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Sie lobte sie, verlangte, daß der Sohn zu ihr hinfahre, äußerte den Wunsch, sie öfter zu sehen, bekam dabei aber immer schlechte Laune, wenn sie von ihr sprach.

Nikolaj sagte absichtlich kein Wort, wenn seine Mutter von der Prinzessin sprach, aber sein Schweigen reizte die Gräfin nur noch mehr.

»Sie ist ein prächtiges Mädchen von innerem Wert«, sagte sie, »du mußt ihren Besuch erwidern. Dann wirst du doch einmal Menschen sehen; denn mit uns, denke ich, mußt du dich langweilen.«

»Ich habe nicht das mindeste Verlangen danach, Mama.«

»Früher wolltest du immer gern Menschen sehen, und jetzt willst du es auf einmal nicht mehr. Ich verstehe dich wirklich nicht, mein Junge. Bald langweilst du dich, bald willst du plötzlich niemanden mehr sehen.«

»Aber ich habe doch gar nicht gesagt, daß ich mich langweile.«

»Ja, aber du hast selber gesagt, daß du sie nicht sehen willst. Sie ist ein sehr wertvolles Mädchen und hat dir immer gefallen, und jetzt auf einmal diese sonderbaren Ideen! Doch vor mir wird ja immer alles geheimgehalten.«

»Aber nicht das geringste, Mama.«

»Wenn ich dich noch um etwas Unangenehmes gebeten hätte, aber ich verlange doch von dir bloß, daß du einen Gegenbesuch machst. Ich glaube, das erfordert schon die Höflichkeit … Ich habe dich darum gebeten, werde mich aber von nun an in nichts mehr einmischen, wenn du Geheimnisse vor deiner Mutter hast.«

»Aber ich werde ja auch hingehen, wenn Sie es durchaus wollen.«

»Mir ist es einerlei, ich will es ja nur deinetwegen.«

Nikolaj seufzte, biß sich auf die Lippen, legte die Karten auf und suchte die Aufmerksamkeit seiner Mutter auf etwas anderes zu lenken.

Am folgenden, am dritten und am vierten Tag wiederholte sich dasselbe Gespräch.

Nach ihrem Besuch bei den Rostows und dem unerwartet kalten Empfang, der ihr von Nikolaj bereitet worden war, gestand sich Prinzessin Marja ein, daß sie recht gehabt hatte, als sie nicht zu den Rostows hatte gehen wollen.

Ich habe gar nichts anderes erwartet, sagte sie sich, ihren Stolz zu Hilfe rufend. Ich habe mit ihm nicht das geringste zu schaffen und wollte nur die alte Dame sehen, die immer so gut gegen mich war und der ich mich in vielem verpflichtet fühle.

Aber sie konnte sich mit diesen Erwägungen nicht zufrieden geben. Ein Gefühl, ähnlich dem der Reue, quälte sie, wenn sie an diesen Besuch dachte. Obgleich sie fest entschlossen war, die Rostows nie wieder zu besuchen und dies alles zu vergessen, befand sie sich dennoch ständig in einem Zustand, den sie sich nicht zu erklären vermochte. Und wenn sie sich fragte, was es nun eigentlich war, was sie immer quälte, so mußte sie sich eingestehen, daß es ihr Verhältnis zu Nikolaj war. Sein kalter, höflicher Ton entsprang nicht seinen Gefühlen für sie – das wußte sie –, sondern verbarg irgend etwas. Und dieses Etwas mußte sie aufklären, eher fand sie keine Ruhe, das fühlte sie.

Um die Mitte des Winters saß sie einmal im Schulzimmer und wohnte den Unterrichtsstunden ihres Neffen bei, als ihr Rostows Besuch gemeldet wurde. Fest entschlossen, ihr Geheimnis nicht preiszugeben und ihre Verwirrung nicht zu zeigen, rief sie Mademoiselle Bourienne und ging mit ihr zusammen ins Empfangszimmer.

Beim ersten Blick auf Nikolajs Gesicht erkannte sie, daß er nur gekommen war, um der Pflicht der Höflichkeit zu genügen, und faßte den festen Entschluß, denselben Ton beizubehalten, den er gegen sie anwenden werde.

Sie sprachen von der Gesundheit der Gräfin, von gemeinsamen Bekannten, von den letzten Kriegsneuigkeiten, und als die vom Anstand geforderten zehn Minuten um waren, nach denen sich der Gast erheben darf, stand Nikolaj auf und verabschiedete sich.

Die Prinzessin hatte mit Hilfe Mademoiselle Bouriennes das Gespräch sehr gut in Fluß gehalten, aber im letzten Augenblick, gerade als sich Nikolaj erhob, war sie des Redens über Dinge, an denen sie gar keinen Anteil nahm, so müde, und der Gedanke, warum ihr allein so wenig Freude im Leben beschieden war, beschäftigte sie so sehr, daß sie in einer Anwandlung von Zerstreutheit, die leuchtenden Augen starr vor sich hin gerichtet, unbeweglich sitzen blieb und gar nicht merkte, daß er aufgestanden war.

