Als Prinzessin Marja den Brief bis zu dieser Stelle gelesen hatte, seufzte sie auf und sah in den Spiegel, der rechts neben ihr stand. Der Spiegel zeigte ihr einen unschönen, schwachen Körper und ein mageres Gesicht. Die stets traurig blickenden Augen sahen sich jetzt besonders hoffnungslos im Spiegel an. Sie schmeichelt mir, dachte die Prinzessin, drehte sich um und las weiter.
Jedoch Julie schmeichelte ihrer Freundin keineswegs. Wirklich, die großen, tiefen und strahlenden Augen der Prinzessin, die bisweilen ganze Garben eines warmen Lichtes ausstrahlten, waren so schön, daß trotz der Häßlichkeit des ganzen Gesichts diese Augen oft anziehender wirkten als eigentliche Schönheit, Nur sah die Prinzessin diesen schönen Ausdruck ihrer Augen niemals, weil diese ihn bloß in solchen Augenblicken annahmen, wo sie gar nicht an sich selber dachte. Wie bei allen Leuten nahm ihr Gesicht einen gespannt unnatürlichen Ausdruck an, sobald sie in den Spiegel blickte. Sie las weiter:
»Ganz Moskau spricht nur vom Krieg. Einer meiner Brüder ist schon im Ausland, der andere steht bei der Garde, die gegen die Grenze marschiert. Unser lieber Kaiser hat Petersburg verlassen und will, wie man behauptet, sein kostbares Leben den Gefahren des Krieges aussetzen. Wolle Gott, daß dieses korsische Ungeheuer, das die Ruhe Europas stört, durch diesen Engel[45] zerschmettert werde, den der Allmächtige in seiner Barmherzigkeit uns zum Herrscher gegeben hat. Abgesehen von meinen Brüdern, hat mich dieser Krieg eines Freundes beraubt, der meinem Herzen am teuersten war. Ich spreche von dem jungen Nikolaj Rostow, der in seiner Begeisterung die Untätigkeit nicht hat ertragen können und die Universität verlassen hat, um in die Armee einzutreten. Jawohl, meine liebe Marie, ich gestehe es Dir, daß trotz seiner großen Jugend seine Abreise zur Armee ein großer Kummer für mich gewesen ist. Der junge Mann, von dem ich Dir in diesem Sommer erzählte, besitzt soviel Seelenadel und Jugendfrische, wie man sie nur selten in unserem Jahrhundert findet, wo wir unter zwanzigjährigen Greisen leben. Vor allem muß man ihn seiner Offenheit und seines Mutes wegen achten. Er ist so rein und so poetisch, daß meine Beziehungen zu ihm, so flüchtig sie auch waren, eine der süßesten Wonnen für mein armes Herz gewesen sind, das doch schon soviel gelitten hat. Ich werde Dir später einmal erzählen, wie wir voneinander Abschied genommen haben, und was dabei gesprochen wurde. Alles das ist noch zu frisch. Ach, liebe Freundin, Du bist glücklich zu preisen, daß Du diese Wonnen und diese brennenden Leiden nicht kennst, bist glücklich zu preisen, da ja die letzteren gewöhnlich stärker sind. Ich weiß sehr wohl, daß Graf Nikolaj zu jung ist, um für mich mehr als ein Freund werden zu können. Aber diese süße Freundschaft, diese so reinen und so poetischen Beziehungen sind für mich ein Herzensbedürfnis geworden. Doch sprechen wir nicht mehr davon.
