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Natascha hatte im zeitigen Frühling des Jahres 1813 geheiratet und besaß im Jahre 1820 schon drei Töchter und einen Sohn, den sie sich brennend gewünscht hatte und jetzt selber nährte. Sie war voller und breiter geworden, so daß man in dieser kraftstrotzenden Mutter nur schwer die früher so schlanke, biegsame Natascha wiedererkennen konnte. Ihre Gesichtszüge waren bestimmter geworden und zeigten nun den Ausdruck ruhiger Milde und Klarheit. In ihren Zügen lag nicht mehr wie früher das ständig flackernde Feuer der Lebhaftigkeit, das ihr einen eignen Reiz verliehen hatte. Jetzt sah man an ihr meist nur das Gesicht und die Gestalt, aber von ihrer Seele war nichts mehr zu sehen. Man sah nur das starke, schöne und fruchtbare Weib. Das frühere Feuer flammte nur noch selten in ihr auf. Dies geschah nur dann, wenn, wie zum Beispiel jetzt, ihr Mann zurückkehrte oder wenn eins der Kinder wieder der Genesung entgegenging oder wenn sie sich mit Gräfin Marja an den Fürsten Andrej erinnerte – mit ihrem Mann sprach sie nie von ihm, da sie bei ihm Eifersucht auf das Andenken des Fürsten Andrej vermutete – und dann noch in jenen seltenen Fällen, wenn irgend etwas sie zufällig zum Singen verleitete, was sie seit ihrer Verheiratung nicht mehr oft getan hatte. Und in jenen seltenen Augenblicken, wenn das frühere Feuer wieder in ihrem nun erblühten, schönen Körper aufloderte, war sie noch anziehender als einst.

Seit ihrer Verheiratung lebte Natascha mit ihrem Mann bald in Moskau, bald in Petersburg, bald auf den Gütern bei Moskau, bald bei der Mutter, das heißt bei Nikolaj. In Gesellschaft sah man die junge Gräfin Besuchowa selten, und die sie einmal gesehen hatten, waren durchaus nicht von ihr begeistert. Sie war weder nett noch liebenswürdig. Nicht daß Natascha die Einsamkeit geliebt hätte, sie wußte nicht einmal, ob sie sie liebte oder nicht, und ihr schien sogar, daß dies nicht der Fall sei; aber sie konnte den Anforderungen, die das Tragen, Gebären und Nähren der Kinder und die stete Anteilnahme am Leben ihres Mannes an sie stellten, nicht anders gerecht werden, als indem sie der Welt entsagte. Alle, die Natascha vor ihrer Verheiratung gekannt hatten, wunderten sich über die mit ihr vorgegangene Veränderung wie über etwas Ungewöhnliches. Die alte Gräfin hingegen, die in ihrem Mutterinstinkt immer begriffen hatte, daß nur das Verlangen, einen Mann und eine Familie zu besitzen, der Grund zu Nataschas triebhaftem Ungestüm gewesen war, wie sie es einmal selbst weniger im Scherz als im vollen Ernst in Otradnoje ausgerufen hatte – die Mutter staunte wiederum über die Verwunderung der Leute, die Natascha nicht verstanden, und sagte immer wieder, sie habe stets gewußt, daß Natascha das Muster einer Frau und Mutter werden würde.

»Nur geht sie in ihrer Liebe zu ihrem Mann und ihren Kindern zu weit«, sagte die Gräfin, »so weit, daß es beinahe an Unvernunft grenzt.«

Natascha befolgte nicht jene goldene Regel, die von klugen Leuten, besonders von Franzosen, gepredigt wird: daß ein Mädchen, wenn es verheiratet ist, sich nicht gehen lassen und ihre Talente nicht vernachlässigen dürfe, daß sie sich noch mehr als früher mit ihrem Äußeren beschäftigen und ihren Mann ebenso anlocken solle wie zu der Zeit, als er noch nicht ihr Gatte war.

Im Gegenteil, Natascha hatte mit einem Schlag alle ihre Lockmittel von sich geworfen, in erster Linie das stärkste von allen: ihren Gesang. Und gerade deshalb gab sie ihn auf, weil er ein solches Lockmittel war. Sie kümmerte sich nicht um ihre Manieren, nicht um ihre Ausdrucksweise, strebte nicht danach, sich ihrem Mann in den vorteilhaftesten Stellungen zu zeigen, dachte nicht an ihre Toilette oder auch nur daran, ihrem Gatten nicht durch ihre Ansprüche lästig zu fallen. Sie tat gerade das Gegenteil dieser Regel. Sie fühlte, daß diese Künste, die sie der Instinkt früher anzuwenden gelehrt hatte, jetzt in den Augen ihres Mannes nur lächerlich wären, dem sie sich vom ersten Augenblick an ganz hingegeben hatte, das heißt mit ganzer Seele, so daß ihm auch nicht ein Winkelchen ihres Herzens verborgen war. Sie wußte, daß das Band, das sie mit ihrem Mann verknüpfte, nicht aus jenen poetischen Gefühlen bestand, die ihn zu ihr hingezogen hatten, sondern aus etwas anderem, das man nicht mit Worten erklären konnte, das aber doch so fest war wie das, was ihre eigne Seele an ihren Körper band.

