder mit dem Schwänzchen auf und nieder zu wippen, auf die weichen Pfötchen zu springen und von neuem mit dem Knäuel zu spielen, wie das ja nun einmal seine Art war.
»Du glaubst? Wirklich? Wahrhaftig?« fragte sie und strich schnell ihr Kleid und ihre Frisur zurecht.
»Wirklich und wahrhaftig!« antwortete Natascha und steckte ihrer Freundin eine Haarsträhne fest, die sich immer wieder eigensinnig aus dem Zopf hervorringelte. Beide fingen an zu lachen.
»Nun komm, wir wollen ›Die Quelle‹ singen.«
»Ja, gehen wir.«
»Weißt du, dieser dicke Pierre, der mir gegenübersitzt, ist ein so komischer Mensch!« sagte plötzlich Natascha und blieb stehen. »Ich bin so lustig!« Und sie lief stürmisch den Korridor entlang.
Sonja schüttelte die Federchen ab und steckte die Verse oben neben den stark hervortretenden Brustknochen in den Halsausschnitt ihres Kleides. Mit fröhlichen, leichten Schritten und gerötetem Gesicht lief sie über den Korridor hinter Natascha her in das Diwanzimmer.
Auf Bitten der Gäste sangen die jungen Leute das Quartett ›Die Quelle‹, und es gefiel allen sehr, worauf Nikolaj noch ein Lied zum besten gab, das er neu eingeübt hatte:
Er hatte die letzten Worte noch nicht zu Ende gesungen, da rüstete sich die Jugend im Saale schon zum Tanz, die Musikanten scharrten auf der Galerie mit den Füßen, setzten sich zurecht und räusperten sich.
Pierre saß im Salon. Da er soeben aus dem Ausland gekommen war, hatte Schinschin ein für Pierre langweiliges Gespräch über Politik mit ihm angefangen, dem sich auch die übrigen Gäste anschlossen. Als die Musik einsetzte, trat Natascha in den Salon, ging direkt auf Pierre zu und sagte lachend und errötend zu ihm: »Mama läßt Sie bitten, zum Tanzen zu kommen.«
»Ich fürchte die Figuren in Unordnung zu bringen«, sagte Pierre, »aber wenn Sie mein Lehrer sein wollen …«
Und er reichte dem zierlichen Mädchen seinen dicken Arm, wobei er sich tief herabbeugen mußte.
Während die Paare sich aufstellten und die Musikanten ihre Instrumente stimmten, setzte sich Pierre mit seiner kleinen Dame hin. Natascha war glückselig. Sie tanzte mit einem richtigen Herrn, und noch dazu mit einem, der aus dem Ausland kam. Sie setzte sich so, daß alle sie sehen konnten, und unterhielt sich mit ihm wie eine Alte. In der Hand hielt sie einen Fächer, den ihr eins der jungen Mädchen zum Halten gegeben hatte. Und ganz wie eine Dame von Welt – Gott weiß, woher und wann sie das gelernt hatte – bewegte sie den Fächer hin und her, lächelte über ihn hinweg und unterhielt sich so mit ihrem Kavalier.
»Seht nur den Racker, seht nur!« sagte die alte Gräfin, als sie durch den Saal ging, und zeigte auf Natascha.
Natascha errötete und lachte.
»Aber was denn, Mama? Was haben Sie denn mit mir? Was ist denn da zu verwundern?«
Als die dritte Ekossaise[36] im Gang war, wurden im Salon, wo der Graf und Marja Dmitrijewna spielten, die Stühle gerückt, und die meisten der vornehmen und älteren Gäste standen auf, reckten sich nach dem langen Sitzen, steckten die Brieftaschen und Geldbörsen ein und traten in den Saal, um den Paaren zuzuschauen. Voran ging Marja Dmitrijewna mit dem Grafen, beide mit lachenden Gesichtern. Der Graf reichte mit spaßhafter Höflichkeit, etwa wie beim Ballett, Marja Dmitrijewna seinen Arm. Er reckte sich hoch auf, sein Gesicht erstrahlte in einem besonderen jugendlich kecken Lächeln, und als man die letzte Figur der Ekossaise zu Ende getanzt hatte, klatschte er nach den Musikanten zu in die Hände und rief, indem er sich an den ersten Geiger wandte, nach der Galerie hinauf: »Semjon! Kannst du den ›Danilo Kupor‹ spielen?« Das war der Lieblingstanz des Grafen, den er in seiner Jugend schon getanzt hatte. Dieser ›Danilo Kupor‹ war eine besondere Figur der Anglaise[37].
»Seht nur den Papa!« rief Natascha durch den ganzen Saal. Sie hatte vollständig vergessen, daß sie mit einem richtigen Herrn tanzte, beugte ihren Lockenkopf auf die Knie und brach in ein lautes, helles Lachen aus, das durch den ganzen Saal schallte. Und alle, die im Saal waren, blickten mit einem vergnügten Lächeln auf diesen lustigen alten Herrn, der neben Marja Dmitrijewna stand, dieser würdevollen Dame, die so viel größer war als er. Er hielt die Arme rundgebogen, bewegte sie im Takt, reckte die Schultern, spreizte die Füße nach auswärts, stampfte ein wenig im Takt zur Musik und bereitete mit einem Lächeln, das sich immer weiter auf seinem Gesicht ausbreitete, die Zuschauer auf das vor, was da kommen sollte. Sobald die keck herausfordernden Töne des ›Danilo Kupor‹ erklangen, die Ähnlichkeit mit einem lustigen Volkstanz hatten, erschienen plötzlich in den Saaltüren auf der einen Seite die männlichen, auf der anderen die weiblichen lachenden Gesichter des Hausgesindes, das herbeigelaufen war, um seinen lustigen Herrn tanzen zu sehen.
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