Natascha entzog ihm sanft ihre Brust, wiegte ihn hin und her, übergab ihn der Wärterin und eilte dann mit schnellen Schritten zur Tür. Doch hier blieb sie noch einmal stehen, als fühlte sie Gewissensbisse, daß sie in ihrer Freude den Kleinen so schnell im Stich gelassen habe, und sah sich noch einmal um. Die Wärterin hob gerade mit hocherhobenen Ellbogen den Kleinen über das Gitter des Bettes.
»Gehen Sie, gehen Sie nur, Mütterchen, Sie können ganz ruhig sein«, flüsterte sie lächelnd und mit all der Vertraulichkeit, die sich zwischen ihr und ihrer Herrin herausgebildet hatte.
Natascha lief mit leichten Schritten ins Vorzimmer.
Denissow, der mit der Pfeife im Mund aus dem Arbeitszimmer in den Saal trat, erkannte jetzt zum erstenmal die alte Natascha wieder. Ein leuchtendes, frohes Licht strömte in hellen Strahlen von ihrem veränderten Gesicht aus.
»Er ist gekommen!« rief sie ihm im Vorübereilen zu, und Denissow fühlte, wie er selber darüber entzückt war, daß Pierre, aus dem er sich sehr wenig machte, nun angekommen war.
Im Vorzimmer angelangt, erblickte Natascha die hohe Gestalt im Pelz, die gerade den Gürtel löste. Er, er! Wirklich! Er ist es! sagte sie bei sich, flog auf ihn zu, umarmte ihn, preßte ihn an sich, den Kopf an ihre Brust, schob ihn dann wieder von sich ab und betrachtete Pierres wetterhartes, rotes und glückliches Gesicht. Ja, er ist da, ist glücklich und zufrieden …
Und plötzlich fielen ihr all die Qualen des Wartens ein, die sie in den letzten vierzehn Tagen erduldet hatte. Ihr vor Freude strahlendes Gesicht umwölkte sich, sie runzelte die Stirn, und eine Flut von Vorwürfen und bösen Worten ergoß sich über Pierre.
»Ja, dir geht es gut, du bist froh und heiter … Ich aber? An die Kinder hättest du doch wenigstens denken sollen. Ich stille, und da ist es mir auf die Milch geschlagen … Petja war in Lebensgefahr. Du aber hast dich amüsiert. Du warst heiter und vergnügt …«
Pierre war sich keiner Schuld bewußt, da es ihm unmöglich gewesen war, früher heimzukommen. Er wußte, daß dieser Zornausbruch von ihrer Seite ungerecht war, wußte, daß er in zwei Minuten vorüber sein werde, und wußte vor allem, daß ihm selber heiter und froh zumute war. Er hätte lächeln mögen, wagte aber nicht einmal, daran zu denken. So machte er ein klägliches, ängstliches Gesicht und ließ den Kopf hängen.
»Ich konnte nicht eher zurückkommen, bei Gott. Aber was ist mit Petja?«
»Jetzt ist es nicht mehr schlimm. Komm! Schämst du dich denn gar nicht? Du hättest nur sehen sollen, wie mir ohne dich zumute war, wie ich mich gequält habe …«
»Du bist doch gesund?«
»Komm, komm!« sagte sie noch einmal, ohne seine Hand loszulassen. Und sie gingen in ihre Zimmer.
Als Nikolaj und seine Frau herbeikamen, um Pierre zu begrüßen, war er im Kinderzimmer, hielt den muntergewordenen Säugling auf seiner riesigen, rechten Handfläche und liebkoste ihn. Auf des Kleinen breitem Gesicht mit dem offenen, zahnlosen Mäulchen lag ein heiteres Lächeln. Der Sturm hatte sich schon lang gelegt, und heller, froher Sonnenschein strahlte aus Nataschas Zügen, die gerührt den Gatten und das Kindchen betrachtete.
»Und hast du mit dem Fürsten Fjodor alles gut besprechen können?« fragte Natascha.
»Ja, ausgezeichnet.«
»Siehst du, wie er ihn schon aufrecht hält« – den Kopf meinte Natascha –, »aber den Schreck, den er mir eingejagt hat … Hast du die Fürstin gesehen? Ist es wahr, daß sie sich in den Dingsda verliebt hat?«
»Ja, stelle dir vor …«
Doch in diesem Augenblick traten Nikolaj und Gräfin Marja ein. Pierre beugte sich zu ihnen hinüber, um sie zu küssen, ohne sein Söhnchen aus der Hand zu lassen, und antwortete auf ihre Fragen. Doch obgleich sie sich gegenseitig zweifellos viel Interessantes mitzuteilen hatten, zog doch das Kindchen mit seinem Mützchen und wackelnden Köpfchen Pierres ganze Aufmerksamkeit auf sich.