Sich Locken zu brennen, elegante Kleider anzuziehen und Romanzen zu singen, um ihren Mann an sich zu fesseln, wäre ihr ebenso sonderbar vorgekommen, wie wenn sie sich geschmückt hätte, um von sich selber befriedigt zu sein. Sich selber zu schmücken, um anderen zu gefallen, hätte ihr vielleicht noch Spaß gemacht – sie wußte es nicht –, doch dazu hatte sie jetzt gar keine Zeit. Der Hauptgrund, warum sie sich nun weder mit Gesang noch mit ihrer Toilette noch mit wohlüberlegter Redeweise abgab, bestand eben darin, daß sie jetzt nicht mehr Zeit hatte, sich mit alledem zu beschäftigen.

Bekanntlich besitzt der Mensch die Fähigkeit, sich ganz in einen Gegenstand zu versenken, wie nichtig dieser auch scheinen mag. Und wie man weiß, gibt es keinen noch so nichtigen Gegenstand, der, wenn man alle Aufmerksamkeit auf ihn lenkt, nicht bis zur Unendlichkeit anwüchse.

Das, worin sich Natascha ganz versenkte, war die Familie, das heißt ihr Mann, den sie so festhalten wollte, daß er ihr und dem Haus ungeteilt angehörte, und dann ihre Kinder, die sie tragen, gebären, nähren und erziehen mußte.

Und je mehr sie, nicht mit dem Verstand, aber mit ihrer ganzen Seele und ihrem ganzen Sein, in dieses eine, das sie beschäftigte, eindrang, um so mehr wuchs dieses eine unter ihrer Aufmerksamkeit, und um so schwächer und nichtiger erschienen ihr die Kräfte, so daß sie sie alle nur zu dem einen Zweck anspannte und doch nicht alles scharfen konnte, was sie für notwendig hielt.

Streit und Erörterungen über Frauenrechte, über das Verhältnis der Ehegatten, über ihre Freiheit und Pflichten gab es damals ebenso wie heute, nur daß man sie zu der Zeit noch nicht »Fragen« nannte, aber alles dies fesselte Natascha nicht nur ganz und gar nicht, sondern sie hatte dafür entschieden überhaupt kein Verständnis.

Diese Fragen waren schon damals, wie auch jetzt noch, nur für jene Leute da, die in der Ehe nur den Genuß sehen, den die Gatten einander bereiten, das heißt nur die Grundlage der Ehe, nicht aber ihre ganze Bedeutung, die in der Familie besteht.

All diese Erörterungen und Fragen, die ebenso sind, als wollte man untersuchen, auf welche Weise man vom Mittagessen den größten Genuß erziele, hat es für alle die Menschen, die als Zweck des Mittagessens die Ernährung und als Zweck der Ehe die Familie betrachten, nie gegeben und gibt es in Wirklichkeit auch nicht.

Wenn der Zweck des Mittagessens die Ernährung des Körpers ist, so wird einer, der an einem Tag zweimal zu Mittag ißt, vielleicht den größeren Genuß haben, aber den eigentlichen Zweck wird er damit nicht erreichen, denn zwei Mahlzeiten auf einmal kann der Magen nicht verdauen.

Wenn der Zweck der Ehe die Familie ist, so wird einer, der viele Frauen, oder eine, die viele Männer besitzen möchte, vielleicht den größeren Genuß haben, aber beide werden es keinesfalls zu einer Familie bringen.

Ist also der Zweck des Mittagessens die Ernährung und der Zweck der Ehe die Familie, so findet die ganze Frage nur darin ihre Lösung, daß man nicht mehr essen darf, als der Magen verdauen kann, und nicht mehr Männer oder Frauen haben soll, als für die Familie nötig sind: also eine Frau oder einen Mann. Natascha mußte einen Mann haben. Dieser ward ihr zuteil. Er schenkte ihr eine Familie. Nach einem anderen, besseren Mann hatte sie nicht nur kein Verlangen, sondern konnte sich, da alle ihre Seelenkräfte nur darauf gerichtet waren, diesem Mann und ihrer Familie zu dienen, nicht einmal vorstellen, und hatte auch keinerlei Interesse daran, wie es anders sein könnte.

Natascha liebte Gesellschaften im allgemeinen nicht allzu sehr, um so mehr aber schätzte sie das Zusammensein mit ihren Angehörigen: mit der Gräfin Marja, ihrem Bruder, ihrer Mutter und Sonja. Sie liebte die Gesellschaft all derer, zu denen sie mit unfrisiertem Haar und im Schlafrock mit glücklichem Gesicht aus dem Kinderzimmer hinüberlaufen konnte, um ihnen eine Windel zu zeigen, die jetzt einen gelben Fleck statt eines grünen hatte, und von ihnen die tröstende Bestätigung zu hören, daß es dem Kindchen nun weit besser gehe.