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Am Morgen des Tages, an dem das junge Paar ankommen sollte, ging Prinzessin Marja wie gewöhnlich zu der für den Unterricht festgesetzten Stunde in das Geschäftszimmer zur Morgenbegrüßung. Mit Bangen bekreuzigte sie sich und sprach still ein Gebet. Jeden Tag ging sie hinein, und jeden Tag betete sie, daß diese tägliche Begrüßung gut ablaufen möge.

Der alte gepuderte Diener, der im Vorzimmer saß, erhob sich leise und meldete flüsternd: »Bitte einzutreten.«

Hinter der Tür hörte man die gleichmäßigen Laute der Drehscheibe. Die Prinzessin zog schüchtern an der sich leicht und glatt öffnenden Tür und blieb am Eingang stehen. Der Fürst arbeitete an der Drehbank, sah sich um und setzte seine Arbeit fort.

Das riesige Arbeitszimmer war mit lauter Sachen angefüllt, die augenscheinlich dauernd gebraucht wurden. Ein großer Tisch, auf dem Bücher und Pläne lagen, hohe, gläserne Bücherschränke mit Schlüsseln an den Türen, ein hoher Stehschreibtisch, auf dem ein aufgeschlagenes Heft lag, eine Drechselbank mit dem dazugehörenden Handwerkszeug, daneben verstreute Späne – alles das deutete auf ständige, mannigfaltige und ordentlich geregelte Tätigkeit. In den Bewegungen des kleinen Fußes, der in einem silberbestickten Tatarenstiefel steckte, und an dem festen Anlegen der sehnigen, dürren Hand konnte man merken, daß in dem Fürsten noch die widerstandsfähige, zähe Kraft eines frischen Greisenalters steckte. Er ließ die Drehbank noch einige Umdrehungen machen, nahm dann den Fuß vom Pedal, rieb den Stahl ab und warf ihn in eine neben der Drehbank angebrachte Tasche. Dann trat er an den Tisch und rief seine Tochter heran. Er segnete seine Kinder nie, sondern hielt ihr nur seine stachlige, heute noch nicht rasierte Wange hin und sagte dann, indem er sie streng, zugleich aber auch zärtlich aufmerksam musterte: »Gesund? Na, dann setz dich!« Dann nahm er ein Geometrieheft, das sie eigenhändig geschrieben hatte, und rückte mit dem Bein seinen Sessel heran.

»Für morgen«, sagte er, schlug schnell eine Seite auf und machte mit seinem harten Fingernagel von einem Paragraphen bis zum andern einen Strich. Die Prinzessin beugte sich nach dem Tisch hin über das Heft.

»Halt! Da ist noch ein Brief für dich«, sagte plötzlich der alte Herr, holte aus der über dem Tisch angebrachten Tasche einen Briefumschlag heraus, dessen Aufschrift von Frauenhand geschrieben war, und warf ihn auf den Tisch.

Beim Anblick dieses Briefes traten auf dem Gesicht der Prinzessin rote Flecken hervor. Sie ergriff ihn eilig und beugte sich über ihn.

»Von Héloise[43]?« fragte der Fürst und lächelte kühl, wobei er seine noch kräftigen, gelblichen Zähne zeigte.

»Ja, von Julie«, sagte die Prinzessin, blickte auf und lächelte schüchtern.

»Noch zwei Briefe lasse ich durch, den dritten lese ich«, erklärte der Fürst streng. »Verstanden, den dritten lese ich!«

»Lesen Sie doch auch schon diesen, mon père«, erwiderte die Prinzessin und reichte ihm, noch stärker errötend, den Brief hin.

»Den dritten, habe ich gesagt, den dritten«, rief der Fürst und stieß barsch den Brief zurück. Dann lehnte er sich mit den Armen auf den Tisch und rückte das Heft mit den geometrischen Zeichnungen näher zu sich heran.

»Nun, mein Fräulein«, begann der alte Herr, indem er sich über das Heft zu seiner Tochter beugte und eine Hand auf die Lehne des Sessels legte, auf dem die Prinzessin saß, so daß sie sich von allen Seiten von jenem ihr längst bekannten Tabaksduft und scharfen Hautgeruch, wie er alten Leuten eigen ist, umgeben fühlte. »Nun, mein Fräulein, diese Dreiecke sind einander ähnlich. Bitte sieh: Winkel ABC …«

