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Natascha zweifelte nicht daran, daß Pierres Gedanke ein großer Gedanke war, nur eines verwirrte sie dabei, und das war, daß er ihr Gatte war. Wie kann denn ein für die Gesellschaft so wichtiger und nützlicher Mensch dabei zugleich mein Gatte sein? Warum ist das so gekommen? Sie wollte ihren Zweifel zum Ausdruck bringen. Wer von allen Menschen könnte nur entscheiden, ob er wirklich um soviel klüger ist als alle anderen? fragte sie sich und ging in Gedanken all die Leute durch, die Pierre sehr hochschätzte. Nach seinen Erzählungen zu schließen achtete er aber keinen mehr als Platon Karatajew.

»Weißt du, an wen ich jetzt denke?« fragte sie. »An Platon Karatajew. Wie würde er darüber denken? Würde er dir jetzt zustimmen?«

Pierre wunderte sich nicht im geringsten über diese Frage. Er verstand den Gedankengang seiner Frau.

»Platon Karatajew?« wiederholte er, dachte nach und gab sich sichtlich aufrichtige Mühe, sich Karatajews Urteil über diesen Gegenstand vorzustellen. »Er hätte es nicht verstanden, aber übrigens vielleicht doch, ja.«

»Ich liebe dich schrecklich«, sagte Natascha plötzlich. »Schrecklich, schrecklich!«

»Nein, er würde mir nicht zustimmen«, fuhr Pierre nach einigem Nachdenken fort. »Was ihm aber gefallen würde: unser Familienleben. Er hatte immer nur den einen Wunsch: in allem Schönheit, Glück und Frieden zu sehen, und da hätte ich ihm mit Stolz unsere Familie gezeigt. Da sagst du immer, die Trennung sei etwas Furchtbares. Aber du kannst gar nicht glauben, was für ein besonderes Gefühl ich für dich nach einer solchen Trennung immer habe …«

»Das ist, weil …« wollte Natascha anfangen.

»Nein, das ist es nicht. Ich liebe dich immer, immer, und mehr zu lieben ist gar nicht möglich. Aber es ist etwas Besonderes … ja …« er sprach nicht zu Ende, denn ihre Blicke trafen sich und sagten einander alles übrige.

»Wie dumm das ist«, fing plötzlich Natascha wieder an, »was man da immer von den Flitterwochen sagt, daß die erste Zeit der Ehe die glücklichste sei. Im Gegenteil, jetzt ist es am allerschönsten. Wenn du bloß nicht immer verreisen wolltest. Weißt du noch, wie wir uns manchmal gezankt haben? Und immer war nur ich schuld daran. Immer nur ich. Und worüber wir uns eigentlich gezankt haben, das weiß ich nicht einmal mehr.«

»Das war immer das gleiche«, sagte Pierre lächelnd. »Du warst immer eifer…«

»Sprich es nicht aus, ich kann es nicht hören«, rief Natascha aus und ein kalter, böser Glanz leuchtete in ihren Augen auf. »Hast du sie gesehen?« fügte sie nach kurzem Schweigen hinzu.

»Nein, und wenn ich sie auch gesehen hätte, hätte ich sie nicht gekannt.«

Beide schwiegen.

»Ach, weißt du? Als du heute im Arbeitszimmer so sprachst, mußte ich dich nur immer ansehen«, fuhr dann Natascha fort, sichtlich bemüht, die herangezogene Wolke zu verscheuchen. »Wie ein Ei dem andern gleicht ihr einander, du und der Junge.« So nannte sie ihr Söhnchen. »Ach, es ist auch Zeit, zu ihm zu gehen … Es ist soweit … Schade, daß ich gehen muß.«

Sie schwiegen ein paar Augenblicke. Dann wandten sie sich plötzlich gleichzeitig einander zu und fingen beide wieder zu reden an. Pierre selbstzufrieden und begeistert, Natascha mit stillem, seligem Lächeln. Als ihre Worte aufeinanderprallten, hielten sie beide inne und wollten jedes dem andern den Vortritt lassen.

»Nein, was wolltest du sagen? Sag’s doch, sag!«

»Nein, sprich du, ich fing nur so an, dummes Zeug«, erwiderte Natascha.

Pierre sprach das aus, was er angefangen hatte. Es war die Fortsetzung seiner selbstzufriedenen Erwägungen über seine Erfolge in Petersburg. Er glaubte in diesem Augenblick, dazu berufen zu sein, der ganzen russischen Gesellschaft, ja der ganzen Welt eine neue Richtung zu geben.

