Ich dachte an meinen letzten Tag auf der Insel. Wie ich das schwarze Wasser aus der Heizung des Klausners abgelassen und die Fensterläden verschlossen hatte. Wie ich das Gas der Zapfanlage abgedreht, den Salonstocher vom CO2 genommen und noch einmal gereinigt hatte. Als ich die Tür zur Terrasse hinter mir zuzog, war von drinnen Viola zu hören, Deutschlandfunk. Es war nicht so, als hätte ich jemanden zurückgelassen. Es war schwerwiegender, endgültiger.
Die Adresse unseres Treffpunkts war Polititorvet 14, 1780 Kopenhagen V, das Hauptgebäude von Rigspolitiet, der Polizei des Königreichs Dänemark, auch Politigården genannt, südwestlich vom Zentrum. Da ich den Platz vom entgegengesetzten Ende her betrat, musste ich das gesamte Gebäude umrunden.
Der Politigården war eine Festung, ein vierstöckiges Kastell, errichtet in der Form eines stumpfen Keils, ein antiker Komplex, überwältigend in seiner Größe und Helligkeit. Ich hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen, und mein erster Gedanke war: Warum gerade hier? Beinah gleichzeitig erfasste mich eine Art Demut und Feierlichkeit; die Knie wurden mir weich.
Wie in Notwehr wechselte ich die Straßenseite. Über der Straße hingen ein paar rostige Trichterlampen, es gab keine Bäume und seltsamerweise auch kaum Verkehr, und unfassbar blieb, dass sie dort liegen sollten, dort am Grund, in irgendeinem Keller, an den Fundamenten der Macht, auf denen dieses Gebäude errichtet worden war, dieses Raumschiff aus Beton, das alles Irdische verschlucken konnte, wenn es wollte, so viel war klar, auch die Toten, auch den Tod … So oder so ähnlich dachte ich.
«Ich hab seine Nummer«, hatte mir Jesper in seiner letzten Mail geschrieben. Jespers Quelle war Mitarbeiter im kriminaltechnischen Zentrum der dänischen Reichspolizei und dort» ein von drei mit diesen Akten«, wie er betonte,»ein von drei«, die es wissen mussten, die Bescheid wussten über die Dinge,»ein von drei «aus der» Abteilung Verschwunden«. Jespers Übersetzung des Wortes Vermisstenabteilung schien mir in jeder Hinsicht plausibel. Dass es die Abteilung Verschwunden sein würde, wo gesucht werden musste, war nach allem Hin und Her die entscheidende Information gewesen.
Schon am Telefon hatte mir Jesper das Ordnungsprinzip des Archivs erklärt: Nicht nur vermisste Personen würden von der Abteilung Verschwunden erfasst, auch alle anonymen Toten. Selbst wenn man wusste oder, wie der Hafenmeister von Møn, in Kenntnis der Strömungen und Umstände mit großer Sicherheit annehmen konnte, dass die menschlichen Überreste am Strand oder in den Fischernetzen Flüchtlinge aus Ostdeutschland waren, hätte es nie ein gesondertes Verzeichnis gegeben, keine weitere Herkunftsangabe, keine Extrarubrik — die DDR hatte nie existiert in den Gliederungen dieses Archivs, seiner Verwahrbücher, Asservate und Totenlisten. Funddatum und Fundort auf dem Boden des Königreichs, so hießen die Anhaltspunkte, nach denen das Ganze geordnet war. Auf gewisse Weise tauchten sie also noch einmal ab, diese Toten, diesmal im Ozean des Anonymen, Vermissten, Unbekannten — Abteilung Verschwunden.
Nach allem, was ich bis dahin in Erfahrung gebracht und in meinen Kopenhagen-Notizen festgehalten hatte (nach kurzer Suche war das Notizbuch meiner ersten Reise wieder aufgetaucht, und jetzt setzte ich es fort, um einiges gewissenhafter und, wie soll ich es sagen, auf bestimmte Weise auch verantwortungsvoller als damals, vor zwanzig Jahren), war es ein dreifaches Verschwinden.
Erstens: der Aufbruch. Aus Rücksicht hat der Flüchtling niemandem Bescheid gegeben. Er hinterlegt auch nichts, keinen Abschiedsbrief, kein Zeichen, er lässt Ausweis und Portemonnaie zurück, alles, um seine Nächsten zu schützen, das heißt, zu entlasten vom Vorwurf der Mitwisserschaft, der Fluchthilfe womöglich. Es geht darum, Mutter, Vater, Schwester und Bruder zu bewahren vor endlosen Verhören, Schikanen und Gefängnisstrafen. Zum ersten Verschwinden gehört, dass der Flüchtling die Wäschezeichen aus seinen Kleidern entfernt, Malimo, Modedruck etc., Indizien, die seine östliche Herkunft verraten könnten, falls ihn die Grauen Wölfe (die Grenzboote der Volksmarine) aufgreifen sollten, draußen auf dem Meer. Stunden später wird dieser Flüchtling vermisst, er ist ein Vermisster geworden. Nicht selten hat er seine Spur gekonnt verwischt — kein Verdacht, vielleicht bis auf den heutigen Tag. Die sogenannte Dunkelziffer — niemand wird jemals erforschen, wie viele dieser» Vermissten «Flüchtlinge waren.
