An jedem Vormittag gegen elf Uhr wurde geliefert; der Kutscher Mäcki fuhr den Klausner an. Mäcki, ein kleiner stämmiger Insulaner mit Igelfrisur, die ihm wahrscheinlich zu seinem Namen verholfen hatte, benutzte die schmale, mit Panzerplatten ausgelegte Zufahrt, die vom Hafen her in weiten Bögen durch das Hügelland bis ans Haupttor der Kaserne führte; hundert Meter zuvor zweigte der Waldweg Richtung Klausner ab. Zuerst das dumpfe Pochen der Hufe, aber dann, im Hof, schwebte der gummibereifte Wagen fast lautlos heran. Mäcki musste sein Pferd nie festbinden; er hatte einen schmiedeeisernen Anker hinter dem Kutschbock, den er dort, wo er Halt machen wollte, hinunterstieß in den Sand. Ed, der beweisen wollte, dass er die Arbeit sah (»das ist einer, der die Arbeit sieht«— so lautete das Lob seines Vaters für Leute,»denen man nicht erst alles sagen muss«), half dem Kutscher beim Entladen. Wenn sie fertig waren, verschwand Mäcki durch den Abwasch in die Küche, ohne Dank, ohne Gruß.
Nach drei Tagen war Ed sicher genug. Sein Rücken schmerzte, aber das Schälen ging jetzt wie von selbst. Abgesehen von ein paar Urlaubern, die achtlos den Hof überquerten auf ihrem Weg zum Speisesaal (das Gebäude hinter dem Klausner beherbergte die Feriengäste), war niemand in der Nähe, wenn ihm das Wasser aus den Augen lief. Niemand, bis auf das Pferd des Kutschers, das seine schwarzen weichen Nüstern ab und zu still zu ihm hindrehte, so nah, dass er den warmen Pferdeatem spüren konnte in seinem von endlosem Wischen und Reiben geröteten Gesicht. Mit seiner zotteligen Gestalt und dem schwankenden Gang (das dicke Haar um die kurzen Beine, es franste herunter bis auf die schweren, unglaublich breiten Hufe) glich das Pferd einem Bären; es war eine Art Bärenpferd, bei dem Ed sich ausweinte, und wenn er den Blick hob, weinte er sich auch bei den Bäumen auf der Steilküste aus, jenen windflüchtigen Krüppeln auf dem Kliff, die auch ohne Wasser in den Augen aussahen wie verzerrt oder als duckten sie sich vor etwas, das ihnen in genau dieser Sekunde mit aller Wucht vom Meer her entgegenflog.
Langsam wurde Platz hinter seinen Augen, und er fühlte eine angenehme Leere in seinem Kopf. Er staunte darüber, wie zufrieden ihn die Arbeit machte. Er musste nichts denken, nichts reden, er genoss die Sonne und die verschwommene Anwesenheit des Meeres. Mit dem Horizont vor Augen schien ihm der Raum viel größer, den er bis an diesen Ort durchquert, die Entfernung viel weiter, die er bis hierher zurückgelegt hatte; das Meer dehnte die Zeit, und der Wind kühlte seine Wangen.