»Ich wollte nur sagen, daß alle Gedanken, die große Folgen gehabt haben, immer höchst einfach gewesen sind. Meine ganze Idee ist ja nur die: wenn die verdorbenen Elemente zusammenhalten und dadurch eine Macht bilden, so brauchen die ehrenhaften Menschen ja nur dasselbe zu tun. Das ist doch höchst einfach.«

»Ja.«

»Und was wolltest du sagen?«

»Ich? Nichts weiter, dummes Zeug.«

»Nein, sag es nur.«

»Es war nicht weiter von Bedeutung«, antwortete Natascha und lächelte noch strahlender. »Ich wollte dir nur von Petja erzählen. Heute, als die Wärterin kam und ihn mir abnahm, lachte er, kniff die Augen zu und schmiegte sich an mich, sicher glaubte er, er habe sich versteckt. Er war furchtbar niedlich. Doch halt, jetzt schreit er ja. Also leb wohl!« Und sie lief aus dem Zimmer.

Zu derselben Zeit brannte unten, in Nikolenka Bolkonskijs Seitenflügel, in seinem Schlafzimmer, das Nachtlämpchen. Der Knabe fürchtete sich im Dunkeln, und man konnte ihm diesen Fehler nicht abgewöhnen. Dessalles thronte hoch auf seinen vier Kissen und schlief, und aus seiner römischen Nase drangen gleichmäßige Schnarchlaute. Nikolenka war soeben aufgewacht, saß ganz in kalten Schweiß gebadet auf seinem Bett und starrte mit weit geöffneten Augen vor sich hin.

Ein furchtbarer Traum hatte ihn geweckt. Er hatte sich und Onkel Pierre in Helmen gesehen, in solchen Helmen, wie sie in seinem Plutarch abgebildet waren. Er und Onkel Pierre zogen einem gewaltigen Heer voran. Dieses Heer bestand aus weißen, schrägen Strichen, die die Luft erfüllten wie jene Spinnenfäden, die im Herbst umherfliegen und die Dessalles fil de la Vierge nannte. Ihnen voran eilte der Ruhm, der ebenso war wie diese Fäden, nur etwas kräftiger. Sie beide, er und Pierre, schwebten leicht und froh immer näher und näher dem Ziel zu. Plötzlich wurden die Fäden, die sie vorwärts bewegten, schwächer, kamen in Verwirrung, und beiden wurde mit einemmal ganz schwer zumute. Und plötzlich versperrte ihnen Onkel Nikolaj mit drohender und strenger Gebärde den Weg.

»Habt ihr das getan?« fragte er und wies auf die zerbrochenen Siegellackstangen und Federn hin. »Ich habe euch zwar lieb gehabt, aber Araktschejew hat es mir so befohlen, und deshalb werde ich den ersten, der sich noch einen Schritt weiter wagt, totschlagen.« Nikolenka sah sich nach Pierre um, doch Pierre war nun nicht mehr da. Er war nun auf einmal sein Vater, der Fürst Andrej. Sein Vater hatte weder Gestalt noch Form, aber er war da, und als Nikolenka ihn sah, fühlte er sich schwach aus Liebe, fühlte sich kraftlos, knochenlos, zerrinnend. Der Vater liebkoste und bedauerte ihn. Aber Onkel Nikolaj Iljitsch kam ihnen immer näher und näher. Da packte Nikolenka ein Grauen, und er erwachte.

Der Vater, dachte er, der Vater – obgleich zwei ähnliche Bilder im Hause waren, stellte sich Nikolenka den Vater doch nie in Menschengestalt vor –, der Vater war bei mir und hat mich geliebkost. Er hat mich gelobt, hat Onkel Pierre gelobt. Was er mir auch sagen mag, das tue ich. Mucius Scävola[252] hat seine Hand verbrennen lassen. Warum sollte ich nicht etwas Ähnliches erleben? Ich weiß, sie wollen, daß ich lernen soll. Und ich werde lernen. Aber einmal muß ich doch damit fertig sein, und dann tu ich es. Und um eines bitte ich Gott, daß ich auch so etwas erlebe wie die Männer im Plutarch, dann werde ich es ebenso machen, werde es noch besser machen. Alle müssen mich kennen, mich lieben, mich verehren … Und plötzlich fühlte Nikolenka, wie ein Schluchzen seine Brust erschütterte, und er fing an zu weinen.

»Etes-vous indisposé?« ließ sich Dessalles Stimme hören.

»Non«, erwiderte Nikolenka und legte sich wieder aufs Kissen.

Er ist lieb und gut, und ich habe ihn gern, dachte er über Dessalles.

Aber Onkel Pierre? Was ist das doch für ein wundervoller Mensch! Und mein Vater? Mein Vater! Mein Vater! Ja, ich will alles so machen, daß sogar er mit mir zufrieden sein soll …

Anmerkungen

Vorweg einige alte russische Maßeinheiten:

Desjatine – 1,09 Hektar

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252

Mucius Scävola: der römische Plebejer Gaius Mucius legte vor dem Etruskerkönig zum Zeichen, daß ihn Folter und Tod nicht schrecken, seine rechte Hand ins Feuer eines Altars und ließ sie unbewegten Gesichts verbrennen … Er erhielt den Beinamen Scaevola – Linkshand.