»Der Herr Graf möchten auf die andere Seite umgelegt werden«, flüsterte der Diener und stand auf, um den schweren Körper des Grafen auf die andere Seite zu drehen, so daß das Gesicht gegen die Wand zu liegen kam.
Pierre erhob sich, um dem Diener zu helfen. Während man den Grafen umlegte, fiel der eine Arm des Kranken hilflos zurück, und der Sterbende machte eine vergebliche Anstrengung, ihn herüberzuziehen. Hatte der Graf jenen Angstblick gesehen, mit dem Pierre seinen leblosen Arm ansah, oder war irgendein anderer Gedanke in seinem sterbenden Kopf aufgeblitzt? Jedenfalls blickte er seinen widerspenstigen Arm an, dann den ängstlichen Ausdruck in Pierres Gesicht, dann wieder seinen Arm und ein schwaches Dulderlächeln, das gar nicht zu seinen Zügen paßte, erschien auf seinem Gesicht und drückte etwas wie Spott über seine eigene Hilflosigkeit aus. Pierre fühlte beim Anblick dieses Lächelns unvermutet ein Zucken in der Brust, ein Zwicken in der Nase, und Tränen umflorten seinen Blick. Man legte den Kranken auf die andere Seite nach der Wand zu. Er seufzte.
»Il est assoupi«, sagte Anna Michailowna, als sie die Prinzessin erblickte, die zur Ablösung herankam. »Allons.«
Pierre ging hinaus.
24
Im Empfangszimmer war niemand mehr außer dem Fürsten Wassilij und der ältesten Prinzessin, die unter dem Porträt Katharinas saßen und lebhaft miteinander sprachen. Sobald sie Pierre mit seiner Führerin erblickten, schwiegen sie. Die Prinzessin versteckte etwas, wie es Pierre schien, und sagte flüsternd:
»Ich kann dieses Weib nicht sehen!«
»Catiche a fait donner du thé dans le petit salon«, sagte Fürst Wassilij zu Anna Michailowna. »Allez ma pauvre Anna Michailowna, prenez quelque chose, autrement vous ne suffirez pas.«
Zu Pierre sagte er nichts, sondern drückte ihm nur mitfühlend den Arm unterhalb der Schulter. Pierre und Anna Michailowna gingen in den kleinen Salon.
»Il n’y a rien qui restaure comme une tasse de cet excellent thé russe après une nuit blanche«, sagte Lorrain mit einem Ausdruck gedämpfter Lebhaftigkeit und schlürfte den Tee aus einer dünnen chinesischen Schale. Er stand in dem kleinen runden Salon vor dem Tisch, auf den man das Teegerät und das kalte Abendbrot gestellt hatte. Um diesen Tisch hatten sich alle, die die letzte Nacht im Hause des Grafen Besuchow gewesen waren, versammelt, um sich ein wenig zu stärken. Pierre erinnerte sich recht gut an diesen kleinen runden Salon mit den vielen Spiegeln und kleinen Tischen. Während der Bälle im Hause hatte er, weil er nicht tanzen konnte, gern in diesem kleinen Spiegelzimmer gesessen und beobachtet, wie sich die Damen in ihren Balltoiletten, mit Brillanten und Perlen an den bloßen Schultern, im Vorübergehen stets in den hell erleuchteten Spiegeln betrachtet hatten, die ihre Gestalten immer wieder zurückwarfen. Jetzt war dieses selbe Zimmer durch zwei Kerzen nur notdürftig erhellt, und mitten in der Nacht standen hier auf einem dieser kleinen Tischchen Teegerät und Schüsseln unordentlich herum, und allerlei Leute in nicht festlicher Kleidung saßen hier zusammen, unterhielten sich flüsternd und zeigten durch jede Bewegung, durch jedes Wort, daß keiner vergaß, was sich dort im Schlafzimmer vollzog oder vollziehen würde. Pierre aß nichts, obwohl er sehr hungrig war. Er blickte sich fragend nach seiner Führerin um und sah, daß sie auf den Fußspitzen wieder in das Empfangszimmer hinausging, wo Fürst Wassilij mit der ältesten Prinzessin zurückgeblieben war. Pierre vermutete, daß auch das so sein müsse, und folgte ihr nach einigem Zögern. Anna Michailowna stand neben der Prinzessin, und beide sprachen erregt flüsternd gleichzeitig aufeinander ein.
»Überlassen Sie es mir, Fürstin, selbst zu beurteilen, was ich tun muß und was ich nicht darf«, sagte die Prinzessin, die sich anscheinend immer noch in demselben erregten Zustand befand wie vorhin, als sie die Tür zu ihrem Zimmer zugeschlagen hatte.
»Aber liebe Prinzessin«, erwiderte Anna Michailowna sanft und überzeugend, wobei sie der Prinzessin den Weg in das Schlafzimmer vertrat und sie dort nicht hineinließ. »Wird es für den armen Onkel nicht zu schwer sein, in diesen Minuten, wo er Ruhe braucht? In solchen Augenblicken ein Gespräch über weltliche Dinge? Wenn die Seele schon vorbereitet ist …«
Fürst Wassilij saß auf einem Sessel in seiner gewöhnlichen familiären Haltung und hatte ein Bein hoch über das andere geschlagen. Seine Wangen zuckten heftig und waren herabgesunken, so daß sie unten dicker zu sein schienen. Doch gab er sich den Anschein, als ob ihn das Gespräch der beiden Damen nicht interessiere.
»Voyons ma bonne Anna Michailowna, laissez faire Catiche. Sie wissen, wie lieb sie der Graf hat.«
»Ich weiß gar nicht, was in diesem Papier steht«, sagte die Prinzessin zu Fürst Wassilij und zeigte auf das Mosaikportefeuille, das sie in der Hand hielt. »Ich weiß nur, daß das richtige Testament von ihm in seinem Schreibtisch liegt. Dies hier ist ein ganz vergessenes Dokument …«
Sie wollte um Anna Michailowna herumgehen, aber diese sprang vor und versperrte ihr wieder den Weg.
»Das weiß ich, liebe, gute Prinzessin«, sagte Anna Michailowna und packte mit ihrer Hand das Portefeuille, und zwar so fest, daß man merken konnte, sie werde es sobald nicht wieder loslassen. »Liebe Prinzessin, ich bitte Sie, ich flehe Sie an, haben Sie Mitleid mit ihm. Je vous en conjure …«
Die Prinzessin schwieg. Nur das Geräusch eines angestrengten Kampfes um das Portefeuille war zu hören. Wenn die Prinzessin Worte gebraucht hätte, würde sie nichts Schmeichelhaftes für Anna Michailowna gesagt haben, das sah man ihr an. Anna Michailowna ließ das Portefeuille nicht los, aber ihr Stimme behielt den süßen, schleppenden und weichen Ton.