»Prinzessin! Bleiben Sie, um Gottes willen!« rief er und suchte sie zurückzuhalten. »Prinzessin!«
Sie wandte sich um. Einige Sekunden blickten sie einander stumm in die Augen, und was sie erst für so fern, so unmöglich angesehen hatten, wurde auf einmal etwas Näheres, Mögliches, auf das man mit Sicherheit hoffen durfte.
7
Im Herbst des Jahres 1814 heiratete Nikolaj Prinzessin Marja und siedelte mit seiner jungen Frau, seiner Mutter und Sonja nach LysyjaGory über.
Nach vier Jahren hatte er, ohne das Gut seiner Frau zu verkaufen, den Rest seiner Schulden bezahlt und, da ihm von einer verstorbenen Cousine eine kleine Erbschaft zugefallen war, auch Pierre das Geld zurückgeben können.
Nach ferneren zwei Jahren, im Jahre 1820, hatte Nikolaj seine Vermögensverhältnisse so weit gebessert, daß er ein kleines Gut bei Lysya-Gory hinzukaufen und Verhandlungen über den Rückkauf des väterlichen Gutes Otradnoje einleiten konnte, was immer ein Lieblingstraum von ihm gewesen war.
Der Not gehorchend hatte er angefangen, Landwirtschaft zu treiben, war aber bald von solcher Leidenschaft für diese Tätigkeit erfaßt worden, daß sie ihm zur geliebten und fast ausschließlichen Beschäftigung wurde. Nikolaj war ein einfacher Landwirt. Neuerungen, besonders die englischen, die damals Mode wurden, liebte er nicht. Über theoretische Abhandlungen machte er sich lustig. Auch von Fabriken, kostspieligen Betrieben, teuren Aussaaten hielt er nicht viel und gab sich überhaupt nicht gern mit nur einem Teil der Landwirtschaft im einzelnen ab. Er hatte immer nur das ganze Gut im Auge und nicht nur einen Ausschnitt davon. Auf dem Gut aber war für ihn die Hauptsache nicht der Stickstoff und Sauerstoff, der sich im Boden oder in der Luft befand, nicht ein besonderer Pflug oder Dünger, sondern das Hauptwerkzeug, durch das Stickstoff und Sauerstoff, Pflug und Dünger erst in Tätigkeit gesetzt werden: das heißt der Arbeiter, der Bauer.
Als sich Nikolaj mit der Landwirtschaft zu beschäftigen anfing und in ihre einzelnen Zweige einzudringen begann, fesselte der Bauer ganz besonders seine Aufmerksamkeit. Er erschien ihm nicht nur als Werkzeug, sondern auch als Zweck und als Richter. Von Anfang an beobachtete er den Bauern, bemühte sich zu verstehn, wessen er bedurfte und was er für gut und für schlecht hielt, und stellte sich nur so, als ob er Anordnungen träfe und Befehle erteilte, in Wirklichkeit aber lernte er nur von den Bauern aus ihren Handgriffen, ihren Reden und ihrem Urteil über das, was gut und was schlecht war. Und erst als er ihren Geschmack und ihr Streben verstanden und ihre Sprache sprechen und den geheimen Sinn ihrer Worte verstehen gelernt hatte, als er eine gewisse Verwandtschaft mit ihnen herausfühlte, erst dann begann er sie beherzt zu regieren, das heißt, er erfüllte seinen Bauern gegenüber gerade jene Pflicht, deren Erfüllung von ihm verlangt wurde. Und Nikolajs Wirtschaft trug die glänzendsten Früchte.
Als er die Verwaltung des Gutes in die Hand nahm, ernannte er sogleich, ohne dabei einen Fehlgriff zu tun, auf Grund einer gewissen Begabung, die Menschen zu durchschauen, zu Ältesten, Schulzen und Schreibern gerade diejenigen Leute, die die Bauern selber gewählt haben würden, wenn sie hätten wählen können, und seine Beamten wechselten niemals. Bevor er die chemischen Eigenschaften des Düngers untersuchte, bevor er sich mit Debet und Kredit abgab, wie er spöttisch zu sagen pflegte, unterrichtete er sich über den Viehstand seiner Bauern und suchte ihn mit allen nur möglichen Mitteln zu heben. Die Bauernfamilien unterstützte er in der großzügigsten Weise, erlaubte aber nicht, daß sie sich in verschiedene Zweige teilten. Die Faulen, Liederlichen und Schwachen verfolgte er und suchte sie aus der Gemeinde zu vertreiben.
Bei Saat und Ernte von Heu und Getreide kümmerte er sich ebenso um die Felder seiner Bauern wie um seine eigenen. Und bei wenigen Landwirten waren die Felder so rechtzeitig bestellt und so früh und mit solchem Ertrag abgeerntet wie bei Nikolaj.
