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Ich ergriff die Gelegenheit und überreichte, praktisch im Gegenzug, die Mappe mit dem Foto Sonjas und den von mir zusammengestellten Angaben. Er schlug die Mappe auf und warf einen langen Blick auf das Foto.

«Wie gesagt, Herr Bendler, Sie sind unbefugt.«

Bisher hatte er es nicht gesagt.

«Nötig wären zuerst eine Anzeige und ein Suchauftrag bei den Polizeibehörden Ihres eigenen Landes, im besten Fall bei Ihrer Regierung, die sich dann mit der Regierung Dänemarks und diese wiederum mit meinen Kollegen aus der Forensik in Vanløse in Verbindung setzt. Zudem erfordert ein Antrag auf Einsicht ausführlichere Unterlagen, genauere Angaben zum vermutlichen Zeitpunkt der Flucht, brauchbare Fotos, Details, wenn möglich, und so weiter.«

Langsam klappte er meine Mappe wieder zu und legte zwei Finger darauf.

«Das ist ein sehr langer, sehr komplizierter Weg, Herr Bendler. Und nicht jeder ist dafür gemacht, verstehen Sie, was ich meine?«

Er räusperte sich, und eine Weile blickten wir hinaus auf die Regale, gemeinsam, nebeneinander, wie Offiziere eines verlorenen Schiffes auf ihrer nutzlosen Brücke.

«Was ich sagen will, Sie sind der Erste hier, nach vierundzwanzig Jahren, wer hätte das gedacht? Als hätte sie niemand vermisst, unsere Toten.«

Er fügte hinzu, dass das natürlich nicht der Fall sei, niemals der Fall, im Gegenteil, ganz und gar nicht. Und eigentlich handele es sich um zweiundfünfzig Jahre — seit dem Mauerbau. Allerdings sei er selbst erst dreißig Jahre hier unten.

Madsen hatte sich erhoben.

Mein Besuch war beendet.

Ich wollte ebenfalls aufstehen, doch seine Hand verhinderte es. Mehr noch: Sie lag schwer auf meiner Schulter, zwei, drei lange Sekunden, schwer wie ein Stein.

Er begann eine kleine Rede, für die er offensichtlich stehen musste, sein Kopf berührte beinah die Decke der Kabine:»Dreißig Jahre und nie ein Grund zur Klage, Herr Bendler!«

Satz für Satz rekapitulierte Madsen die wechselhafte Geschichte der Vermisstenabteilung, zu der, wie er sagte, drei vollwertige Mitarbeiter zählten, drei gute, ja, hervorragende Polizeibeamte mit Büros in Vanløse. Einen Archivar gäbe es nicht im Haus. Diesen habe es nie gegeben, nur ihn und seine Stelle als technischer Mitarbeiter. Die Überwachung aller Räume, vor allem der Belüftungs- und Klimaanlage erfordere viel Aufmerksamkeit, weshalb er seine Werkstatt von Anfang an hier unten, bei den Toten, eingerichtet habe, damals jedenfalls sei das der Hauptgrund gewesen. Über die Jahre sei er dann mit den Umständen vertraut geworden, nach und nach. Bei Evakuierungen, Umbauten, der Einführung neuer Lagerregale, der Neuordnung der Akten in Kassetten aus säurefreiem Karton und so weiter habe er, zwangsläufig gewissermaßen, Kenntnis erworben über Aufbau und Inhalt dieser einzigartigen Sammlung, und seitdem, er könne das nicht anders sagen, stehe er in ihrem Bann, und zwar bis zum heutigen Tag.

«Die Anonymen erscheinen verdächtig allein aufgrund ihrer Namenlosigkeit — ist das nicht ungerecht, Herr Bendler? Früher haben die Seefahrer komplizierte Tattoos und Ringe getragen, damit man sie, falls sie angeschwemmt wurden, an ihrem Körperschmuck erkannte. Schon damals wusste man, wie trostlos es ist für einen unbekannten Toten auf dieser Welt. Einer Person ohne Namen vertraut man nicht, im Gegenteil, man findet sie abstoßend und hässlich. Kein Name, das heißt keine Abstammung, keine Familie, weder Mutter noch Vater, und so liegen sie hier in den Regalen wie aus der Kette gefallene Glieder. Sie sind noch da, aber sie haben sich verloren. Dieser Keller hier ist jetzt ihre einzige Heimat, Herr Bendler, der allerletzte Ort. Und gewissermaßen haben sie nur mich, der sie noch kennt, nicht vom Namen, aber von Fotos, Gutachten, ein paar Gegenständen.«

Madsen räusperte sich und machte eine Pause. Die Pause war kein Zufall, eher eine Gedenkminute. Ich empfand weder Verlegenheit noch Nervosität, die Stille tat gut. Von irgendwoher ein leises Donnergrollen, vorbeirollende Lastzüge vielleicht, oben auf der Straße, die den stumpfen Keil der Festung umschloss.

