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»Das ist wohl Marie, die da übt? Wir wollen leise gehen, um sie zu überraschen.«

Fürst Andrej folgte ihr mit höflicher, aber trauriger Miene.

»Du bist alt geworden, Tichon«, sagte er im Vorbeigehen zu dem Alten, der ihm die Hand küßte.

Aus dem Zimmer, aus dem das Klavierspiel zu hören war, kam durch eine Seitentür die hübsche blonde Französin gesprungen. Mademoiselle Bourienne schien vor Entzücken ganz außer sich zu sein.

»Ah quel bonheur pour la princesse«, begann sie. »Enfin! Il faut que je la prévienne.«

»Non, non, de grâce … Vous êtes Mademoiselle Bourienne, je vous connais déjà par l’amitié que vous porte ma belle-sœur«, sagte die Fürstin und küßte die Französin.

»Elle ne nous attend pas?«

Sie gingen zur Tür des Sofazimmers, aus dem ein und dieselbe Passage immer wieder zu hören war. Fürst Andrej blieb stehen und zog die Stirne kraus, als erwarte er etwas Unangenehmes.

Die Fürstin trat in das Zimmer. Die Passage wurde mitten im Spiel abgebrochen. Man hörte einen Schrei, die schweren Schritte Prinzessin Marjas und dann gegenseitiges Küssen. Als der Fürst eintrat, hielten sich die Prinzessin und die Fürstin, die sich nur einmal für kurze Zeit auf der Hochzeit des Fürsten Andrej gesehen hatten, in den Armen und drückten ihre Lippen auf die Gesichtsstellen, die sie im ersten Augenblick gerade getroffen hatten. Mademoiselle Bourienne stand neben ihnen und preßte mit seligem Lächeln ihre Hand aufs Herz, anscheinend ebenso bereit zum Weinen wie zum Lachen. Fürst Andrej zuckte die Schultern und zog die Stirn kraus wie ein Musikliebhaber, der eine falsche Note hört. Die beiden Frauen ließen einander los, nahmen sich dann, als fürchteten sie, etwas zu versäumen, wieder bei der Hand, küßten sich, rissen wieder die Hände los, küßten sich von neuem ins Gesicht, fingen dann, ganz unerwartet für Fürst Andrej, plötzlich beide zu weinen an und küßten sich immer wieder. Mademoiselle Bourienne weinte ebenfalls. Fürst Andrej fühlte sich sichtlich unbehaglich. Doch für die beiden Frauen schien es etwas ganz Natürliches zu sein, daß sie weinten. Anscheinend konnten sie sich ein solches Wiedersehen gar nicht anders denken.

»Ah, chère! … Ah, Marie«, sagten plötzlich beide Frauen zugleich und lachten. »J’ai rêvé cette nuit …«

»Vous ne nous attendiez donc pas … Ah, Marie, vous avez maigri …«

»Et vous avez repris.«

»J’ai tout de suite reconnu madame la princesse«, fiel Mademoiselle Bourienne ein.

»Et moi qui ne me doutais pas!« rief Prinzessin Marja. »Ah, André, je ne vous voyais pas.«

Fürst Andrej küßte seine Schwester, indem er sie bei der Hand faßte, und sagte ihr, daß sie immer noch dieselbe Heulsuse sei wie früher. Die Prinzessin sah ihren Bruder an, und der liebe, warme und sanfte Blick ihrer großen, strahlenden und in diesem Augenblick schönen Augen blieb durch ihre Tränen hindurch auf dem Gesicht des Fürsten Andrej haften.

Die kleine Fürstin schwatzte ununterbrochen. Die kurze Oberlippe mit dem Schnurrbärtchen senkte sich einen kurzen Augenblick herab, berührte unversehens die rote Unterlippe, und dann öffnete sich wieder ihr Mund zu einem Lächeln, wobei Augen und Zähne glänzten. Sie erzählte von einem Unfall, der ihnen auf dem Heilandsberg zugestoßen war, und der für ihren Zustand hätte gefährlich werden können. Ohne Atempause fuhr sie dann fort, daß sie alle ihre Kleider in Petersburg gelassen habe und hier in Gott weiß was für Fahnen herumgehen müsse, daß Andrej sich ganz verändert habe, daß Kitty Odynzowa jetzt mit einem alten Mann verheiratet sei, daß sich für Prinzessin Marja – Scherz beiseite – ein Freier gefunden habe, daß man aber darüber erst nachher sprechen wolle. Prinzessin Marja sah noch immer schweigend ihren Bruder an, und in ihren herrlichen Augen spiegelte sich Liebe und Traurigkeit wider. Es war ihr anzusehen, daß sie ihren eignen Gedanken nachhing, unbeirrt von dem Geplauder der jungen Frau. Mitten in einer Erzählung ihrer Schwägerin über das letzte Fest in Petersburg wandte sie sich an ihren Bruder.

»Und du gehst nun wirklich in den Krieg, Andrej?« sagte sie aufseufzend. Lise seufzte auch.