Dann das zweite Verschwinden. Das Eintauchen ins Meer, der Fluchtversuch. Die hohe See, die Kälte, ein Krampf, nur Wasser und Wellen und niemandem Bescheid gesagt. Kein Trost also und keiner da, nur absolute Einsamkeit,»welche Kränkung, welche verdammte Kränkung ist das?«Dann die Phasen des Ertrinkens (des Erstickens), fünf Stadien werden unterschieden. Phase 1: Der Kampf des Flüchtlings vor dem Untergehen, Panikreaktionen, heftigste Bewegung, der Kopf noch über Wasser (Inspirationsphase). Phase 2: Die Apnoephase. Der Flüchtling taucht ab und hält den Atem an. Phase 3: Anreicherung seines Bluts mit CO2, was ein erneutes Luftschnappen erzwingt, ausgelöst durch maximalen Atemreiz. Phase 4: Wasser wird geschluckt, das sich in den Atemwegen mit Luft und Schleim der Bronchien zu einem weißen, dichten, feinblasigen Brei vermischt (Phase der Dyspnoe). Verschluss der Stimmritze, wenig Bewegung, relative Ruhe. Erst dann, bedingt durch Sauerstoffmangel im Gehirn, beginnen die Erstickungskrämpfe, das heißt: Wiedereinsatz heftigster Bewegungen, Zerreißungen der Atmungsmuskulatur, Kampf ums Überleben — der Flüchtling verliert das Bewusstsein. Phase 5: Exitus. Der Tote auf dem Meeresgrund. Sein Stoffwechsel ist entgleist, sein Kreislauf zusammengebrochen, das Herz steht still.
Zum zweiten Verschwinden gehört auch die Strecke unter Wasser, die der tote Flüchtling zunächst auf allen vieren zurücklegt. Seine Leiche treibt wie ein müder, schnüffelnder Hund über den Meeresboden, mit gesenktem Kopf auf dem Grund — schleifende Stirn, schleifende Knie, schleifende Hände, Abschürfungen bis auf die Knochen, abgeschliffene Knochen. Die Extremitäten hängen herab und wirken wie der Kiel eines Schiffes. Eine Zeitlang ist er dort unten mit den kalten Strömungen unterwegs. Dann Fäulnis, Faulgase, Auftauchen, Auflösen: die Fresstunnel der Aale, nagendes Getier, große und kleinste Lebewesen, ein stetiger Zerfall. Nicht wenige Leichen bleiben und werden Teil der Gezeiten, Teil der Ostsee,»Meer des Friedens«, Endstation. Manche werden angeschwemmt. Entweder am verhassten oder am ersehnten Ufer.
Dann das dritte Verschwinden.
Jesper erwartete mich unter den Arkaden, einer Vorhalle auf der Südseite der Festung. Wir hatten uns kaum begrüßt, als seine Quelle auftauchte und uns eine Treppe hinauf zum Pförtner führte. Die Quelle war schlank, überraschend jung und hatte etwas von einem Laufburschen an sich, obwohl sie ohne Zweifel zu den Ranghöheren gehören musste. Während ich Namen und Adresse in ein Buch eintrug und dafür ein Plastikkärtchen erhielt, befragte Jesper seine Quelle. Sie scherzten, aber es war mehr Verlegenheit, soweit ich das beurteilen konnte, ohne ein Wort zu verstehen. Auch der Pförtner in seinem Kasten aus braun getöntem Sicherheitsglas sagte etwas, was ich nicht begriff, worauf Jesper an mich herantrat und das Kärtchen an der Brusttasche meines Hemds befestigte. Erst jetzt nahm ich ihn wirklich wahr; sein Kopf war frisch rasiert, und etwas rührte mich an diesem Anblick — das Unverstellte seines Schädels, das der Unverstelltheit seines Wesens entsprach (als trüge man Haare nur zur Tarnung oder Täuschung), jedenfalls empfand ich es so in diesem Augenblick. Seinen armeegrünen Parker hielt er bis zum Hals verschlossen, die Kapuze stand ihm hoch im Nacken, wie der Kragen eines Edelmanns aus früheren Tagen. Ich stellte mir vor, die Hand auszustrecken und über seinen Kopf zu streichen: Danke, Jesper.