»Wie goldig er ist!« sagte Gräfin Marja, betrachtete den Kleinen und spielte mit ihm. »Siehst du, Nicolas, das verstehe ich nicht«, wandte sie sich an ihren Mann, »daß du solch ein kleines Wunderwesen nicht reizend findest.«
»Dafür habe ich beim besten Willen kein Verständnis«, erwiderte Nikolaj und sah den Kleinen gleichgültig an. »Ein Fleischklümpchen, weiter nichts. Komm, Pierre!«
»Nun, die Hauptsache ist ja doch, daß er ein so zärtlicher Vater ist«, sagte Gräfin Marja, um ihren Mann wieder ins rechte Licht zu setzen, »aber sie müssen bei ihm wenigstens ein Jahr alt sein oder noch drüber …«
»Nein, Pierre versteht ausgezeichnet mit kleinen Kindern umzugehen«, erwiderte Natascha. »Er sagt selber, seine Hand sei eigens für den Hinterteil eines kleines Kindes geschaffen. Seht euch das nur einmal an.«
»Na, aber doch nicht ausschließlich dafür«, warf Pierre lachend ein, wiegte den Kleinen noch ein paarmal hin und her und gab ihn dann der Wärterin.
12
Wie in jeder richtigen Familie, lebten auch im Herrenhaus von Lysyja-Gory einige völlig verschiedene Welten zusammen, die, wenn auch jede ihre Eigenart bewahrte, doch dadurch, daß bald die eine, bald die andere nachgab, zu einem harmonischen Ganzen verschmolzen. Jedes Ereignis, das im Hause vorkam, war für alle diese Welten gleich freudig, traurig oder wichtig, aber jede dieser Welten hatte ihre eignen, von den andern unabhängigen Gründe, warum sie über solch ein Ereignis froh oder traurig war.
So stellte Pierres Ankunft ein frohes, wichtiges Ereignis dar, das sich auch als solches in allen widerspiegelte.
Die Dienerschaft – die zuverlässigsten Richter ihrer Herren, da sie diese nicht nach Worten und Gefühlsausbrüchen, sondern nach ihren Taten und ihrer Lebensweise beurteilen – freute sich über Pierres Ankunft, weil sie wußte, daß, wenn er da war, der Graf nicht mehr täglich durch die Wirtschaft gehen und daß er heiterer und gutmütiger sein werde, und dann wohl auch noch, weil dann zu den Feiertagen besonders reiche Geschenke zu erwarten waren.
Die Kinder und ihre Erzieherinnen freuten sich über Besuchows Kommen, weil niemand sie so in das allgemeine Leben mit hineinzog wie Pierre. Er allein konnte auf dem Klavier jene Ekossaise spielen – es war sein einziges Stück –, nach der man, wie er behauptete, alle nur möglichen Tänze tanzen konnte, und sicher hatte er ihnen allen auch noch Geschenke mitgebracht.
Nikolenka, jetzt ein fünfzehnjähriger, magerer, kränklicher, kluger Knabe mit lockigem Blondhaar und schönen Augen, freute sich deshalb, weil Onkel Pierre, wie er ihn nannte, der Gegenstand seiner Schwärmerei und leidenschaftlichen Liebe war. Niemand hatte Nikolenka diese besondere Liebe zu Pierre eingeflößt, auch hatte er ihn nur selten gesehen. Gräfin Marja, die ihn erzogen hatte, hatte alle ihre Kräfte aufgeboten, um Nikolenka dazu zu bringen, ihren Mann ebenso zu lieben, wie sie ihn selber liebte, und Nikolenka liebte den Onkel auch, jedoch mit einem kaum merklichen Anflug von Geringschätzung. Pierre hingegen vergötterte er. Er wollte auch nicht Husar und Ritter des Georgskreuzes werden wie Onkel Nikolaj, sondern gelehrt, klug und gut wie Onkel Pierre. In Pierres Gegenwart bekam sein Gesicht immer einen besonders frohen Glanz, und wenn Pierre ihn anredete, wurde er rot und atemlos. Er verlor kein Wort von dem, was Pierre sagte, und rief sich dann mit Dessalles oder für sich allein alle seine Worte ins Gedächtnis zurück und dachte über ihre Bedeutung nach. Pierres Vergangenheit, sein unglückliches Leben bis zum Jahre 1812, von dem er sich aus aufgeschnappten Worten ein dunkles, poetisches Bild zurechtgemacht hatte, seine Abenteuer in Moskau, seine Gefangenschaft, Platon Karatajew, von dem ihm Pierre erzählt hatte, seine Liebe zu Natascha, die der Knabe ebenfalls ganz besonders in sein Herz geschlossen hatte, und vor allem Pierres Freundschaft mit seinem Vater, an den sich Nikolenka nicht mehr erinnern konnte – dies alles machte Pierre für ihn zu einem Helden, einem Gott.
Aus aufgefangenen Worten über seinen Vater und Natascha und aus jener inneren Erregung, mit der Pierre von dem Verstorbenen zu reden pflegte, aus den vorsichtigen, pietätvollen, zarten Worten, mit denen Natascha von ihm sprach, hatte sich der Knabe, der soeben zu erraten anfing, was Liebe war, in seiner Einbildung zurechtgelegt, daß sein Vater Natascha geliebt und sie sterbend seinem Freund anvertraut haben mußte. Dieser Vater, an den sich Nikolenka nicht erinnern konnte, stand vor ihm wie ein Gott, den man sich nicht in Menschengestalt vorstellen und an den man nicht anders als mit Herzklopfen und Tränen der Trauer und Begeisterung denken durfte. Und so war auch der Knabe über Pierres Ankunft glücklich.