Die Gäste freuten sich über Pierre, weil er ein Mensch war, der Leben und Zusammenhalt in jede Gesellschaft brachte.
Die erwachsenen Hausgenossen, von seiner Frau nicht zu reden, freuten sich über die Ankunft des Freundes, weil sie sich in dessen Gesellschaft leichter und ruhiger fühlten.
Die alten Damen freuten sich über die Geschenke, die Pierre ihnen mitbrachte, und vor allem darüber, daß Natascha nun wieder auflebte. Pierre fühlte die verschiedenen Gesichtspunkte heraus, unter denen man ihn aus den verschiedenen Welten betrachtete, und beeilte sich, jedem zuteil werden zu lassen, was er von ihm verlangte.
Pierre, dieser äußerst zerstreute, vergeßliche Mensch, hatte diesmal an Hand einer Liste, die seine Frau für ihn hergestellt hatte, alles gekauft und weder die Aufträge von Mutter und Bruder noch die Geschenke noch das Kleid für die Bjelowa noch die Spielsachen für Neffen und Nichten vergessen. In der ersten Zeit seiner Ehe war Pierre das Verlangen seiner Frau, alles, was er einzukaufen übernommen hatte, auch wirklich zu besorgen und nichts zu vergessen, sonderbar vorgekommen, und er war über ihre ernsthafte Verstimmung, als er auf seiner ersten Reise alles vergessen hatte, weidlich erstaunt gewesen. Späterhin hatte er sich aber auch daran gewöhnt. Da er wußte, daß Natascha nie für sich etwas verlangte und für andere nur dann, wenn er sich selber dazu erbot, fand er jetzt in diesen Einkäufen von Geschenken für das ganze Haus ein für ihn selber unerwartetes, kindliches Vergnügen und vergaß nie mehr etwas. Machte ihm Natascha dann noch Vorwürfe, so höchstens deshalb, weil er zuviel und zu teuer eingekauft hatte. All seinen Mängeln, die von den meisten Leuten Fehler, von Pierre selber aber Seiten seines Wesens genannt wurden, wollte Natascha durchaus noch den Geiz zugesellen.
Seit Pierre mit seiner Familie und einem großen Hausstand, der gewaltige Ausgaben forderte, zu leben angefangen hatte, bemerkte er zu seiner Verwunderung, daß er jetzt nur noch die Hälfte brauchte wie früher, und daß sich seine in letzter Zeit hauptsächlich durch die Schulden seiner ersten Frau arg zerrütteten Vermögensverhältnisse zu bessern anfingen.
Er lebte deshalb billiger, weil sein Leben jetzt gebunden war: jenen teuersten Luxus, der darin besteht, die Lebensweise jeden Augenblick zu ändern, leistete sich Pierre jetzt nicht mehr und hatte auch gar kein Verlangen danach. Er fühlte, daß seine Lebensweise jetzt bis zu seinem Tod festgelegt war, daß es nicht in seiner Macht stand, sie abzuändern, und daß er aus diesem Grund billiger lebte.
Mit heiterem, lächelndem Gesicht packte Pierre seine Einkäufe aus. »Sieh nur, den prächtigen Stoff!« sagte er und breitete wie ein Verkäufer vor seiner Frau ein Stück Zeug aus.
Natascha hielt ihr ältestes Töchterchen auf den Knien und ließ, während sie ihm so gegenübersaß, ihre glänzenden Augen schnell zwischen dem, was er ihr zeigte, und ihm selber hin und her wandern.
»Das ist wohl für die Bjelowa? Wundervoll!« Sie befühlte die Ware. »Davon kostet die Elle sicher einen Rubel.«
Pierre nannte den Preis.
»So teuer!« sagte Natascha. »Wie sich die Kinder freuen werden und maman. Aber daß du das für mich gekauft hast, war doch unnütz«, fügte sie hinzu, konnte aber dabei ein glückliches Lächeln nicht unterdrücken, als sie den goldenen, mit Perlen besetzten Kamm bewunderte, von der Art, wie sie damals gerade in Mode gekommen war.
»Adele hat mich dazu breitgeschlagen: kaufen, immer kaufen!« erzählte Pierre.
»Aber wann soll ich den denn tragen?« Natascha steckte den Kamm ins Haar.
»Wenn ich Maschenka einmal auf den Ball ausführe, vielleicht wird er dann wieder getragen. Nun komm aber!«
Sie rafften die Geschenke zusammen und gingen zuerst ins Kinderzimmer und dann zu der alten Gräfin.
Die Gräfin saß wie gewöhnlich mit der Bjelowa zusammen und legte Patiencen, als Pierre und Natascha mit ihren Päckchen unter dem Arm ins Zimmer traten.
