Natascha ließ sich soweit gehen, daß ihr Anzug, ihre Frisur, ihre unüberlegt hingeworfenen Worte, ihre Eifersucht – sie war auf Sonja, auf die Gouvernante, kurz auf jedes hübsche oder häßliche weibliche Wesen eifersüchtig – für die, die ihr nahestanden, zum gewohnten Gegenstand der Neckerei geworden waren. Die allgemeine Ansicht ging dahin, daß Pierre unter dem Pantoffel seiner Frau stand, und es war auch wirklich so. Schon in den ersten Tagen ihrer Ehe hatte Natascha ihre Forderungen festgelegt. Pierre wunderte sich zwar über diese ihm völlig neuen Ansichten seiner Frau, daß jede Minute seines Lebens ihr und der Familie gehören solle, wunderte sich über ihre Ansprüche, fühlte sich aber dadurch geschmeichelt und fügte sich.
Pierres Untergebenheit bestand darin, daß er sich nicht nur nicht erlaubte, einer anderen Frau den Hof zu machen, sondern nicht einmal wagte, sich lächelnd mit einer anderen zu unterhalten, nicht wagte, ohne besondere Ursache, nur um die Zeit totzuschlagen, im Klub zu Mittag zu essen, nicht wagte, Geld für Spielereien auszugeben, nicht wagte, lang auf Reisen zu gehen, außer in Geschäften, zu denen seine Frau auch die Beschäftigung mit den Wissenschaften rechnete, von denen sie zwar nichts verstand, denen sie aber doch Wert zuschrieb. Zur Entschädigung hatte Pierre dafür das Recht, bei sich zu Hause nicht nur über sich selbst, sondern auch über die ganze Familie zu bestimmen, wie er wollte. Natascha hatte sich im Haus auf die Stufe einer Sklavin ihres Gatten gestellt, und das ganze Haus schlich auf den Fußspitzen, wenn Pierre in seinem Zimmer arbeitete, las oder schrieb. Er brauchte nur eine Vorliebe für etwas merken zu lassen, und sogleich wurde das, was er gern wollte, für immer so gehalten, brauchte nur einen Wunsch zu äußern, und Natascha sprang auf, um ihn zu erfüllen.
Das ganze Haus wurde von den vermeintlichen Befehlen des Hausherrn geleitet, in Wirklichkeit aber waren es nur Pierres Wünsche, die Natascha zu erraten suchte. Die Lebensweise, der Wohnort, die Bekannten, die Verbindungen, Nataschas Beschäftigung, die Erziehung der Kinder, dies alles vollzog sich nicht nur nach Pierres ausgesprochenem Willen, sondern Natascha bemühte sich auch noch, zu erraten, welche weiteren Folgerungen aus den Gedanken, die er ab und zu in der Unterhaltung äußerte, abzuleiten waren. Und sie erriet immer unfehlbar, worin der Kern seiner Wünsche bestand, und wenn sie es einmal erraten hatte, hielt sie auch getreulich an dem einmal Erwählten fest. Wollte Pierre dann selber einmal seinem Streben untreu werden, so bekämpfte sie ihn mit seinen eignen Waffen.
So hatte Pierre in jener schweren, ihm für immer unvergeßlichen Zeit nach der Geburt ihres ersten, schwächlichen Kindes, als sie dreimal hintereinander die Amme hatten wechseln müssen und Natascha vor Verzweiflung krank geworden war, seiner Frau eines Tages von den Ansichten Rousseaus[241] über das Unnatürliche und Schädliche der Ammen erzählt, denen er völlig zustimmte. Beim nächsten Kind bestand nun Natascha auf ihrem Willen und nährte seit der Zeit alle ihre Kinder selbst, obgleich ihre Mutter, die Ärzte und sogar ihr Mann selber Einspruch erhoben und sich gegen dieses Stillen wie gegen ein unerhörtes, schädliches Unterfangen auflehnten.
Ziemlich oft kam es vor, daß sich Mann und Frau in Augenblicken der Erregung stritten, aber noch lange nach einem solchen Streit fand dann Pierre zu seiner Freude und Verwunderung nicht nur in den Worten, sondern auch in den Handlungen seiner Frau jenen selben Gedanken wieder, gegen den sie anfänglich gewesen war. Und nicht nur, daß er ihn wiederfand, er fand ihn auch gereinigt von all dem Zuviel, mit dem er selber, veranlaßt durch Aufregung und Streit, diesen Gedanken zum Ausdruck gebracht hatte.