Nikolaj sah sie an, wollte sich aber den Anschein geben, als bemerke er ihre Zerstreutheit nicht, und sprach ein paar Worte mit Mademoiselle Bourienne. Dann blickte er wieder zur Prinzessin hinüber. Sie saß noch ebenso unbeweglich und mit einem Ausdruck des Kummers auf ihrem zarten Gesicht da. Sie tat ihm plötzlich leid, und eine dunkle Vorstellung, daß vielleicht er der Grund dieses Kummers war, der auf ihrem Gesicht zum Ausdruck kam, bemächtigte sich seiner. Er wollte ihr helfen, ihr etwas Angenehmes sagen, aber es fiel ihm nichts ein, was er ihr hätte sagen können.

»Leben Sie wohl, Prinzessin«, sagte er endlich.

Sie kam zu sich, wurde rot und seufzte tief.

»Ach, entschuldigen Sie«, entgegnete sie, wie aus einer Betäubung erwachend. »Sie wollen schon gehen, Graf? Nun, leben Sie wohl! Aber das Kissen für die Gräfin?«

»Warten Sie, ich werde es sogleich holen«, rief Mademoiselle Bourienne und lief aus dem Zimmer.

Beide schwiegen und sahen einander nur ab und zu an.

»Ja, Prinzessin«, fing Nikolaj endlich mit traurigem Lächeln an, »es scheint eine kurze Zeit und doch, wieviel Wasser ist seither den Berg hinuntergeflossen, seit wir uns in Bogutscharowo zum erstenmal sahen. Wie glaubten wir uns damals alle im Unglück, und doch gäbe ich viel darum, diese Zeit zurückrufen zu können … aber sie kommt nicht wieder.«

Die Prinzessin sah ihm mit ihrem leuchtenden Blick aufmerksam in die Augen, während er dies sagte. Es schien, als gebe sie sich Mühe, den geheimen Sinn dieser Worte zu verstehen, damit sie ihr über seine Gefühle gegen sie Aufschluß geben könnten.

»Ja, ja«, sagte sie. »Aber Sie brauchen nicht um Vergangenes zu trauern, Graf. Wie ich Ihr Leben jetzt verstehe, werden Sie auch daran immer mit Freuden zurückdenken können, weil die Selbstaufopferung, der sie jetzt Ihr Leben weihen …«

»Ich kann Ihr Lob nicht annehmen«, unterbrach er sie hastig. »Im Gegenteil, ich mache mir ständig Vorwürfe … Aber das ist keine interessanter, kein erfreulicher Gesprächsstoff.«

Und wieder nahm sein Blick den früheren trockenen und kalten Ausdruck an. Aber die Prinzessin sah in ihm nun wieder jenen Mann, den sie gekannt und geliebt hatte, und sprach nur noch mit diesem Mann.

»Ich dachte, Sie würden mir erlauben, Ihnen das zu sagen«, fuhr sie fort. »Ich bin Ihnen … Ihnen und Ihrer Familie so nahe gewesen, daß ich glaubte, Sie würden meine Teilnahme nicht für unangebracht halten, aber ich habe mich geirrt.« Ihre Stimme fing plötzlich an zu zittern. »Ich weiß nicht, warum«, fuhr sie fort, nachdem sie sich etwas gefaßt hatte, »aber Sie waren früher ganz anders und …«

»Für dieses Warum gibt es tausend Gründe.« Er betonte das Wort Warum ganz besonders. »Ich danke Ihnen, Prinzessin«, sagte er leise. »Es fällt mir manchmal schwer …«

Das ist es also! Das ist es also! sagte eine innere Stimme in Prinzessin Marjas Herzen. Nein, ich habe nicht nur diesen heiteren, guten und offenen Blick, nicht nur dieses hübsche Äußere an ihm geliebt, ich habe auch sein edles, festes, aufopferndes Herz erraten, sagte sie sich. Ja, er ist jetzt arm, ich aber bin reich … und nur deshalb … Und wenn das nicht wäre … Sie dachte an seine frühere Feinfühligkeit, sah in sein gutes, trauriges Gesicht und begriff auf einmal die Ursache seiner Kälte.

»Warum nur, Graf? Warum?« stieß sie plötzlich fast aufschreiend aus und trat unwillkürlich auf ihn zu. »Warum? Sagen Sie es mir. Sie müssen es mir sagen.« Er schwieg. »Ich kenne Ihre Gründe nicht, Graf«, fuhr sie fort. »Aber es bedrückt mich, es ist mir … Ich gestehe Ihnen das ein. Sie wollen mir aus irgendeinem Grund Ihre frühere Freundschaft entziehn. Das tut mir weh.« Ihr traten die Tränen in die Augen und in die Kehle. »Ich habe so wenig Glück im Leben gehabt, daß mich jeder Verlust schwer trifft … Entschuldigen Sie mich, leben Sie wohl.« Sie brach plötzlich in Tränen aus und lief aus dem Zimmer.