«Bettwäsche am Ende des Gangs, bei Monika. Und morgen meldest du dich bei Koch-Mike, 8 Uhr, in der Küche«, diktierte Krombach leise und verschwand.
Erst Tage später erfuhr Ed, dass Monika oder Mona, wie sie auch genannt wurde, Krombachs Tochter war. Ihr Duft begann im letzten Drittel des Korridors, am Ende des Gangs lag die Tür zu ihrer kleinen Wohnung. Innerhalb der Besatzung führte sie den Beinamen» kleine Unsichtbare«. Sie hatte die Stellung eines Zimmermädchens, kümmerte sich aber kaum um die Zimmer. Dafür wusch sie alles, was es zu waschen gab, und übertrug ihren guten Geruch auf Bettwäsche, Geschirrtücher und Tischdecken, weshalb man sie öfter in unmittelbarer Nähe wähnte.
Auch Eds eigene Tür ließ sich nicht verschließen, aber er dachte nicht weiter darüber nach. Er war sicher, dass es in diesem Sommer (und Herbst und Winter vielleicht) keinen besseren Ort für ihn geben konnte; erst jetzt fiel ihm seine Tasche ein.
Auf der Terrasse hatte sich eine Gruppe von Urlaubern versammelt. Sie tranken Kaffee oder Bier und sahen aufs Meer hinaus. Jemand hatte Eds Bücher gewendet und zum Trocknen ein Stück weiter ins Licht der Sonne geschoben. Nichts fehlte. Ein großes Frühstück stand an seinem Platz: Mortadella, eine Käseecke und ein Klumpen Mehrfruchtmarmelade, der aus sich selbst heraus zu leuchten schien. Ed sah sich um, der Kellner, den sie Rimbaud gerufen hatten, nickte ihm zu. Ed fehlte der Kaffee, aber er wagte es nicht, danach zu fragen. Als er in sein Zimmer zurückkam, lag frische Bettwäsche auf dem Kissen, die alte war verschwunden. Er rief ein halblautes» Danke «in den Gang und lauschte. Er versuchte sich Monika vorzustellen. Er sah eine winzige Frau, schwarzes Haar, ein Zopf vielleicht. Kaum hatte Ed sein Bett bezogen, sank er um und schlief ein.
Die Beduinen zerrten jetzt so heftig an dem Tier (Wülste von Kamelhaut in ihren Fäusten), dass es flächig wurde, breit, sich dem Horizont der Wüste anglich. Es war die Art, das Tier zu benutzen, als fliegenden Teppich.»Die Beduinen hatten das Kamel klargemacht«, raunte der Erzähler.»Ein Sandstrahl traf ihre Sonnenbrillen, aber das war erst der Anfang einer langen Reise.«
Als Ed erwachte, hatte der Abend begonnen. Die Tapete über seinem Kopf schälte sich, wie verbrannte Haut. Die ganze Dachschräge war übersät mit den Resten erschlagener Insekten. An manchen Flecken hing ein kleiner Blutstreif, dem Schweif eines Kometen ähnlich. Manchmal war das Blut auch nur rundum verspritzt, wie nach einer winzigen Explosion. Ed dachte an sein erstes Zimmer mit dem Mond über dem Bett, den Sternen und dem Sandmann, der mit seinem gut geschnürten Sandsack und einem schönen, sauberen Diamant-Fahrrad über die Hügel einer dunkelblauen Nacht geradelt war. Er selbst hatte später nur ein Mifa-Fahrrad besessen, ein sogenanntes Klappfahrrad, das man zusammenklappen konnte, um es im Kofferraum oder sonst wo zu verstauen. Alles in seiner Kindheit war praktisch gewesen,»Wie praktisch!«galt als höchstes Lob: ein Klapprad, ein Klappbett (das man tagsüber wegklappte an die Wand, wo es zu einer Art Schrank mutierte) und Kleidungsstücke von nahezu unbegrenzter Haltbarkeit.
Trotz Schmutz und Geruch fühlte Ed sich geborgen in seiner neuen Behausung. Andere hätte ein solches Zimmer vielleicht entmutigt, dachte Ed, für mich ist es genau das Richtige. Er spürte eine Art Vorfreude, aber er hatte auch Angst zu versagen.
Das Bett war ein schwerer Kasten aus hell furnierten Pressspanplatten, die Matratze hatte eine Kuhle, in der Ed dem Schlaf seiner Vorgänger nachspüren konnte — er fand es nicht unbequem. Nur das Kissen war unbrauchbar, ein einziger Klumpen. Er würde seinen Pullover als Ersatz benutzen, nicht anders als in den Nächten zuvor. Ed war stolz auf diese Nächte. Er stand auf und warf das Steinkissen auf den Schrank; augenblicklich lag Staub in der Luft. Als er den Schrank öffnete, begann die Tür von innen zu schmelzen, in dunklen Wellen. Zuallererst war das ein Traum, aber schon im nächsten Augenblick schlug Ed auf das Fließen ein — heftig, hämmernd, fast hätte er das dünne Holz zerschmettert. Irgendwann war es vorbei, und er hielt inne, atemlos, mit rasendem Herzen. An der Sohle seines Schuhs klebte ein einziger Treffer. Ein halber, genauer gesagt, der hintere Teil des Körpers war zerquetscht, während der vordere noch immer zu entkommen versuchte. Von vielleicht fünfzig Kakerlaken hatte er nur eine einzige erwischt. Nur eine, dachte Ed.