Mit den Gutsleuten gab er sich nicht gern ab, nannte sie Krippenreiter, hielt sie zu locker und verwöhnte sie, wie alle sagten. Wenn über einen der Gutsleute verfügt werden sollte, und vor allem, wenn eine Strafe verhängt werden mußte, befand sich Nikolaj immer in solcher Unentschlossenheit, daß er das ganze Haus um Rat fragen mußte, und nur, wenn er einen Gutsknecht statt eines Bauern zu den Soldaten geben konnte, tat er dies, ohne einen Augenblick zu schwanken. Doch bei allen Anordnungen, die seine Bauern betrafen, regte sich bei ihm nie der geringste Zweifel. Alles, was er in dieser Hinsicht bestimmte – das wußte er –, würde bis auf eine oder einige wenige Stimmen den Beifall aller finden.
In gleicher Weise erlaubte er sich niemals, einen Mann mit Arbeit zu belasten oder zu bestrafen, nur weil ihm gerade der Sinn danach stand, wie er ebenso wenig jemand von Arbeit befreite oder belohnte, nur weil dies sein persönlicher Wunsch war. Er hätte nicht mit Worten sagen können, worin dieser Maßstab, was er tun und was er nicht tun mußte, eigentlich bestand, aber er trug ihn fest und unerschütterlich in seinem Herzen.
Oft, wenn ihm etwas quer gegangen war, oder wenn er eine Unordnung aufgedeckt hatte, pflegte er ärgerlich zu sagen: »Ja, mit diesem Volk hier in Rußland …« und bildete sich ein, er könne den Bauer nicht leiden.
Und doch liebte er mit der ganzen Kraft seines Herzens dieses »Volk hier in Rußland« und seine Lebensart, und nur deshalb verstand er diesen einzigen Weg und machte sich dieses einzige Verfahren, das gute Früchte tragen kann, zu eigen.
Prinzessin Marja war eifersüchtig auf diese Liebe ihres Mannes zu den Bauern, und es tat ihr leid, daß sie sie nicht teilen konnte. Aber sie hatte kein Verständnis für Freuden und Leiden, die ihm aus dieser ihr fernliegenden, fremden Welt erwuchsen. Sie konnte nicht begreifen, warum er immer so besonders angeregt und glücklich war, wenn er morgens zeitig aufgestanden war, den ganzen Vormittag auf dem Feld oder in der Scheune verbracht hatte, und dann von der Saat, vom Mähen oder von der Ernte zu ihr zum Tee heimkam. Sie begriff nicht, worüber er so entzückt war, wenn er mit Begeisterung von dem reichen, rührigen Bauern Matwjej Jermischin erzählte, der die ganze Nacht mit seiner Familie Garben eingefahren habe, so daß bei ihm nun schon die Scheune voll war, während noch bei keinem anderen das Getreide abgeerntet sei.
Sie begriff nicht, warum er vom Fenster auf den Balkon und vom Balkon wieder ans Fenster lief, vergnügt in seinen Schnurrbart hineinlächelte und mit den Augen blinkte, wenn auf die trockene Hafersaat ein warmer, feiner Regen fiel, oder wenn während der Erntezeit der Wind eine drohende Wolke verjagte, und er mit rotem, glühendem, schweißtriefendem Gesicht, den Duft von Wermut und Bitterwurz im Haar, von der Scheune herüberkam, sich vergnügt die Hände rieb und ausrief: »Na, noch ein einziger Tag mit solchem Wetterchen, und meine Bauern und ich haben alles herein!«
Und noch weniger konnte sie verstehen, warum er mit seinem guten Herzen, er, der immer bereit war, all ihren Wünschen zuvorzukommen, fast in Verzweiflung geriet, wenn sie ihm die Bitte um Arbeitsbefreiung irgendeines Weibes oder Bauern übermittelte, die sich an sie gewandt hatten, und warum er, der gute Nicolas, ihr dies stets hartnäckig abschlug und sie ärgerlich bat, sich nicht in seine Angelegenheiten zu mischen. Sie fühlte, daß er eine Welt für sich hatte, die er leidenschaftlich liebte, eine Welt, in der es Gesetze gab, die sie nicht begreifen konnte.
Und wenn sie dann manchmal in dem Bestreben, ihn zu verstehen, von dem Verdienst zu reden anfing, das er sich erwerbe, wenn er an seinen Untergebenen so viel Gutes tue, ärgerte er sich und antwortete: »Nicht im geringsten; daran denke ich überhaupt nicht. Zu ihrem Wohl tue ich nicht das mindeste. Das ist alles nur Phantasie und Weibergeschwätz, das mit dem Wohl des Nächsten. Ich will, daß meine Kinder einmal nicht zu betteln brauchen, will einen sicheren Grund zu unserem Vermögen legen, solange ich lebe, und weiter nichts. Und dazu brauche ich Ordnung, brauche Strenge … das ist alles!« sagte er und ballte seine Sanguinikerfaust. »Und Gerechtigkeit natürlich auch …«, fügte er hinzu, »denn wenn ein Bauer nackt und hungrig ist und nur einen einzigen Schinder besitzt, so kommt dabei weder für ihn selber noch für mich etwas heraus.«