Der Direktor drehte sich zurück und steckte einen Finger in die Wählscheibe des Telefons. Dabei schaute er auf Ed, als müsse dieser ihm jetzt nur noch seine Nummer geben.
Ohne Zweifel war das der Zeitpunkt, etwas Eigenes beizutragen. Etwas, das darauf hinwies, dass er die (weitgehend unausgesprochene) Voraussetzung erfüllte, eine Aussage, seinen bisherigen Lebenslauf betreffend, die eigene Geschichte, die allerdings nichts mit Ärger oder Ausspucken zu tun gehabt hatte, mehr mit einer Straßenbahn.
Der Finger des Direktors ruckte an der Wählscheibe, ungeduldig — ein kleines schnarrendes Geräusch.
«Gesund also?«
«Ja, ja, ich denke, jedenfalls nicht, dass ich wüsste …«Die Frage machte ihn verlegen.
«Gesund, aber kein Gesundheitszeugnis?«
«Gesundheitszeugnis?«Ed hatte nie von der Notwendigkeit eines solchen Dokuments gehört.
«Gesund, aber weder Quartiernachweis noch Meldeschein?«
«Nein, ich wollte …«
«Gesund und befreit von der Vergangenheit, wie wir alle hier oben?«
Krombach lachte leise und warf einen raschen Blick auf die angegrauten Herzen; mit ihnen schien er besonders befreundet zu sein. Die plötzliche Direktheit bereitete Ed Unbehagen.
«Ich meine, keine allzu bösen Krankheiten in der Vergangenheit, oder?«
«Nein. Einmal habe ich mir den Arm gebrochen, das linke Handgelenk, das war kompliziert, ein Sturz beim Klettern, ich war neun Jahre alt und sollte in die Ferienspiele, aber am Morgen …«
Krombach sah ihn ruhig und verständnislos an, und Ed verstummte.
«Niemand weiß, dass du hier bist?«
«Nein«, entgegnete Ed rasch, und nahm den Wechsel zum Du als eine Art Vorschuss.
«Du hast niemandem Bescheid gegeben, oder?«
«Nein.«
«Und du bist allein gekommen?«
«Ja.«
«Wie lange könntest du bleiben?«
«Den Sommer …?«Momentlang hatte Ed seinen Kalender vor sich gesehen, mit dem Rückmeldetermin für das Herbstsemester — fast schämte er sich dafür. Von draußen hörte er das Klirren von Geschirr. Den Schritten und Stimmen nach zu urteilen, wurde das Frühstück abgeräumt; es klang herausfordernd und grob. Das Fremde wehte ihn an, die Angst vor dem Eintritt ins Unbekannte.
«Den Sommer also. Vielleicht auch den Herbst?«
«Ja, vielleicht.«
«Vielleicht, hmm? Wir hatten Schwierigkeiten hier in der vergangenen Saison, Probleme, und damit ist nicht zu viel gesagt. Wir haben Leute verloren, auf verschiedene Weise, unser letzter Eisverkäufer zum Beispiel …«Krombach atmete schwer.
«Warum hast du dich angeschlichen?«
«Angeschlichen?«
«Du bist von hinten gekommen, über die Steilküste, das ist eine weite, beschwerliche Strecke, zwei Stunden den steinigen Strand entlang, mit einer Reisetasche!«
«Ich …«
«Gut, gut. «Der Direktor wirkte plötzlich erschöpft. Er bog Eds Ausweis mit der im Knick schon beschädigten Plastikhülle gegen die Bindung, im nächsten Moment musste das Papier zerreißen. Dann ließ er das Heftchen einfach fallen, mit spitzen Fingern, in ein für Ed unsichtbares Fach des Sekretärs.
«Du bleibst, bis Crusoe zurückkehrt. Du arbeitest dich ein, dann sehen wir weiter. Unterkunft, freie Verpflegung, Verdienst pro Stunde zwei Mark siebzig. Was hältst du vom Abwasch? Bei entsprechender Eignung, wie gesagt. Alle anderen Dinge … Alles andere kommt später.«
Ed nickte und senkte den Blick. Krombachs Halbschuh stand auf der löchrigen Verkleidung eines Bahnheizkörpers. Plötzlich erkannte er den Geruch; es war das Haarwasser seines Vaters, jeden Morgen, jeden Abend — Exlepäng.
