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Mein Kärtchen hatte die Nummer 14, und Jesper erklärte, dass ich es am Ende wieder abgeben und mich im Buch des Pförtners austragen müsse. Er fügte hinzu, dass ich mich nicht wundern und dem Gang der Dinge einfach vertrauen sollte. Erst jetzt begriff ich, dass er nicht mitkommen würde. Für einen Moment fühlte ich mich schwach. Die Quelle berührte mich am Arm, und mein Blick fiel auf das Schild an seiner Brust: ein Name, an den ich mich nicht mehr erinnern kann, darunter die Bezeichnung Konsulent.

Zu meiner Überraschung führte mich der Konsulent nicht in die Festung, sondern in ein anderes Haus, das schräg gegenüber lag und zum Komplex der Polizeigebäude an diesem Platz gehörte. Es war ein fünfstöckiger, hanseatisch wirkender Ziegelbau. Durch den Tunnel einer Einfahrt gelangten wir in den Innenhof und dort an eine schmale, schneeweiße Tür. Der Hof machte einen seltsam zivilen Eindruck. Ich sah Wäsche auf den Balkonen und eine Lichterkette in einem der Fenster.

Der Konsulent gab einen Code ein und sagte etwas auf Englisch zu mir. Ich formte einen unbestimmt-neugierigen Laut, und die Tür öffnete sich. Hintereinander stiegen wir über eine sehr enge, verwinkelte Treppe in die Tiefe. Dann eine Feuertür, die nicht verschlossen war. Es gab kleine Absätze, Stahlkanten im Boden, auf die man achten musste, schwarz-gelb markiert, wie in einer Fabrik. Unter der Decke verliefen die Rohre einer Klimaanlage; ich hörte das tiefe Brummen des Aggregats, und unweigerlich musste ich an Rebhuhns Maschine denken. Angst.

Der Raum war sehr groß, einer Werkhalle ähnlich. In einiger Entfernung überragte eine kleine Kabine die Regale, die an die Kajüte eines Kutters erinnerte, hell erleuchtet. Eine Weile gingen wir stumm zwischen Regalen entlang, und ich beruhigte mich. Schwarze Schuber, beschriftet mit Jahreszahlen, stabiler Karton. Wie Schubladen hatte jede dieser Kassetten an der Vorderseite einen Metallgriff oder eine graue Schlaufe, in jedem Fach standen zwei oder drei davon übereinander, und erneut spürte ich das Verlangen, meine Hand auszustrecken. Der Konsulent blickte sich um und begann zu rufen.

Vor der Kutterhütte angelangt, bog er ohne weiteres ins Halbdunkel der Halle ab und verschwand. Wie erfunden stand vor mir ein Mann, der sich sogleich mit seinem Namen vorstellte und mich bat, ihm zu folgen. Er trug eine dünne, braune Kittelschürze, in deren Brusttasche ein Brillenetui und ein Spannungsprüfer steckten, ein Werkzeug, das mir aus der Werkzeugsammlung meines Vaters geläufig war.

Keine Ahnung, woher Henri Madsen (Henri oder Hendrik, Madsen oder Mattson, die Anspannung war einfach zu groß, um alles genau zu verstehen) so plötzlich gekommen sein konnte, vielleicht war er die ganze Zeit zwischen den Regalen gewesen, vielleicht hatte er dort gestanden, im Verborgenen, und unsere Ankunft erwartet.

Zuerst eine kleine Holztreppe mit Geländer. Die Kutterkabine war viel geräumiger, als ich angenommen hatte. Unter der Fensterfront stand ein langer Schreibtisch, einer Werkbank ähnlich, genau genommen war es eine Werkbank. Zwei Arbeitslampen und ein Computerbildschirm. Eigenartigerweise lag dort auch Werkzeug, gutes sauberes Werkzeug, verschiedene Zangen, Schraubenschlüssel, eine Bohrmaschine, etwas Draht. Im hinteren Teil schloss sich ein weiterer, kleinerer Raum an, ohne Beleuchtung; seine Koje, dachte ich, unsinnigerweise.

Henri war groß und hatte die Gestalt eines gealterten Schwergewichtsboxers, er musste weit über hundert Kilo wiegen. Er bot mir einen Hocker vor seiner Werkbank an und fragte, aus welcher Gegend ich käme. Da mir das Herz bis zum Hals schlug, bemerkte ich zuerst nicht, dass er akzentfrei Deutsch sprach. Als ich es sagte, nickte er nur.

