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Keine Ahnung, wie das, was folgte, Teil irgendeines Berichts werden kann. Als ich in diesen Tagen noch einmal mein Kopenhagen-Notizbuch zur Hand nahm, hielt ich es für wahrscheinlicher, dass irgendwer dort eingeschrieben hatte, irgendjemand, der an alldem interessiert gewesen war, aber nicht ich. Jemand hatte das notiert, mit hastiger Schrift, über einige Seiten, genau so:

– Fuß in Schuh, faulig. Stumpen, Knochen wie abgebissen, M: Sportschuh fkt. wie Schwimmweste, Rest d. Leiche fehlt

– Frau: keine Lippen, keine Nase, Gesicht nur aus Zähnen, Arme schwarz, voller Algen, M: Algenrasen

– Oberkörper Mann: löchrig, wie erschossen. Aale, sagt M., übl. Tierfraß

– Frau wie Gummipuppe, aufgebl., Fransen, glänzig, M: Fettwachs, Leichenlipid

– Frau mit blankem Schädel, abgeschliff., ringsum Haut, M: Treibspur, Abschürf., Gesicht auf Grund

– Mann im Mantel, weiße Blase vor dem Mund, M: Schaumpilz

– Mann mit Baumwurzel auf Brust, schwarz, wie tätowiert, M: Venennetz schlägt durch

– Person, unbestimmbar, ohne Umriss, M: Schiffsschraube, grobfetz. Zertrümmerung. 20 Seiten Text, Fotos, Gesamtansichten u. Details

– Torso von Mann, M: Kopf und Arm 4 km weiter, Fundstellenfoto, Verstümmelg. durch Bisse, Tierfraß, evtl. streun. Urlauberhunde.

Und so weiter.

So steht es geschrieben. Aber daran erinnere ich mich nicht. Nur an das Gesprochene. Das Gesprochene war wie ein Geräusch, das man im Traum hören kann. Satz für Satz, ohne Worte. Alle träumten dieses Geräusch: Madsen, die Toten und ich. Es lag keine Mitteilung, keine Botschaft darin, es war einfach in allem enthalten. Es war im Halbdunkel der Halle, im Labyrinth der Regale, in den Fotos auf der Werkbank, und nur ab und zu tauchte etwas vom Gesagten daraus auf.

«Stell dir vor, Ed, sie wohnen dort unten. Sie sitzen an Tischen, gehen spazieren, sind frei, sie alle sind frei.«

«All diese Leichen, Ed, es war, als würden sie vorübergleiten in der Finsternis, kostbar, wie lebendig oder heilig jedenfalls.«

Ich zählte vier grüne Lichter. Das waren die Notausgänge, je zwei an beiden Enden der Halle. Jeder Traum musste einen Notausgang haben, sonst war es kein Traum. Andererseits gab es Träume von großer Klarheit, Träume, in denen alles zusammenpasste, unfassbar real.

Zuerst erkannte ich das Hemd. Er hatte es getragen, Jahrgang 89, das Foto zum Saisonbeginn. Dann die Lücke zwischen den Vorderzähnen. Dann seine Haare, blonde Haare, seltsam unversehrt (engelsgleich — das Wort war da, ohne dass ich es selber dachte, und obwohl ich versuchte, es sogleich zu streichen, blieb es haften in meinem Kopf), der Körper hingegen wie geschwärzt und aufgebläht. Trotzdem konnte man noch ahnen, dass der Tote ein dünner, schlaksiger Mann gewesen war. Speiche.

Um sicher zu sein, bat ich Madsen, mir den gesamten Obduktionsbericht und das Gutachten der Polizei zu übersetzen. Er begriff, dass ich auf etwas gestoßen war. Jemand, den ich nicht gesucht, aber gefunden hatte. Seine Mühe lohnte sich.

Es gab ein Stück von Speiches Hemd, auf Pappe geklebt (die Kleiderkarte, sagte Madsen), und ein bleistiftdickes Bündelchen Haar, in Silberfolie. Auf dem Kopfbogen seiner Akte stand eine Nummer, und ich fragte Madsen danach.

«Das ist die Nummer seines Grabs. Seine Nummer im Liniengrab.«

«Was ist das, ein Liniengrab?«

«So nennen wir die Friedhöfe der Anonymen.«

«Was heißt Linie, was ist gemeint damit?«

«Die Toten liegen auf einer Linie. So kann man sie wiederfinden, jederzeit, mithilfe der Koordinaten, die diese Nummer enthält. Sie bezeichnen die genaue Lage des Körpers in der Erde. Wie Sie wissen, gibt es auf den Gräbern der Namenlosen keinen Stein, kein Kreuz, nur Gras, sonst nichts.«

«Die Körper werden nicht verbrannt?«

«Nein. Die Toten warten, gewissermaßen. Ich meine, für den Fall, dass doch noch jemand kommt, der Anspruch erhebt auf ihre Überreste. Ihre Liegezeit ist unbegrenzt, und auch diese Akten hier werden ewig aufbewahrt, kein einziger Fall wird als abgeschlossen betrachtet, solange wir keinen Namen haben. Anfangs liegen die Körper in den Schlafsälen der Gerichtsmedizin, minus zwanzig Grad. Manche ein ganzes Jahr oder länger, das ist schon vorgekommen. Irgendwann werden sie dann abgeholt und dorthin zurückgebracht, wo man sie gefunden hat.«