»Ja, und sogar schon morgen«, erwiderte ihr Bruder.

»Il m’abandonne ici, et Dieu sait pourquoi, quand il aurait pu avoir l’avancement …«

Prinzessin Marja hörte sie nicht zu Ende an, sondern spann ihren Gedankenfaden weiter. Sie wandte sich an die junge Frau und zeigte mit ihren freundlichen Augen auf deren Leib: »Ist es bestimmt?« fragte sie.

Das Gesicht der Fürstin veränderte sich. Sie seufzte auf.

»Ja, bestimmt«, sagte sie, »ach, es ist ganz furchtbar …«

Lisas Lippe senkte sich herab. Sie näherte ihr Gesicht dem Antlitz ihrer Schwägerin und weinte wieder ganz unerwartet.

»Sie muß sich ausruhen«, sagte Fürst Andrej stirnrunzelnd, »nicht wahr, Lisa? Bringe sie in dein Zimmer, ich gehe indessen zum Vater. Wie geht es ihm, immer noch so wie früher?«

»Immer noch so wie früher; ich weiß nicht, wie du ihn finden wirst«, antwortete freudig die Prinzessin.

»Und immer noch alles um dieselbe Zeit? Und die Spaziergänge in den Alleen? Und die Drehbank?« fragte Fürst Andrej mit kaum merklichem Lächeln, das zeigte, daß er trotz all seiner Liebe und Verehrung für den Vater auch dessen Schwächen kannte.

»Alles noch um dieselbe Stunde, die Drehbank, die Mathematik und auch meine Geometriestunden«, antwortete Prinzessin Marja so freudig, als ob der Geometrieunterricht zu den schönsten Eindrücken ihres Lebens zählte.

Als die zwanzig Minuten verflossen und der Zeitpunkt herangekommen war, da der alte Fürst aufzustehen pflegte, rief Tichon den jungen Fürsten zu seinem Vater. Der Ankunft seines Sohnes zu Ehren ließ sich der alte Herr zu einer Ausnahme herbei: er erlaubte dem Sohn, in sein Zimmer zu kommen, während er sich zum Essen ankleidete. Der alte Fürst kleidete sich nach alter Mode: er trug einen Kaftan und eine gepuderte Perücke. Als Fürst Andrej – nicht mit jenem mürrischen Ausdruck und Benehmen, wie er sich in den Salons zu zeigen pflegte, sondern mit jenem lebhaften Gesicht wie damals, als er mit Pierre gesprochen hatte – in das Zimmer seines Vaters trat, saß der alte Herr, angetan mit einem Pudermantel, in seinem Ankleideraum auf einem breiten, mit Saffian bezogenen Sessel und hielt Tichon seinen Kopf hin.

»Ah, sieh da, der Krieger! Bonaparte also willst du bekämpfen?« sagte der alte Herr und schüttelte seinen gepuderten Kopf, soweit ihm das sein Zopf erlaubte, den Tichon in der Hand hielt. »Nimm ihn wenigstens tüchtig vor, sonst wird er auch uns bald zu seinen Untertanen zählen. Willkommen!« er hielt ihm seine Wange hin.

Der alte Herr befand sich wie immer, wenn er vor dem Essen geschlafen hatte, in guter Laune. Er vertrat die Ansicht, daß der Schlaf nach dem Essen silbern, der vor dem Essen aber golden sei. Heiter betrachtete er von der Seite unter seinen dichten herabhängenden Augenbrauen hervor seinen Sohn.

Fürst Andrej trat heran und küßte seinen Vater auf die Stelle des Gesichtes, die dieser hingehalten hatte. Er ging auf das Lieblingsthema seines Vaters – das Bespötteln der Offiziere von heute und besonders Bonapartes – nicht ein.

»Ich bin mit meiner Frau hergekommen, Vater, sie erwartet ein Kind«, sagte Fürst Andrej und verfolgte mit lebhaftem und respektvollem Blick jede Bewegung in den Gesichtszügen seines Vaters. »Wie geht es Ihnen?«

»Krank, mein Lieber, sind nur Dummköpfe und solche, die ausschweifend leben. Aber du kennst mich ja: von früh bis spät beschäftigt, enthaltsam und somit gesund.«

»Gott sei Dank«, sagte der Sohn lächelnd.

»Gott hat damit ganz und gar nichts zu tun. Aber erzähle«, fuhr er fort und kehrte zu seinem Steckenpferd zurück, »wie wollt ihr nun diesen Bonaparte bekämpfen? Die Deutschen haben es euch ja beigebracht, nach jener neuen Wissenschaft, dieser sogenannten Strategie!«

Fürst Andrej lächelte.

»Lassen Sie mich erst einmal zu mir selber kommen, Vater«, sagte er mit einem Lächeln, das besagte, daß die Schwächen seines Vaters ihn nicht daran hinderten, ihn zu achten und zu lieben. »Ich habe mich ja noch nicht einmal einquartiert.«