Das Zimmer
Das Zimmer, das Ed an diesem Vormittag in Besitz nahm, wirkte bewohnt. Auf dem Waschbecken lag eine mit Zahncreme verkrustete Zahnbürste. Im Zahnputzbecher stand eine Brille. Das Bettzeug war benutzt. Das Laken warf wulstige Falten, ein angegrautes Faltengebirge, das eine säuerliche Aura verströmte … Ed beugte sich über das Bett und lauschte; es war ihr höllischer Kurvengesang, sehr leise, sehr weit entfernt. G. winkte, die Bahn fuhr ihre letzte Runde, ein paar Verse dröhnten in seinem Schädel.
Anfangs war es Ed schwergefallen, den Grundriss des Klausners zu erfassen, seine inneren Zusammenhänge und die verschiedenen Verbindungen von Raum zu Raum. Anzahl und Lage der Zimmer waren ihm lange ein Rätsel, im Grunde schien es nicht möglich, sie allesamt unterzubringen in dem zweistöckigen Gebäude, das auf den Echt Foto-Postkarten von Bild und Heimat Reichenbach (das Stück zu fünfundzwanzig Pfennig am Tresen) einen eher bescheidenen Eindruck machte — kein Schiff jedenfalls, kein Mississippidampfer. Mehr eine Baude, ein Waldhaus mit holzverkleideten Giebeln und Anbauten nach allen Seiten statt Schaufelradkästen. Trotzdem gingen vor Eds innerem Auge alle Zimmer aufs Meer hinaus. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass der Klausner Tag und Nacht umspült war vom Rauschen; ununterbrochen wurde das Sehen vom Hören überschwemmt, geschliffen, umgeformt. Eingeschlossen ins Geräusch, passte sich das Denken der Brandung an, dem Gang der Gezeiten.
Zuerst hatte Krombach ihn an die Rückseite des Hauses geführt. Die Tür war schmal und niedrig. Ein separater Eingang, hinter dem sofort eine Treppe anhob, der Aufstieg zu den Zimmern. Sie erinnerte Ed an die Dienstbotenstiege im Haus seiner Kindheit, weshalb er nach Klingelzügen Ausschau hielt, wie sie vom Schlafzimmer seiner Großeltern zu den Kammern der Dienstboten geführt hatten. Die Kammern waren seit Jahrzehnten leer, trotzdem pflegte sein Großvater die aufwendige Mechanik, und ab und zu betätigte er sie, am liebsten vor Ed. Als Kind war Ed sicher gewesen, sie würden es hören, das Klingeln der kleinen verrosteten Glocken am Ende der Seilzüge würde die lange verstorbenen Dienstboten auf irgendeine Weise wieder hervorrufen; sobald das Licht gelöscht wäre, begänne das knochige Schlurfen draußen im Flur, dann das Pochen der blanken Knochen an der Schlafzimmertür und schließlich das Rufen,»ja, der Herr, ja?«
Ein Schlüssel sei nicht nötig, hatte Krombach erklärt, die Tür bliebe auch nachts geöffnet, überhaupt immer geöffnet, und das gehöre übrigens zu den Dingen, die wichtig seien für den Klausner und seine Bestimmung. Wieder hatte Ed das Gefühl, etwas nicht verstanden zu haben, irgendeine Bedeutung oder Bedingung vielleicht, die sich in den Worten Esskaa oder Crusoe versteckt hielt.
Es gab eine Feder, die dafür sorgte, dass das Türblatt hinter ihnen zuschlug, während sie die Treppe nach oben stiegen. Krombach öffnete Eds Zimmer, und augenblicklich umgab sie ein Schwall verbrauchter Luft, süßliche, fettige Luft, die man auf der Haut spüren konnte. Der Direktor fluchte leise, durchquerte mit zwei Schritten den Raum, riss den Vorhang beiseite und öffnete das Fenster. Für einen Moment flutete es; ein Gleißen, das sich zu Silber und dann zu einem sauberen Blau beruhigte. Vor dem Fenster der Körper des Meeres, übermächtig und verheißungsvoll.
«Eines unserer schönsten«, sagte Krombach.
Es war das Giebelzimmer, unmittelbar am Ausgang der Treppe. Von dort zog sich ein Korridor mit weiteren Türen links und rechts in die Tiefe des Dachgeschosses. Es gab einen Schrank, rechts von der Tür, dahinter das Waschbecken — breit, klobig, zwei graue Plastikwasserhähne. Unter dem Fenster ein Nachttisch und eine Lampe. Kein Stuhl, kein Tisch. Das Bett unter der Dachschräge.