Die große Tagesneuigkeit, die jetzt ganz Moskau beschäftigt, ist der Tod des Grafen Besuchow und seine Hinterlassenschaft, stelle Dir vor: Die drei Prinzessinnen haben nur sehr wenig erhalten und Fürst Wassilij gar nichts. Dafür hat Monsieur Pierre alles geerbt und ist außerdem als rechtmäßiger Sohn anerkannt worden. Er ist nun Graf Besuchow und Besitzer des größten Vermögens in ganz Rußland. Man behauptet, Fürst Wassilij habe in dieser ganzen Geschichte eine häßliche Rolle gespielt und sei ganz bestürzt nach Petersburg zurückgereist. Ich muß sagen, ich verstehe sehr wenig von allen diesen Testaments- und Erbschaftsangelegenheiten und weiß nur, daß dieser junge Mann, den wir alle nur ganz einfach unter dem Namen Monsieur Pierre kannten, jetzt ein Graf Besuchow und Besitzer eines der größten Vermögen in Rußland geworden ist. Es macht mir riesigen Spaß, zu beobachten, wie sich seitdem alle Mütter heiratsfähiger Töchter und diese Damen selbst in Ton und Benehmen ihm gegenüber, der mir übrigens stets als unbedeutender Mensch vorgekommen ist, verändert haben. Da es manchen Leuten schon seit zwei Jahren Vergnügen macht, mich mit jungen Männern zu verloben, die ich oft gar nicht kenne, so bin ich jetzt in der Heiratschronik von Moskau bereits eine Gräfin Besuchow. Aber du kannst Dir wohl denken, daß ich durchaus nicht darauf brenne, das zu werden. Und übrigens, was das Heiraten anbetrifft: Weißt Du, daß die ›Allerweltstante‹ Anna Michailowna unter dem Siegel größter Verschwiegenheit mir einen Heiratsplan für Dich anvertraut hat? Und zwar handelt es sich hierbei um keinen geringeren als den Sohn des Fürsten Wassilij, Anatol, den man durch die Heirat mit einer reichen und vornehmen Dame wieder in geregelte Verhältnisse bringen will. Und nun bist Du es, auf die die Wahl der Eltern gefallen ist. Ich weiß nicht, wie Du über die Sache denkst, doch hielt ich es für meine Pflicht, Dich davon zu benachrichtigen. Man sagt, er sei ein sehr schöner, aber auch sehr verdorbener Mensch. Das ist alles, was ich Dir über ihn sagen kann.
Doch jetzt genug von diesem Geschwätz. Ich schreibe schon mein zweites Blatt zu Ende, und Mama läßt mich zum Diner bei den Apraxins holen. Lies dieses mystische Buch, das ich dir mitschicke, es erregte bei uns riesiges Aufsehen. Zwar stehen Sachen darin, die für unser schwaches menschliches Begriffsvermögen zu hoch sind, aber es ist doch ein wunderbares Buch, dessen Lektüre die Seele erhebt. Leb wohl! Bitte, mich Deinem Herrn Vater zu empfehlen, und viele Grüße an Mademoiselle Bourienne. Ich umarme Dich in herzlicher Liebe.
Deine Julie
P.S. Schreibe mir bitte, wie es Deinem Bruder und seiner reizenden kleinen Frau geht.«
Die Prinzessin dachte eine Weile nach und lächelte in Gedanken versunken, wobei sich ihr Gesicht, das von den strahlenden Augen erleuchtet wurde, vollständig verwandelte. Plötzlich erhob sie sich und ging mit schweren Schritten zum Tisch. Sie nahm Papier und Feder und fing schnell an zu schreiben. Sie beantwortete den Brief auf französisch wie folgt:
»Liebe, teure Freundin!
Dein Brief vom 13. hat mir große Freude bereitet. Du liebst mich also immer noch, meine poetische Julia. Die Trennung, von der Du soviel Böses sagst, hat also auf Dich nicht ihren gewöhnlichen Einfluß ausgeübt. Du klagst über diese Trennung – was soll ich da aber erst sagen (wenn ich es überhaupt wagen würde, mich zu beklagen), ich, die ich aller derjenigen beraubt bin, die mir lieb und teuer sind? Ach, wenn wir nicht die Religion als Trösterin hätten, dann wäre das Leben doch sehr traurig.
Warum denkst Du, daß ich Deine Zuneigung zu dem jungen Mann, von dem Du mir schreibst, streng beurteilen würde? In dieser Beziehung bin ich nur gegen mich selber streng. Ich verstehe diese Gefühle bei anderen, und wenn ich sie auch nicht zu billigen vermag, so kann ich sie doch nicht verurteilen, da ich sie ja nie selbst empfunden habe. Es scheint mir jedoch, daß die christliche Liebe, die Nächstenliebe, die Liebe zu unseren Feinden, viel verdienstvoller, viel süßer und viel schöner ist als die Gefühle, die die schönen Augen eines jungen Mannes in einem jungen, poetischen und liebenden Mädchen, wie Du es bist, hervorrufen können.
Die Nachricht vom Tode des Grafen Besuchow hatte uns bereits vor Deinem Brief erreicht, und mein Vater war tief erschüttert. Er sagte, der Graf sei der vorletzte Repräsentant des großen Jahrhunderts gewesen, und nun sei die Reihe zu sterben an ihm. Aber er werde alles tun, was nur in seiner Macht stehe, um möglichst spät dranzukommen. Gott behüte uns vor diesem schrecklichen Unglück!
45