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Pierre kannte dieses große, ganz mit persischen Teppichen ausgeschlagene Zimmer recht gut, das durch Säulen und einen Bogen in zwei Hälften geteilt war. Der Teil hinter den Säulen, wo auf der einen Seite unter seidenen Vorhängen das hohe Bett aus rotem Holz[39] und auf der anderen Seite ein riesiger Schrein mit Heiligenbildern stand, war wie eine Kirche während des Abendgottesdienstes rot und grell erleuchtet. Unter dem deutlich sich abhebenden Schnitzwerk des Schreins stand ein großer Voltairesessel[40], der ganz mit schneeweißen, unzerdrückten, anscheinend eben erst gewechselten Kissen belegt war. Auf diesem Stuhl lag, bis zur Brust mit einer grellgrünen Decke zugedeckt, die Pierre so wohlbekannte mächtige Gestalt seines Vaters, des Grafen Besuchow, mit der grauen, löwenähnlichen Mähne über der breiten Stirn und den tiefen, edeln, charakteristischen Falten auf dem schönen rotgelben Gesicht. Er lag direkt unter den Heiligenbildern. Seine starken, mächtigen Hände, die man von unten hervorgezogen hatte, ruhten auf der Decke. In die Rechte, die mit der Handfläche nach unten lag, hatte man ihm zwischen Daumen und Zeigefinger eine Wachskerze gesteckt, die ein alter Diener, sich über den Sessel niederbeugend, festhielt. Zu Häupten des Stuhles standen die Geistlichen in ihren prächtigen, glänzenden Gewändern, auf die im Nacken ihr langes Haar herniederwallte. Sie hielten brennende Kerzen in den Händen und verrichteten langsam und feierlich den Gottesdienst. Etwas hinter ihnen standen die zwei jüngeren Prinzessinnen, die ihre Taschentücher an die Augen drückten und vor ihnen die älteste, Catiche, mit böser und entschlossener Miene. Sie ließ die Heiligenbilder auch nicht einen Augenblick aus den Augen, als wollte sie allen damit sagen, daß sie es nicht verantworten könne, anderswohin zu blicken. Anna Michailowna stand in sanfter Trauer und mit einer allesverzeihenden Miene auf dem Gesicht neben der unbekannten Dame an der Tür. Fürst Wassilij stand an der anderen Seite der Tür, nicht weit von dem Sessel, hinter einem geschnitzten, samtbezogenen Stuhl, dessen Lehne er sich zugekehrt hatte. Er stützte die linke Hand mit der Kerze darauf, während er sich mit der rechten bekreuzigte, wobei er jedesmal, wenn er die Finger an die Stirn legte, nach oben blickte. Sein Gesicht zeigte ruhige Frömmigkeit und Ergebung in Gottes Willen und schien zu sagen: Wenn ihr diese meine Empfindungen nicht verseht, um so schlimmer für euch.
Hinter ihm standen der Adjutant, die Doktoren und die männliche Dienerschaft. Wie in der Kirche waren Männer und Frauen voneinander getrennt. Alles schwieg und bekreuzigte sich. Man hörte nur das Vorlesen der Gebete, den gedämpften, aber vollklingenden, tiefen Gesang und in den Augenblicken, wo alles still war, das Scharren der Füße und die Seufzer. Mit gewichtiger Miene, die zeigte, daß sie wußte, was sie tat, schritt Anna Michailowna durch das ganze Zimmer auf Pierre zu und drückte ihm eine Kerze in die Hand. Er steckte sie an, ganz abgelenkt durch die Beobachtungen über seine Umgebung, und bekreuzigte sich mit derselben Hand, in der er die Kerze hielt.
Die jüngste der Prinzessinnen, die rotbäckige, lachlustige Sophie mit dem Leberfleck, beobachtete ihn. Sie lächelte, verbarg ihr Gesicht hinter dem Taschentuch und sah lange nicht auf. Doch als sie Pierre dann wieder anblickte, mußte sie von neuem lachen. Sie fühlte anscheinend, daß sie ihn nicht, ohne lachen zu müssen, anblicken könne, vermochte es aber doch nicht über sich zu gewinnen, ihn nicht anzusehen, und trat deshalb, um jeder Versuchung aus dem Wege zu gehen, auf die andere Seite der Säulen.