Die Prinzessin blickte erschrocken die dicht vor ihr blitzenden Augen ihres Vaters an. Rote Flecken schillerten auf ihrem Gesicht, und man sah ihr an, daß sie nichts begriff und solche Angst hatte, daß schon diese allein sie daran hinderte, alle weiteren Erklärungen ihres Vaters zu verstehen, so klar diese auch sein mochten. War nun der Lehrer schuld, oder war es die Schülerin, jedenfalls wiederholte sich jeden Tag dasselbe: der Prinzessin wurde es dunkel vor den Augen, sie sah nichts und hörte nichts, sondern fühlte nur dicht neben sich das hagere Gesicht ihres strengen Vaters, seinen Atem, seinen Hautgeruch und dachte nur daran, wie sie möglichst schnell aus diesem Zimmer wieder herauskommen könne, um dann bei sich in aller Ruhe die Aufgabe zu überlegen. Der alte Herr geriet außer sich. Mit Gepolter rückte er auf seinem Sessel hin und her, gab sich zwar alle Mühe, nicht hitzig zu werden, geriet aber doch fast jedesmal in Wut, schimpfte und schleuderte auch manchmal das Heft auf den Boden.

Die Prinzessin hatte falsch geantwortet.

»Na, du bist doch auch zu dumm«, rief der Fürst, stieß das Heft fort und drehte sich um. Gleich darauf stand er auf, ging hin und her, berührte das Haar der Prinzessin mit seinen Händen und setzte sich dann wieder hin. Er rückte wieder näher heran und fuhr in seinen Erklärungen fort.

»So geht das nicht weiter, so geht das nicht weiter, Prinzessin«, sagte er, als die Prinzessin ihr Heft mit den Aufgaben genommen und zugemacht hatte und schon im Begriff war fortzugehen. »Die Mathematik ist etwas Großes, mein Fräulein, und ich will nicht haben, daß du ebenso dumm bleibst wie die andern jungen Damen. Wenn man Geduld hat, dann bekommt man auch Lust und Liebe zu einer Sache.« Er klopfte ihr mit der Hand auf die Backe. »Dann fliegt die Dummheit auch aus dem Kopf hinaus.«

Sie wollte gehen, er aber hielt sie mit einer Handbewegung zurück und nahm von dem hohen Tisch ein neues, noch nicht aufgeschnittenes Buch.

»Hier schickt dir deine Héloise noch einen ›Schlüssel der Geheimnisse‹[44]. Etwas Religiöses. Ich mische mich in niemandes Glauben. Durchgesehen habe ich es. Da nimm’s. Nun geh, geh.«

Er klopfte ihr auf die Schulter und schloß selbst hinter ihr die Tür.

Prinzessin Marja kehrte in ihr Zimmer zurück. Auf ihrem Gesicht lag jene traurige, verängstigte Miene, die sie selten verließ und ihr nicht schönes, krankhaftes Gesicht noch häßlicher machte. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, auf dem Miniaturporträts standen und Bücher und Hefte herumlagen. Die Prinzessin war ebenso unordentlich wie ihr Vater ordentlich war. Sie legte ihr Geometrieheft hin und öffnete ungeduldig den Brief. Der Brief war von ihrer besten Jugendfreundin. Es war jene Julie Karagina, die zum Namenstag bei den Rostows gewesen war. Julie schrieb auf französisch:

»Liebe, teure Freundin!

Wie ist es doch fürchterlich und schrecklich, voneinander getrennt zu sein. Wenn ich mir auch sage, daß Du die Hälfte meines Lebens und Glückes bist, und daß trotz der Entfernung, die uns trennt, unsere Herzen durch unlösliche Bande vereint sind, so lehnt sich mein Sinn doch gegen das Schicksal auf, und trotz der Vergnügungen und Zerstreuungen, die mich umgeben, kann ich doch nicht eine gewisse geheime Traurigkeit überwinden, die seit unserer Trennung schwer auf meiner Seele lastet. Warum können wir nicht mehr zusammensitzen wie diesen Sommer in Deinem großen Arbeitszimmer auf dem blauen Sofa, dem ›Sofa der freundschaftlichen Herzensergießungen‹? Warum kann ich nicht wie vor drei Monaten neue moralische Kräfte aus Deinem so milden, so ruhigen und so durchdringenden Blick schöpfen, aus diesem Blick, den ich so liebe, und den ich jetzt beim Schreiben vor mir zu sehen glaube!«

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43

von Héloise: Anspielung auf J. J. Rousseaus empfindsamen Briefroman »Julie, oder die Neue Héloise« (1761).

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44

Schlüssel der Geheimnisse: vermutlich das damals vor allem in Freimaurerkreisen verbreitete Buch Mystische Nächte oder Der Schlüssel zu den Geheimnissen des Wunderbaren des deutschen Erbauungsschriftstellers K. von Ekhartshausen (1752-1803).