»Heute nacht, nicht später«, sagte er ruhig und mit einem höflichen Lächeln, zufrieden mit sich selber, daß er so klar die Lage des Kranken erkennen und bestimmen konnte, und ging hinaus.
Inzwischen hatte Fürst Wassilij die Tür zum Zimmer der Prinzessin geöffnet.
Hier war es halbdunkel. Nur zwei Lämpchen brannten vor den Heiligenbildern, und es roch gut nach Weihrauch und Blumen. Das ganze Zimmer war mit kleinen Möbeln ausgestattet: Chiffonieren[38], Schränkchen und Tischchen. Hinter einem Bettschirm waren die weißen Decken des hohen Daunenbettes zu sehen. Ein Hündchen fing an zu bellen.
»Ah, Sie sind es, mon cousin?«
Die Prinzessin erhob sich und strich sich übers Haar, das bei ihr stets, sogar auch jetzt, ungewöhnlich glatt war, als ob es mit dem Kopf zusammen aus einem Stück gemacht und dann anlackiert wäre.
»Wie? Es ist doch nichts passiert?« fragte sie, »ich bin so erschrocken.«
»Nein, immer dasselbe. Ich bin nur hier hergekommen, um mit dir, Catiche, über eine Sache zu sprechen«, sagte der Fürst und ließ sich müde in den Sessel nieder, von dem sie soeben aufgestanden war. »Wie warm du ihn gesessen hast«, sagte er, »komm, setze dich, wir wollen miteinander reden.«
»Ich fürchtete schon, es sei etwas passiert«, sagte die Prinin mit ihrem unveränderlich steinernstrengen Ausdruck und setzte sich, um zuzuhören, dem Fürsten gegenüber. »Ich wollte ein bißchen schlafen, mon cousin, aber ich konnte nicht.«
»Nun, wie ist es, meine Liebe?« fragte Fürst Wassilij, indem er ihre Hand nahm und sie, wie er immer tat, nach unten zog.
Es war klar, daß sich dieses »Nun, wie ist es?« auf vieles beziehen konnte, was beide verstanden, ohne es zu nennen.
Die Prinzessin hielt ihren hageren Oberkörper, der im Verhältnis zu den Beinen unförmig lang erschien, steif aufrecht und sah den Fürsten mit ihren hervorstehenden grauen Augen offen und gleichgültig an. Sie wiegte den Kopf hin und her und warf dann seufzend einen Blick auf das Heiligenbild. Man konnte diese Geste sowohl für einen Ausdruck der Trauer und Ergebenheit als auch für ein Zeichen der Ermüdung und Hoffnung auf baldige Ruhe halten. Fürst Wassilij faßte sie als Äußerung ihrer Müdigkeit auf.
»Glaubst du denn«, sagte er, »daß es mir leichter ist? Je suis éreinté comme un cheval de poste. Und doch muß ich noch mit dir sprechen, Catiche, und zwar sehr ernsthaft.«
Fürst Wassilij schwieg, und ein nervöses Zucken lief ihm bald über die eine, bald über die andere Wange, was seinen Zügen einen unangenehmen Ausdruck verlieh, den er sonst, wenn er einen Salon betrat, niemals zu zeigen pflegte. Auch seine Augen waren nicht so wie immer. Bald blickten sie herausfordernd lustig, bald sahen sie sich ängstlich um.
Die Prinzessin hielt in ihren hageren, dünnen Armen auf ihren Knien das Hündchen und sah aufmerksam dem Fürsten Wassilij in die Augen. Man merkte ihr an, daß sie das Schweigen durch keine Frage zu unterbrechen beabsichtigte, und wenn sie bis zum nächsten Morgen hätte warten müssen.
»Ja, sehen Sie, meine liebe Prinzessin und Cousine Katerina Semjonowna«, fuhr Fürst Wassilij fort, anscheinend nicht ohne inneren Kampf das Gespräch wieder aufnehmend, »in solchen Augenblicken wie jetzt muß man an alles denken, an die Zukunft, an euch … Ich liebe euch ja alle wie meine Kinder, das weißt du doch.«
Die Prinzessin sah ihn ebenso trübe und unbeweglich an wie vorher.
»Und dann muß ich doch auch an meine Familie denken«, fuhr Fürst Wassilij fort, ohne sie anzusehen, und stieß ärgerlich ein Tischchen beiseite, »du weißt, Catiche, daß ihr drei Schwestern Mamontow und meine Frau die alleinigen rechtmäßigen Erben des Grafen seid. Ich weiß, ich weiß, wie schwer es dir wird, über solche Sachen zu reden und daran zu denken, aber mir ist es auch nicht leichter. Doch, meine Freundin, ich bin jetzt in den Fünfzigern und muß mich auf alles gefaßt machen. Du weißt wohl, daß ich nach Pierre habe schicken müssen, daß der Graf direkt auf sein Porträt gezeigt und ihn zu sich bestellt hat?«
Fürst Wassilij sah fragend die Prinzessin an, konnte aber nicht erkennen, ob sie über das, was er zu ihr sagte, nachdachte oder ob sie ihn nur so anblickte.