Nach siebenjähriger Ehe empfand Pierre das frohe, sichere Bewußtsein, daß er kein schlechter Mensch war, empfand es deshalb, weil er in seiner Frau sein eignes Spiegelbild sah. In sich selber fühlte er Gutes und Böses vermischt, das eine vom andern in den Schatten gestellt. In seiner Frau spiegelte sich aber nur das wider, was wahrhaft gut war, alles nicht völlig Gute schied aus. Und diese Widerspiegelung vollzog sich nicht auf dem Weg logischen Denkens, sondern durch eine geheimnisvolle, unmittelbare Reflexbewegung.
11
Pierre hatte vor zwei Monaten, als er schon bei den Rostows zu Gast war, einen Brief vom Fürsten Fjodor erhalten, der ihn nach Petersburg zur Beratung wichtiger Fragen rief, die die Mitglieder einer Gesellschaft, zu deren Hauptgründern Pierre gehörte, damals in Petersburg beschäftigten.
Nachdem Natascha diesen Brief gelesen hatte, wie sie alle Briefe ihres Mannes zu lesen pflegte, schlug sie ihm selber vor, nach Petersburg zu fahren, wenn es ihr auch schwer wurde, ihn so lang zu missen. Aller geistigen, abstrakten Tätigkeit ihres Mannes maß sie, ohne Verständnis dafür zu haben, ungeheure Wichtigkeit bei und fürchtete beständig, ihm bei dieser Tätigkeit ein Hindernis zu sein. Auf Pierres schüchternen, fragenden Blick nach Durchlesen des Briefes antwortete sie mit der Bitte, doch ja zu reisen, ihr aber nur die Zeit seiner Rückkehr genau zu bestimmen. Und so wurde sein Urlaub denn auf vier Wochen festgesetzt.
Als nun aber die Frist seines Urlaubs verstrichen war – es waren bereits vierzehn Tage darüber vergangen –, befand sich Natascha dauernd in einem Zustand der Angst, Traurigkeit und Aufregung.
Denissow, der, mit der gegenwärtigen Regierung unzufrieden, als General in den Ruhestand getreten war, hatte sich in diesen letzten Tagen bei den Rostows als Gast eingestellt und beobachtete Natascha erstaunt und bekümmert, wie man das unähnliche Bild eines einst geliebten Menschen betrachtet. Ein niedergeschlagener, gelangweilter Blick, ungereimte Antworten und Kinderstubengespräche – das war alles, was er von seiner früheren Fee sah und hörte.
Natascha war die ganze Zeit über traurig und gereizt, besonders dann, wenn Mutter, Sonja oder Gräfin Marja ihr zum Trost Pierre zu entschuldigen suchten und sich allerlei Gründe für sein Zögern ausdachten.
»Das ist alles Unsinn, alles dummes Zeug«, sagte Natascha, »all diese hohen Gedanken, die zu nichts führen, und alle diese dummen Gesellschaften«, urteilte sie jetzt über dieselben Dinge, von deren großer Wichtigkeit sie früher so fest überzeugt gewesen war.
Und sie ging ins Kinderzimmer, um ihren einzigen Sohn, den kleinen Petja, zu stillen. Niemand konnte ihr so viel Beruhigendes und Vernünftiges sagen wie dieses kleine, drei Monate alte Geschöpf, wenn es an ihrer Brust lag und sie die Bewegungen seines Mundes und das Schnaufen seines Näschens fühlte. Dieses kleine Wesen sagte zu ihr: Du ärgerst dich, bist eifersüchtig und möchtest dich am liebsten rächen, du hast Angst, aber ich bin doch hier und bin er. Ich bin doch hier und bin er … Und darauf war nichts zu entgegnen. Es war mehr als die Wahrheit.
Natascha flüchtete in diesen vierzehn Tagen der Unruhe so oft zu ihrem Kindchen, um Trost zu finden, gab sich so viel mit ihm ab, daß sie es übernährte. Es wurde krank. Sie erschrak sehr über diese Krankheit, und doch war sie gerade das, was ihr fehlte. Denn während sie nun das Kindchen pflegte, ertrug sie die Unruhe um ihren Mann leichter.
Sie stillte gerade, als Pierres Schlitten geräuschvoll an der Einfahrt vorfuhr und die Wärterin, die wußte, was allein ihrer Herrin jetzt Freude machen konnte, schnell und leise mit strahlendem Gesicht in die Tür trat.
»Ist er gekommen?« fragte Natascha hastig flüsternd und voll Angst, sich zu bewegen, um den Kleinen, der eingeschlafen war, nicht aufzuwecken.
»Ja, Mütterchen«, gab die Wärterin flüsternd zurück.
Das Blut schoß Natascha ins Gesicht, und ihre Füße zuckten unwillkürlich, aber sie durfte doch nicht aufspringen und hinunterlaufen. Der Kleine schlug wieder die Augen auf und sah sie an. Bist du da? schien er zu fragen, und dann schmatzte er wieder faul mit den Lippen.
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