Mitten im Gottesdienst schwiegen auf einmal die Stimmen der Geistlichen. Im Flüsterton sprachen sie untereinander, und der alte Diener, der dem Grafen die Hand hielt, stand auf und ging auf die Damen zu. Anna Michailowna trat vor, beugte sich über den Kranken und winkte hinter dessen Rücken Lorrain zu sich. Der französische Arzt stand ohne brennende Kerze da und hatte sich an die Säule gelehnt in jener ehrerbietigen Haltung eines Ausländers, die zeigt, daß er trotz des Glaubensunterschiedes den ganzen Ernst der sich vollziehenden heiligen Handlung versteht und diese billigt. Mit den unhörbaren Schritten eines Mannes, der in der Vollkraft seiner Jahre steht, trat er zu dem Kranken, nahm mit seinen kleinen weißen Fingern dessen freie Hand von der grünen Decke, fühlte, sich abwendend, den Puls und überlegte. Man reichte dem Kranken etwas zu trinken. Alles um ihn herum kam in Bewegung, dann aber traten alle wieder an ihre Plätze, und der Gottesdienst begann von neuem.
Während dieser ersten Unterbrechung bemerkte Pierre, wie Fürst Wassilij mit derselben Miene, die da sagen sollte, daß er wohl wisse, was er tue, und daß es um so schlimmer für die anderen sei, wenn sie ihn nicht verstünden, hinter seinem Stuhl hervortrat, aber nicht zu dem Kranken, sondern an ihm vorbei zur ältesten Prinzessin hinging und sich mit ihr zusammen in den Hintergrund des Saales begab, wo das hohe Bett mit den Seidenvorhängen stand. Vom Bett fortgehend, verschwanden beide, der Fürst und die Prinzessin, durch die hintere Tür, kehrten aber vor der Beendigung des Gottesdienstes einer nach dem anderen wieder auf ihre Plätze zurück. Pierre beachtete diesen Umstand nicht mehr als alles übrige, da er sich ein für allemal gesagt hatte, daß alles, was sich heute abend vor ihm vollzöge, wohl unbedingt so vor sich gehen müsse.
Die Töne des Kirchengesanges waren verhallt, und man hörte nur noch die Stimme des Geistlichen, der dem Kranken ehrerbietig zur Entgegennahme des Sakramentes Glück wünschte. Der Sterbende lag immer noch ebenso leblos und unbeweglich da. Dann geriet alles um ihn herum in lebhafte Bewegung, man hörte Schritte und Flüstern, wobei Anna Michailownas Stimme besonders scharf hervorklang.
Pierre hörte, wie sie sagte: »Man muß ihn sofort auf das Bett hinübertragen. Hier kann er doch unmöglich bleiben.«
Darauf drängten sich die Ärzte, die Prinzessinnen und die Dienerschaft dicht um den Kranken, so daß Pierre den rotgelben Kopf mit der grauen Mähne nicht mehr sehen konnte, diesen grauen Kopf, den er während des ganzen Gottesdienstes nicht aus den Augen gelassen hatte, obwohl er ringsum doch auch noch andere Gesichter sah. Aus der vorsichtigen Bewegung der Leute, die den Sessel umringten, erriet Pierre, daß man den Sterbenden aufhob und hinübertrug.
»Halt dich an meiner Hand fest, sonst läßt du ihn fallen«, hörte er das erschrockene Flüstern eines der Diener.
»Von unten … noch einer«, riefen mehrere Stimmen auf einmal, und das schwere Atmen der Leute und Stampfen der Füße wurde schneller, als ob die Last, die sie trugen, über ihre Kräfte ginge.