Vor allem um noch besser zu begreifen, was man ihm hier anvertraut habe, ihm, dem Hausmeister, so fuhr Madsen fort, habe er, insgeheim und ganz aus eigenem Antrieb, damit begonnen, sich weiterzubilden, und zwar auf allen Gebieten, Kriminalistik, Forensik, Asservatenkunde. Er habe seine Zeit genutzt, und, nein, nicht dass er sich selbst wichtiger machen wolle, als ein Hausmeister jemals werden könne in dieser Welt, aber inzwischen sei er es wohl, der am genauesten Bescheid wisse über dieses Archiv und seine Bestände.

Madsen tastete nach dem Spannungsprüfer in seinem Kittel (nach seinem Herzen, dachte ich) und warf einen Blick auf die Werkzeuge, als müsse er rasch noch einmal überprüfen, ob von dem, was jetzt nötig sein würde, alles vorhanden war.

«Vierundzwanzig Jahre, zweiundfünfzig Jahre, das ist einfach zu viel Zeit. Keine Benutzerordnung dieser Welt hält das aus, so lange, ich meine — ohne Benutzer. Das ist meine Meinung, Herr Bendler. Aber ich bin nur der Hausmeister hier. Auch ich bin unbefugt, verstehen Sie?«

Ich nickte. Ich verstand, dass er mich als eine Art Abordnung begriff, eine Delegation, ein Mann für alle seine Toten.

«Bitte warten Sie hier. Und bitte, bedienen Sie sich.«

Er wies auf einen Teller mit Biskuit, daneben eine Thermoskanne und zwei Plastiktassen.

In der Tür drehte er sich noch einmal um.

«Bei Novalis sind die Toten die Guten, Herr Bendler!«Dann seine Schritte auf der Treppe.

Draußen begann eine Art Blitzlichtgewitter, ein paar hundert Neonröhren sprangen an. Von meinem Platz auf der Brücke konnte ich sehen, wie Henri die Regale ablief. Etwas war mit seinem Gang; ein leichtes Hinken, oder nur seine Schwere, die ausschwingen musste. Er schob eine Art Servierwagen vor sich her, auf dem zuerst nur das Blatt lag. Der Wagen schepperte ohrenbetäubend über den Estrich, aber je öfter Henri in die Regale griff, umso ruhiger lief das Gefährt durch die Reihen.

Nach einer Weile kam er wieder an der Brücke vorbei. Er sah zu mir herauf und rief:»Biskuit, Herr Bendler, nehmen Sie Biskuit!«Dann bog er nach rechts ab, in den moderneren Teil des Archivs.

Mit einem leisen Raunen glitten vier oder fünf gewaltige, grau lackierte Archivschränke über den Boden. Er berührte sie ganz leicht (offensichtlich gab es eine Tastatur), und sie begannen sich etwas schneller zu bewegen, wie eine Karawane Elefanten aus Stahl. Die Werkbank vibrierte, und es knackte im Commodore. Ohne Eile strich Madsen zwischen diesen Ungetümen entlang, er war ihr Dompteur, mit braunem Kittel und erhobenen Armen, und es war ein Wunder, dass sie ihn nicht zerquetschten, oder doch kein Wunder, wenn man sah, mit welcher Eleganz der große schwere Mann dahinglitt durch die schmalen Gassen; ab und zu war ein leichter, fast kindischer Schwung in seinen Hüften, und am Ende jeder Drehung war es auch ein Streicheln, eine zärtliche Entschlossenheit: ein einziger Griff und ein weiterer Schuber landete auf seinem Wagen.

Alle Überzeugungen, die mich auf meiner Reise begleitet hatten, erloschen in diesem Moment. Ich spürte nichts mehr von jener Treue, die vielleicht doch nur ein Pflichtgefühl war, genährt von einer alten, kaum noch messbaren Schuld, nichts mehr von der Erregung des Versprechens und jenem Willen, es einzulösen, wie auch immer, der Beweis, es wert zu sein, der Freundschaft wert, all das — nichts davon spielte noch eine Rolle. Nur dieser Augenblick von klarer Schönheit, dieser, wie soll ich es nennen, Totentanz. Als wäre ich nur dafür hergekommen, in diese Loge unter der Erde, ein Mann Publikum in dreißig Jahren.

Nicht nur bei Novalis, auch bei Trakl waren die Toten die Guten — in diesem Augenblick begriff ich es. Trakl war nicht nur ein Trauma, er war auch eine Sehnsucht gewesen. Ich fragte mich, ob es mir gelingen würde, ungesehen den Ausgang zu erreichen. Ob der Code auch von innen nötig wäre. Ob ich den Weg nach oben schaffen konnte, ohne die Quelle.