In diesem Augenblick bemerkte Nikolaj die Anwesenheit seines Neffen. Er machte ein finsteres Gesicht und ging auf ihn zu.
»Was machst du hier?«
»Ach, laß ihn doch«, sagte Pierre, hielt Nikolaj am Arm und fuhr fort: »Das genügt nicht, habe ich ihnen gesagt, wir brauchen jetzt etwas anderes. Wenn ihr dasteht und wartet, bis diese zu straff gespannte Saite gesprungen ist, wenn alle auf einen unausbleiblichen Umsturz gefaßt sind, so müssen wir, so viele aus dem Volk wie nur möglich, einander eng die Hände reichen und der allgemeinen Katastrophe steuern. Alles, was jung und kräftig ist, wird auf die andere Seite hinübergezogen und kommt zu Schaden. Die einen lassen sich von Frauen verführen, die anderen vom Ruhm, die dritten vom Ehrgeiz oder vom Geld, und so gehen sie alle in jenes Lager über. Unabhängige, freie Menschen wie ihr und ich gibt es gar nicht mehr. Ich habe ihnen gesagt: Erweitert den Kreis der Gesellschaft und laßt das Losungswort nicht allein die Tugend sein, sondern auch Unabhängigkeit und tatkräftiges Wirken.«
Nikolaj ließ von dem Neffen ab, rückte seinen Stuhl ärgerlich herum und setzte sich wieder hin. Während er Pierre zuhörte, räusperte er sich unzufrieden, und sein Gesicht wurde immer finsterer.
»Aber zu welchem Zweck denn dieses tatkräftige Wirken?« rief er aus. »Und wie wollt ihr euch zu der Regierung stellen?«
»Das will ich dir sagen: Wir wollen der Regierung helfen. Die Gesellschaft braucht nicht geheim zu sein, wenn die Regierung sie billigt. Sie steht ihr keineswegs feindlich gegenüber, sondern ist die Vereinigung der wahrhaft Konservativen. Eine Vereinigung von Gentlemen im wahrsten Sinn des Wortes. Wir reichen einander nur die Hand, damit nicht wieder ein Pugatschew[250] kommt und unseren Kindern den Hals abschneidet, oder damit mich kein Araktschejew in seine Militärkolonien schicken kann. Wir haben dabei nur das Wohl und die Sicherheit aller im Auge.«
»Gewiß; aber die Gesellschaft ist doch geheim und infolgedessen regierungsfeindlich und schädlich und kann nur Böses hervorbringen.«
»Warum? Hat etwa der Tugendbund, der Europa gerettet hat« – man wagte damals noch nicht zu denken, daß Rußland es gewesen sei, das Europa gerettet habe –, »Schaden gestiftet? Der Tugendbund vereint alle Tugenden, ist Liebe, gegenseitige Hilfe, alles, was Christus am Kreuz gepredigt hat …«
Natascha, die mitten im Gespräch ins Zimmer getreten war, blickte ihren Mann freudig an. Nicht über das, was er sagte, freute sie sich, das berührte sie nicht einmal, weil es ihr schien, als sei dies alles ungeheuer einfach und ihr schon lang bekannt – das kam wiederum daher, weil sie die Quelle alles dessen, Pierres ganze Seele, so genau kannte –, sondern sie freute sich einfach nur, weil sie ihren Mann so angeregt und begeistert sah.
Aber mit noch freudigerer Begeisterung blickte auf Pierre der von allen unbeachtete Knabe mit dem schlanken Hals, den der zurückgeschlagene Kragen frei ließ. Jedes Wort Pierres entflammte sein Herz nur noch mehr, so daß er mit einer nervösen Bewegung der Finger, ohne es selber zu merken, alle Siegellackstangen und Federn auf dem Schreibtisch seines Onkels zerbrach, die ihm gerade in die Hände kamen.
»Keinesfalls das, was du denkst. Ich werde dir sagen, was der deutsche Tugendbund war, und wie der beschaffen sein soll, den ich vorschlage.«
»Ja, mein Lieber, für diese Wurstfresser mag ja so ein Tugendbund ganz schön sein, ich aber kann so etwas nicht verstehen und spreche am liebsten gar nicht davon«, ließ sich Denissows laute, entschiedene Stimme vernehmen. »Alles ist jetzt widerwärtig und abscheulich, das gebe ich zu, aber für diesen Tugendbund habe ich kein Verständnis. Gefällt ihnen mal was nicht, gleich ist ein Bund, ein Aufruhr da; so ist es doch. Je suis votre homme.«
Pierre lächelte, Natascha lachte auf, aber Nikolaj zog die Brauen noch finsterer zusammen und suchte Pierre zu beweisen, daß keinerlei Umsturz zu befürchten sei, und daß die ganze Gefahr, von der er gesprochen hatte, nur in seiner Einbildung bestehe. Pierre bewies das Gegenteil, und da seine geistigen Fähigkeiten stärker und schlagfertiger waren, fühlte Nikolaj, daß er unterlag. Dies ärgerte ihn nur noch mehr, da er im Grund seines Herzens von der zweifellosen Richtigkeit seiner Ansicht überzeugt war, und zwar nicht auf Grund kluger Erwägungen, sondern auf Grund von etwas, was stärker als alle klugen Erwägungen ist.