«1945 ist meine Großmutter mit meiner Mutter, die damals freilich noch ein Kind war, aus Deutschland geflohen. Mit einem der letzten Schiffe, von Ostpreußen über die Ostsee, nach Kopenhagen. Viele Flüchtlinge sind hier gestorben, nach Kriegsende, vor allem die Kinder. Manche liegen auf Kriegsgräberstätten, mit Name und Datum, wo das möglich war, ein Jahr, zwei Jahre, kein Jahr alt. Wo deutsche Soldaten waren, finden Sie diese Gräber, faktisch also überall auf der Welt. Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Herr Bendler, das heißt viel Geld und gute Verträge — davon können Ihre Toten nur träumen, nicht wahr?«

Ich hatte keine Ahnung, was Madsen über mich dachte, wie er mich einschätzte und was er wusste über meine Motive. Er lächelte nicht, sein Gesicht blieb verschlossen. Trotzdem fasste ich sofort Vertrauen, vielleicht wegen des Werkzeugs, weil er ein Mann des Werkzeugs war. Und er hatte ohne jedes Zögern zu sprechen begonnen. Als stünde für ihn schon lange fest, wie die nächsten Stunden verlaufen mussten.

In seiner Familie (im deutschen Zweig, so fuhr Henri fort) gebe es eine entfernte Verwandtschaft mit Friedrich von Hardenberg. Auch seine eigenen Vorfahren wären einmal im Bergbau tätig gewesen, wie Hardenberg, der Dichter.»Unsereins zog es schon immer in die Tiefe«, sagte Henri. Er begann zu erzählen. Ich sah, dass es ihn überraschte (und freute), dass ich wusste, wer Hardenberg gewesen war, und ohne weiteres begann er ein paar Worte aus den Hymnen zu zitieren:»Hast auch du ein Gefallen an uns, dunkle Nacht? Was hältst du unter deinem Mantel …«

Verse von Novalis zu hören, in der Halle dieses Kellers, aus dem Mund des Archivars der Abteilung Verschwunden, war so wenig von dieser Welt, dass ich momentlang nach dem Holz der Werkbank griff; es war glatt, an den Kanten gerundet oder abgenutzt, vor allem aber: Es war da. Ich sah hinaus, über die Reihen der Regale, deren Enden in einer nicht absehbaren Ferne lagen, und entgegnete, dass meine Eltern gerade dort, wo von Hardenberg seine letzten geologischen Bohrungen vorgenommen hätte, zwischen Zeitz und Gera nämlich, noch heute einen Garten besäßen.

«Ostdeutschland kenne ich leider kaum«, sagte Henri. Er öffnete ein Fach unter der Werkbank und zog ein Blatt heraus. (Es war ein einziger Griff, er hatte alles vorbereitet.) Das Papier war voller Signaturen, in mehreren Spalten, sauber mit Hand untereinandergeschrieben. Er tippte darauf und sah mich an. Sein dichtes, blondes Haar war grau über den Ohren.

«Ehrlich gesagt, hat hier niemand mehr daran geglaubt, dass Sie kommen würden. Ich meine, irgendjemand — kommen würde. Nach all der Zeit.«

«Sie waren nicht leicht zu finden gewesen.«

Langsam schüttelte Henri den Kopf.

«Das ist ein sehr großes Gebäude, Herr Bendler, mitten in Kopenhagen. Und wir waren immer hier. «Er legte die flache Hand auf den Tisch, um den Ort noch einmal zu markieren.

Erneut wurde mir die Irritation bewusst: Vermisstenabteilung des Königreichs Dänemark. Aber niemand in Dänemark hatte diese Toten (meine Toten, hatte Madsen gesagt) je vermisst. Niemand in diesem Land würde je Anspruch erheben auf ihre Körper, von hier aus würde es keine Vermisstenanzeige geben, die zu den Flüchtlingen von damals führen konnte, keine Spur. Für sie gab es nichts als dieses Archiv, Abteilung Verschwunden. Das dritte Verschwinden.

Bevor ich etwas antworten konnte, stand Henri auf und schaltete im hinteren Teil seiner Kajüte das Licht ein.»Hier habe ich damals einen Arbeitsplatz eingerichtet, für Forschungszwecke. Ein Lesegerät und ein Computer, ein Commodore, inzwischen natürlich veraltet. «Er berührte den kleinen stahlgrauen Bildschirm, und wir kehrten zur Werkbank zurück.»Als die Mauer fiel, habe ich zusätzliche Kapazitäten angeregt und eine Benutzerordnung entworfen. Ein kleiner Lesesaal war im Gespräch. «Sein Blick ging in die Halle hinaus.»Bitte entschuldigen Sie, wenn ein paar grammatikalische Dinge … Man wird unsicher im Deutschen, über die Jahre. «Er schob mir ein Blatt über den Tisch, Ordnung für Benutzer.