Die Zwiebel
15. Juni. Die Arbeit war ihm fremd, und er benahm sich ungeschickt. Aber niemand kam, um etwas zu zeigen oder zu erklären, während er sich Eimer für Eimer in das Geheimnis der Zwiebel vertiefte. Auf Bewährung, dachte Ed, in diesem Hof, auf dieser Insel. Er versuchte, sich die Handgriffe seiner Mutter vor Augen zu führen, ihr blitzschnelles Hantieren mit dem Kleinenspitzen, wie sie das rasierklingenscharfe Messer mit dem ausgeblichenen Holzgriff und der bis auf wenige Millimeter heruntergeschliffenen Klinge nannte; er ahmte sie nach, er war seine Mutter, so gut es ging, ihre Haltung, ihre Bewegungen.
Sein Platz befand sich im Freien, an der Rückseite des Klausners, an einem der Futterkrippen-Tische. Er saß direkt unter den von Fettresten und Spinnweben verkrusteten Fenstern des Abwaschs. Der Abwasch war ein grau verputzter, länglicher Anbau mit einer Hintertür, die auf eine kleine quadratische Rampe führte. Ab und zu vernahm Ed Stimmen von drinnen und eine Art Singsang, den er nicht zu deuten wusste; beinah ununterbrochen das Klirren von Geschirr, dazwischen ein dumpfes Unterwassergedröhn, Besteck wahrscheinlich, das am Grund irgendeines Beckens hin und her gewälzt wurde. Wenn es still war, beobachteten sie ihn vielleicht, den reglosen Umriss seines verkrampften Rückens, ein nicht mehr ganz junger Abenteurer, der knielange, abgeschnittene Jeans trug, dazu ein rotes, um die Achseln weit geschnittenes Unterhemd, vielleicht amüsierte sie der Anblick. Seine Haare wurden von einem zerfaserten Stirnband hinter den Ohren gehalten, das ständig verrutschte; die Sonne stach ihm ins Gesicht. Dass es besser wäre, im Schatten zu sitzen, und vor allem nicht im Hof, sondern unter einer der Kiefern nah der Küste, wo es immer genug Wind gab um die Augen, hatte ihm niemand erklärt. Von sich aus hätte er es ohnehin nicht gewagt, den Hof zu verlassen. Er wollte zur Besatzung gehören, und das nicht nur auf irgendeinem Außenposten. Vor allem wollte er zeigen, dass er arbeiten konnte, Ausdauer hatte und Disziplin. Sieben Eimer am ersten Tag.
«Also, ich bin Koch-Mike«, hatte der schwergewichtige Mann mit den schwarzkarierten Clownshosen zu Ed gesagt,»Mike, nicht Maik, gesprochen wie geschrieben, also Mike. «Schweißperlen bedeckten seinen breiten Schädel und glitzerten wie Schmuck. In dem Stoffband, das seine fleckige Kochjacke über dem Bauch zusammenhielt, steckte ein Geschirrtuch, das er benutzte, um sich in Abständen die Stirn und den Nacken zu trocknen. Das Tuch war so groß, dass er es dafür nicht aus dem Gürtel ziehen musste, es baumelte wie ein riesiges Geschlecht zwischen seinen Beinen, manchmal warf er es sich auch über die Schulter. Die seltenen Male, die Koch-Mike sprach, Anweisungen gab oder fluchte, war er schwer zu verstehen, weil er die Unterbrechungen nutzte, um sich mit seinem Schweif übers Gesicht zu fahren. Ed hatte noch nie jemanden gesehen, für den der Begriff Arbeitstier zutreffender gewesen wäre. Fast beschämt über die gute Gelegenheit, etwas Unangenehmes abzugeben, hatte Koch-Mike die Zwiebeln aus der Kühlzelle in den Hof geschleppt und auf die Rampe gewuchtet, Eimer für Eimer. Ed dachte das Wort Strafarbeit, aber es kränkte ihn nicht, es berührte ihn nicht einmal.
Manchmal wehte ein leichter, warmer Wind über die Küste in den Hof, der genügte. Bei Windstille aber trieb es ihm unweigerlich die Tränen in die Augen. Es war ein endloses, unerbittliches Weinen, das irgendwo hinter den Augäpfeln begann und ihn dazu zwang, die Stirn in Falten zu legen. Wie ein hilfloses Tier reckte Ed das Kinn gen Himmel oder warf den Kopf zur Seite, aber davon wurde es nicht besser. Anfangs wischte er sich noch mit dem Handrücken übers Gesicht, dann gab er auf; er ließ den Tränen freien Lauf. Lichtflecken und Schwärme von Lichtpünktchen senkten sich über der Landschaft, tänzelnd wie Schnee. Es war das erste Mal, dass er weinte, seitdem.