»Ich will dir etwas sagen«, fing er an, stand auf, wollte mit einer nervösen Bewegung die Pfeife in die Ecke stellen, warf sie aber dann ungeduldig beiseite. »Beweisen kann ich dir das nicht. Du sagst, daß bei uns alles schlimm steht und ein Umsturz kommen wird – ich sehe das nicht. Wenn du aber behauptest, daß der Eid nur eine bedingte Sache ist, muß ich dir darauf erwidern: du bist zwar mein bester Freund, das weißt du, gründet ihr aber eine geheime Gesellschaft und fangt an, der Regierung, wie sie auch immer sein mag, entgegenzuarbeiten, so weiß ich für meinen Teil, daß es meine Pflicht ist, ihr zu gehorchen. Und wenn mir Araktschejew noch in dieser Stunde beföhle, mit einer Schwadron gegen euch vorzugehen und euch niederzumachen, ich würde mich nicht einen Augenblick bedenken und vorgehen. Denke du darüber, wie du willst.«
Nach diesen Worten entstand ein peinliches Schweigen. Natascha fing zuerst wieder zu reden an, nahm ihren Mann in Schutz und fiel über den Bruder her. Ihre Verteidigung war zwar schwach und ungeschickt, aber sie erreichte ihren Zweck. Das Gespräch kam wieder in Fluß und wurde nun nicht mehr in jenem unangenehm feindlichen Ton geführt, in dem Nikolaj zuletzt gesprochen hatte.
Als alle aufstanden, um Abendbrot zu essen, trat Nikolenka Bolkonskij bleich und mit glänzenden, leuchtenden Augen auf Pierre zu.
»Onkel Pierre … Sie … nein … Wenn Vater noch am Leben wäre … würde er dann ebenso denken wie Sie?« fragte er.
Pierre begriff plötzlich, was für eine besondere, selbständige, verwickelte und starke Gedanken- und Gefühlsarbeit während der Zeit dieses Gespräches in dem Knaben vorgegangen sein mußte. Er erinnerte sich an alles, was er gesagt hatte, und es tat ihm leid, daß der Knabe dabeigewesen war. Doch eine Antwort mußte er ihm geben.
»Ich denke, ja«, erwiderte er unwillig und ging aus dem Zimmer. Der Knabe ließ den Kopf hängen und schien jetzt zum erstenmal zu bemerken, was er auf dem Schreibtisch angerichtet hatte. Er wurde dunkelrot und trat auf Nikolaj zu.
»Onkel, entschuldige bitte, das habe ich hier gemacht … nicht mit Absicht«, sagte er und zeigte auf die zerbrochenen Siegellackstangen und Federn.
Nikolaj fuhr ärgerlich auf.
»Gut, gut«, sagte er und warf die Siegellackstücke und Federn unter den Tisch.
Offenbar hielt er nur mit Mühe den aufsteigenden Zorn zurück und wandte sich von dem Knaben ab.
»Es war recht unnötig, daß du mit dabei warst«, sagte er zu ihm.
15
Nach dem Abendessen wurde nicht über Politik und Gesellschaft gesprochen, sondern über etwas, das Nikolaj besonders angenehm war: über Erinnerungen an das Jahr 1812. Denissow hatte dieses Thema angeschlagen, und Pierre zeigte sich dabei besonders liebenswürdig und unterhaltend. So trennten sich alle in der freundschaftlichsten Weise.
Als sich Nikolaj nach dem Abendessen in seinem Zimmer ausgezogen und dem Verwalter, der dort lange auf ihn gewartet hatte, seine Befehle erteilt hatte, ging er im Schlafrock ins Schlafzimmer und fand seine Frau dort noch am Schreibtisch vor: sie schrieb etwas.
»Was schreibst du denn, Marie?« fragte Nikolaj.
Gräfin Marja wurde rot. Sie fürchtete, daß das, was sie schrieb, von ihrem Mann nicht verstanden und gebilligt werde. Sie hätte es am liebsten vor ihm versteckt, gleichzeitig aber freute sie sich auch darüber, daß er sie dabei überrascht hatte und daß sie es ihm nun sagen mußte.
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