»Ich bitte Gott ohne Unterlaß nur um das eine, Cousin«, antwortete sie, »daß Er sich seiner erbarmen und seine herrliche Seele ruhig dahinziehen lassen möge aus dieser …«
»Ja, ja«, fuhr Fürst Wassilij ungeduldig fort, indem er sich seine Glatze rieb und den fortgestoßenen Tisch wieder nervös an sich rückte, »aber schließlich … schließlich handelt es sich jetzt doch darum, das weißt du ja selbst, daß der Graf im vorigen Winter ein Testament gemacht hat, nach welchem er sein ganzes Hab und Gut Pierre hinterläßt, obwohl doch wir die rechtmäßigen Erben sind.«
»Er hat mehr als ein Testament geschrieben«, sagte ruhig die Prinzessin, »aber Pierre konnte er ja nichts vermachen, denn Pierre ist illegitim.«
»Meine Liebe«, fiel Fürst Wassilij plötzlich ein und drückte das Tischchen an sich; er wurde lebhafter und sprach schneller. »Wie aber, wenn der Graf ein Gesuch an den Kaiser gerichtet und ihn gebeten hat, Pierre adoptieren zu dürfen? Daß mit Rücksicht auf die Verdienste des Grafen seine Bitte respektiert werden wird, kannst du dir denken.«
Die Prinzessin lächelte wie jemand, der eine Sache besser zu verstehen glaubt als derjenige, der sie vorbringt.
»Ich werde dir noch mehr sagen«, fuhr Fürst Wassilij fort und griff nach ihrer Hand, »das Gesuch ist geschrieben worden, wenn auch noch nicht abgeschickt, und der Kaiser weiß bereits davon. Jetzt ist die Frage nur die: Ist es wieder vernichtet worden oder nicht? Wenn nicht, dann wird, sobald alles zu Ende ist«, – Fürst Wassilij seufzte auf und gab damit zu verstehen, was er unter den Worten »sobald alles zu Ende ist« verstand – »und man die Papiere des Grafen öffnet, das Testament dem Kaiser übergeben und sein Gesuch wahrscheinlich erfüllt werden. Dann wird Pierre als legitimer Sohn alles erhalten.«
»Und unser Erbteil?« fragte die Prinzessin und lächelte ironisch, als ob alles und jedes passieren könne, nur das nicht.
»Mais, ma pauvre Catiche, c’est clair comme le jour. Er ist dann der alleinige gesetzliche Erbe von allem, und ihr erhaltet dann auch nicht so viel. Du mußt doch wissen, meine Liebe, ob das Testament und das Gesuch geschrieben oder vernichtet worden sind? Und wenn man es irgendwie vergessen haben sollte, so mußt du doch wissen, wo die Papiere sind, und sie finden können, weil sonst …«
»Das fehlte gerade noch!« unterbrach ihn die Prinzessin und lächelte spöttisch, ohne den Ausdruck ihrer Augen zu verändern. »Ich bin nur eine Frau, und nach Männeransicht sind wir ja alle dumm, aber so viel weiß ich gewiß, daß ein illegitimer Sohn nicht erben kann. Un bâtard«, fügte sie hinzu, und glaubte mit dieser Übersetzung dem Fürsten beweisen zu können, wie unbegründet seine Furcht sei.
»Wie kannst du bloß das nicht verstehen, Catiche, du bist doch sonst so klug! Wie kannst du bloß das nicht verstehen: Wenn der Graf eine Eingabe an den Kaiser gerichtet hat, in der er ihn bittet, seinen Sohn als legitim anzuerkennen, so wird er eben nicht mehr Pierre sein, sondern Graf Besuchow, und dem Testament gemäß alles erhalten. Und wenn das Testament und die Eingabe nicht vernichtet sind, dann wird dir selber außer dem Trost, tugendhaft gewesen zu sein et tout ce qui s’en suit, weiter nichts verbleiben. Das ist doch klar.«
»Ich weiß, daß das Testament geschrieben ist, weiß aber auch, daß es nicht gültig ist. Sie aber halten mich, scheint es, für eine vollständige Närrin, lieber Vetter«, sagte die Prinzessin mit einer Miene, die Frauen aufsetzen, wenn sie etwas Witziges und Beleidigendes gesagt zu haben glauben.
»Meine liebe Prinzessin Katerina Semjonowna«, fuhr ungeduldig Fürst Wassilij fort, »ich bin nicht hergekommen, um mich mit dir zu zanken, sondern um mit dir als meiner Verwandten, einer lieben, guten, aufrichtigen Verwandten, über deine Interessen zu sprechen. Ich sage es dir nun zum zehntenmaclass="underline" Wenn sich das Gesuch an den Kaiser und das Testament zugunsten Pierres in den Papieren des Grafen finden, dann bist du, mein Liebling, mit deinen Schwestern eben nicht der Erbe. Wenn du es mir nicht glauben willst, dann glaube wenigstens kundigen Leuten: Ich habe soeben mit Dmitrij Onufrutsch gesprochen« – das war der Rechtsanwalt des Hauses –, »er sagt genau dasselbe.«