Die Tragenden, unter ihnen auch Anna Michailowna, kamen an dem jungen Mann vorbei, und nun sah Pierre für einen Augenblick hinter den Rücken und Nacken der Diener die entblößte hohe, fleischige Brust des Kranken, seine mächtigen Schultern, die sie, ihn unter den Achseln haltend, in die Höhe hoben, und das graue, lockige Löwenhaupt. Dieser Kopf mit der ungewöhnlich breiten Stirn, den derben Backenknochen, dem schönen sinnlichen Mund und dem majestätischen, kalten Blick war durch die Nähe des Todes nicht entstellt. Er sah noch ebenso aus, wie Pierre ihn vor drei Monaten gesehen hatte, als er von ihm nach Petersburg geschickt worden war. Aber dieser Kopf schaukelte jetzt infolge der ungleichen Schritte der Diener ohnmächtig hin und her, und der kalte, teilnahmlose Blick wußte nicht, worauf er ruhen sollte.
Einige Minuten lang herrschte ein geschäftiges Treiben um das hohe Bett herum. Dann traten die Leute, die den Kranken getragen hatten, zurück. Anna Michailowna berührte Pierres Hand und sagte: »Venez!«
Pierre trat mit ihr an das Bett heran, auf das man den Kranken, anscheinend mit Rücksicht auf den Gottesdienst, in feierlicher Haltung hingelegt hatte. Der Kopf war durch Kissen hochgestützt, die Hände ruhten symmetrisch auf der grünen Seidendecke, mit den Handflächen nach unten. Pierre trat näher. Der Graf sah ihn starr an, aber mit einem Blick, dessen Sinn und Bedeutung kein Mensch verstehen konnte. Entweder sagte dieser Blick nichts anderes, als daß man doch eben irgendwohin sehen müsse, solange man noch Augen habe, oder er sagte sehr viel. Pierre blieb stehen und sah sich, da er nicht wußte, was er tun solle, fragend nach seiner Führerin, Anna Michailowna, um. Diese machte eine schnelle Bewegung mit den Augen auf die Hand des Kranken zu und bewegte dabei die Lippen, gleichsam wie zum Kusse. Pierre reckte angestrengt den Hals, um nicht die Decke zu berühren, und befolgte ihren Rat, indem er seinen Mund auf die breitknochige, fleischige Hand drückte. Aber weder die Hand noch ein Muskel im Gesicht des Grafen zuckte. Pierre wandte sich wieder Anna Michailowna zu, um sie zu fragen, was er nun tun solle. Sie zeigte mit den Augen auf einen Sessel, der neben dem Bett stand. Pierre setzte sich gelassen darauf und fuhr fort, mit den Augen zu fragen, ob er auch alles getan habe, was nötig war. Anna Michailowna nickte beifällig. Pierre nahm wieder die symmetrisch naive Haltung einer ägyptischen Statue ein. Es tat ihm offenbar leid, daß sein plumper, großer Körper soviel Raum brauchte, und er nahm alle seine Kräfte zusammen, um möglichst klein zu erscheinen. Sein Blick war auf den Grafen gerichtet. Dieser sah immer noch nach der Stelle hin, wo Pierres Gesicht gewesen war, während er gestanden hatte. Anna Michailowna drückte durch ihre Haltung aus, daß sie sich des rührenden Ernstes dieser letzten Minuten im Wiedersehen zwischen Vater und Sohn bewußt war. Zwei Minuten vergingen, die Pierre wie Stunden vorkamen. Plötzlich fingen die mächtigen Muskeln und Falten im Gesicht des Grafen zu zucken an. Dieses Zucken wurde stärker, der edle Mund verzog sich, und erst jetzt begriff Pierre, wie nah sein Vater dem Tode war. Dem verzerrten Mund entrang sich ein undeutlicher heiserer Laut. Anna Michailowna sah dem Kranken gespannt in die Augen und bemühte sich, zu erraten, was er wolle, wobei sie bald auf Pierre, bald auf das Getränk zeigte, bald flüsternd mit fragender Miene den Fürsten Wassilij nannte und schließlich auf die Decke zeigte. In den Augen und auf dem Gesicht des Kranken prägte sich ein Ausdruck der Ungeduld aus. Er machte eine letzte Anstrengung, um den Diener anzusehen, der nicht fortgegangen war und noch immer am Kopfende des Bettes stand.