Die Gräfin war nun schon über sechzig Jahre alt. Sie war ganz grau geworden und trug ein Häubchen, das ihr ganzes Gesicht mit einem Rüschchen umrahmte. Ihr Gesicht war voll Runzeln, die Oberlippe eingefallen und ihre Augen waren trübe geworden.
Nach dem Schlag auf Schlag erfolgten Tod ihres Sohnes und ihres Gatten fühlte sie sich als ein Wesen, das nur zufällig vom Tod verschont geblieben war und auf der Welt nicht Zweck und Ziel mehr hatte. Sie aß, trank, schlief oder wachte, aber sie lebte nicht. Das Leben hinterließ ihr keinerlei Eindrücke. Sie verlangte nichts mehr vom Leben als Ruhe, und diese Ruhe konnte sie nur im Grab finden. Doch solange der Tod nicht kam, mußte sie leben, das heißt ihre Lebenskräfte gebrauchen. Alles, was man an sehr kleinen Kindern und sehr alten Leuten beobachten kann, trat bei ihr in höchstem Grad in Erscheinung. In ihrem Leben gab es keine äußeren Ziele mehr, sondern nur das Bedürfnis, ihre Neigungen und Fähigkeiten aufrechtzuerhalten. Sie mußte essen, schlafen, denken, sich unterhalten, weinen, sich beschäftigen, sich ärgern und so weiter, nur weil sie Magen, Gehirn, Muskeln, Nerven und Leber hatte. Und dies alles tat sie, durch keinen äußeren Grund veranlaßt, nicht etwa so, wie es die Menschen auf der Höhe ihrer Kraft tun, nämlich daß man vor dem erstrebten Ziel das andere Ziel, die Betätigung ihrer Kräfte, gar nicht wahrnimmt, sondern sie sprach nur, weil sie das physische Bedürfnis hatte, ihre Lunge und Zunge arbeiten zu lassen, weinte wie ein Kind, weil sie die Tränen loswerden mußte und so weiter. Alles, worin Menschen auf der Höhe ihrer Kraft ein Ziel sehen, diente ihr offenbar nur als Vorwand.
So machte sich bei ihr oft frühmorgens, besonders wenn sie am Abend vorher etwas Fettes gegessen hatte, das Bedürfnis nach Ärger geltend, und dann griff sie nach dem ersten besten Vorwand, und das war gewöhnlich die Taubheit der Bjelowa.
Vom andern Ende des Zimmers aus fing sie dann leise mit ihr eine Unterhaltung an.
»Heute scheint es wärmer zu sein, meine Liebe«, pflegte sie dann wohl im Flüsterton zu sagen.
Und wenn dann die Bjelowa zur Antwort gab: »So so, sie sind also angekommen«, brummte sie verärgert vor sich hin: »Großer Gott, wie taub und dumm sie doch ist!«
Ein anderer Vorwand für sie war ihr Schnupftabak, der ihr bald zu trocken, bald zu feucht, bald zu schlecht gerieben schien. Nach solchen Aufregungen trat ihr immer die Galle ins Gesicht, und ihre Zofen wußten aus sicheren Anzeichen immer schon im voraus, wann die Bjelowa wieder taub, der Schnupftabak wieder feucht und das Gesicht der Gräfin wieder gelb sein werde. Und ebenso, wie sie die Galle arbeiten lassen mußte, mußte sie auch ab und zu die ihr noch verbliebenen Denkfähigkeiten in Tätigkeit setzen, und dazu legte sie dann immer eine Patience. Hatte sie das Bedürfnis zu weinen, so war der selige Graf die gegebene Ursache, wollte sie sich Sorgen machen, so bot Nikolaj und seine Gesundheit ihr dazu die Gelegenheit, mußte sie giftige Reden führen, so war stets Gräfin Marja der Sündenbock. Hatte sie das Verlangen, ihre Sprechorgane in Bewegung zu setzen – und dies war meist um sieben Uhr abends der Fall, nachdem sie sich nach dem Essen ein Stündchen in einer dunklen Stube ausgeruht hatte –, so bot sich ihr die Gelegenheit dadurch, daß sie vor denselben Zuhörern immer wieder dieselben Geschichten erzählte.
Für diesen Zustand der alten Dame hatten alle Hausgenossen Verständnis, obgleich nie jemand darüber sprach, und jeder gab sich so viel Mühe, wie er nur konnte, der alten Gräfin bei der Befriedigung dieser ihrer Bedürfnisse behilflich zu sein. Nur selten kam durch einen Blick oder durch ein trauriges, halbes Lächeln, das Nikolaj, Pierre, Natascha und Gräfin Marja untereinander austauschten, das gemeinsame Verständnis ihrer Lage zum Ausdruck.