«Zurückgebracht?«

«Dorthin, wo sie gestrandet sind — die Kommune ist zuständig für sie, so ist das Gesetz. Für ihn war das Stege, der größte Ort auf Møn, das Liniengrab in Stege.«

Befreit aus der Enge des Regals, verströmten die Akten einen eigentümlichen Dunst, der das Bewusstsein trübte. Es war kein Altersgeruch, nicht Leim oder Fäulnis, nein — das Papier roch krank. Ich atmete, ein und aus, im Grunde ging es nur darum auf dieser Welt, es ging darum, regelmäßig zu atmen. Die Toten lagen nicht in Kopenhagen, nicht auf Bispebjerg Kirkegård. In Kopenhagen wurden sie obduziert, und alle Akten und Berichte blieben hier. Sie selbst aber reisten zurück ans Meer, sie wurden am Meer begraben, vorläufig, unsichtbar, auf einer Linie.

Kopenhagen machte den Eindruck einer rundum soliden Stadt, die Häuser am Wasser waren aus Ziegeln gebaut, hartgebrannt, nordisch. Ab und zu ein Rudel kaputter Fahrräder, das sich gegen eine Hauswand drängte, ängstlich ineinander verkeilt, wie eine Tierart, die keinen Unterschlupf gefunden hatte. Die Dämmerung hatte bereits begonnen, erleuchtete Fenster, nach denen man sich augenblicklich sehnte, obwohl ringsum alles fremd war. Ich erkannte die alte Sehnsucht nach der Höhle, dem einsamen Glück, irgendwo verkrochen in diesem Zimmer, an diesem Tisch, im Licht dieser Lampe, unter der man endlich still werden konnte, weit weg von allem und jedem. Nach Speiche hatte ich die Reste meiner Willenskraft auf einen einzigen Punkt konzentriert und Madsen erklärt, dass ich gern wiederkäme — morgen, übermorgen, die nächsten Tage.

Zwei oder drei Stunden lief ich umher, und es war bereits dunkel, als ich ein Café mit dem Namen L'Esquina betrat. Ich bestellte etwas, holte mein Notizbuch heraus und begann, alles festzuhalten, alles, was ich gesehen und gehört hatte an diesem Nachmittag. Am Ende auch den Namen des Cafés und den Namen der Straße (Ryesgade 76) und dass es Hirschköpfe gab an den Wänden, an denen die Speisekarten aufgehängt waren, und so weiter — alles ganz mechanisch. Ich sah mir das Café an, den Tresen und die Leute draußen, weil ich wusste, dass ich mir das alles noch notieren musste. Es fiel mir schwer, den Stift abzusetzen, mein Handgelenk wurde steif, aber ich schrieb, die Finger verkrampften, aber ich schrieb, ich ritzte Zeile für Zeile ins Papier, ganz Kopenhagen, ohne einen einzigen Gedanken.

Im Hinterzimmer des L'Esquina gab es ein kleines Frisörgeschäft, zweifellos war das der Clou des Cafés. Durch eine Glastür, auf die der Schattenriss einer überdimensionalen Schere geklebt war, konnte man der Frisörin bei der Arbeit zusehen. Ich hatte gerade begonnen, ein Sandwich zu essen (das Sandwich in der einen, den Kugelschreiber in der anderen Hand), als die Friseurin ihr Geschäft abschloss. Sie war schon im Mantel und hatte einen Müllsack aus Plastik dabei. Sie ging in die Knie (es sah elegant aus) und versuchte, den Sack mit einem Zugband zu verschließen, aber es gelang ihr nicht. Ich überlegte bereits, ob ich mir das notieren sollte. Als sie an meinem Tisch vorbeikam, sah ich, dass der Sack voller Haare war — dass er überquoll von Haar.

Noch in der Tür überholte ich die Friseurin, aber ich schaffte es nicht mehr in irgendeine Ecke oder wenigstens einen Meter zur Seite. Genau genommen übergab ich mich direkt vor ihren Füßen. Eine junge Friseuse, sie hatte Feierabend, sie war gut gekleidet (und sicher verabredet zu einem Essen, Kino, Konzert oder sonst etwas), und ich stürzte ihr nach und kotzte ihr vor die Füße, ihr und mir und ihrem Sack voller Haar, diesem Wust, diesem wüsten, fleckigen Gewöll, diesem gescheckten, verknäulten und verklumpten Haufen menschlichen Mülls. Sie stieß einen kleinen dänischen Schrei aus, eine Art Schnarren auf ä, und rief etwas ins Café. Während ich kotzte, brüllte ich. Im Geiste brüllte ich sie an, gleichzeitig brüllte ich die Straße an, und ich brüllte in die Nacht von Kopenhagen: Warum bringst du diese Leichen an meinen Tisch? Was soll ich mit all diesen Leichen? Was?