Mit Ausnahme Krombachs und Koch-Mikes hatte seit seiner Ankunft niemand mit Ed gesprochen. Die Schlafräume lagen auf einer Etage, zum selben Korridor, und sie benutzten dieselbe Toilette, weshalb es Begegnungen gab, die aber ohne Folgen blieben. Die Besatzung des Klausners hielt sich bedeckt, als sollte Ed, solange noch nichts endgültig entschieden war, möglichst wenig erfahren über das Schiff, auf dem er anheuern wollte. Es gefiel Ed, in den maritimen Begriffen Krombachs zu denken. Man brauchte nur ein paar Worte auszutauschen und das Ganze war ein Märchen, kaum weniger abenteuerlich als eine Fahrt auf der Ghost oder der Hispaniola. Seltsamerweise beruhigte ihn der Gedanke. Fünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste … Warum sollte er sein Leben nicht einfach an dieser Stelle fortsetzen können, wo es in der Kindheit aufgehört hatte? Kaum zehn Jahre zuvor. Warum sollte er nicht — auf bestimmte, mehr gedankliche Weise — dort wieder ansetzen können, wo die großen Vierteiler über Crusoe und Seewolf zu Ende gegangen waren, dort, in jenen Tagen? Bevor die Schatzinsel und die Geschichten über Alexander Selkirk und Peter Serrano, über Mosquito-William und die Flusspiraten des Mississippi und all die anderen Legenden der Kindheit ein für alle Mal ausgelesen und in straff geschnürten Bündeln (er erinnerte sich an den billigen, faserigen Strick) zum Altstoffhandel geschleppt worden waren … Noch einmal schämte er sich — obwohl man sich gar nicht schämen musste dafür, denn ohne Zweifel zählte der Altstoffhandel in dieser Zeit zu den allerhöchsten Instanzen, und zwar landesweit:»Flaschen und Gläser für Angela Davis «oder» Lumpen für Luis Corvalán«, Altstoff und internationale Solidarität gehörten zusammen, gingen ineinander über, unmittelbar,»für immer vereint«, waberte es Ed durch den Kopf, Leergut und Amerika, Lumpen und Chile, ein Bündel Volkswacht im Kampf für Unidad Popular und eine Kiste leerer Gurkengläser gegen Rassismus … Unter Führung des Altstoffhandels hatte Ed sich gelöst von der Literatur. Ohnehin galt als sicher, dass seine Zukunft (irgendein kaltes, holzschnittartiges Gebilde) im Bauwesen liegen, dass er auf den Bau gehen und eine Lehre als Baufacharbeiter beginnen würde, seit der achten Klasse und einem halbstündigen Termin im Berufsberatungszentrum, das zu Füßen des Frauengefängnisses von Gera lag, galt das als ausgemacht. Er konnte sich erinnern, wie er an der Seite seiner Mutter, endlos erleichtert, das Gespräch auf irgendeine zufriedenstellende Weise absolviert zu haben (Interesse heuchelnd, war er allen Empfehlungen gefolgt und hatte sich» entschieden«), das Gebäude der Berufsberatung verlassen hatte und dabei sein Blick auf das Frauengefängnis gefallen war, das hoch oben am Berghang thronte — und mahnte. Und jetzt, von seinem Platz im Hof des Klausners aus, mit dem Kleinenspitzen in der Hand und einem Eimer Zwiebeln zwischen den Beinen, schien es ihm noch einmal geradezu rätselhaft, dass er nur wenige Jahre später (Jahre auf Baustellen, in Baubuden) wieder bei den Büchern angekommen war, nur nicht bei Selkirk und Mosquito-William, nicht bei den Abenteuern seiner Kindheit, den Flusspiraten des Mississippi … Ein leichter Schwindel hatte Ed erfasst, und frische Tränen liefen über seine Wangen.
Täglich brachte ihm der Gehilfe Koch-Mikes das Essen in den Hof. Sein Name war Rolf. Rolf balancierte die Rampe herunter, stellte das Tablett auf den Tisch und verschwand sofort wieder, ohne ein Wort. Er trug eine steife, weiträumige Kochjacke; sie war wie ein Gehäuse, in das er sich bei Bedarf zurückziehen konnte wie eine Schildkröte in ihren Panzer.
Eds Frühstück kam gleich nach Arbeitsbeginn, aber das Mittagessen ließ auf sich warten; oft kam es erst um vierzehn Uhr, manchmal noch später. Meist Fleisch mit Kartoffeln und Mischgemüse. Oft verspürte Ed schon vor zwölf Uhr einen unabweisbaren Hunger. Irgendwann nahm er eine der Zwiebeln in die Hand und verspeiste sie wie einen Apfel, ohne innezuhalten. Zwiebel war (neben Blutwurst) die einzige Sache, die Ed nicht oder nur äußerst ungern aß — jetzt schmeckte sie ihm. Auch die Empfindlichkeit seines Magens schien plötzlich überwunden. Von da an nahm sich Ed an jedem Tag Punkt zwölf Uhr eine der großen selbstgeschälten Zwiebeln, später auch ein Stück Mischbrot dazu, das er aus den Frühstückskörbchen der Betriebsurlauber stahl. Es war eine Art zweites Frühstück; seine erste eigene Gewohnheit.
Das Tagebuch
Wenn Ed sich morgens aufsetzte in seinem Bett, sah er das Meer, das genügte für alles. Trotzdem trat dieses Glück nicht direkt mit ihm in Verbindung. Auf irgendeine Weise blieb es verschlossen, entweder in seiner Brust oder im Anblick des Meeres selbst mit den Signalen der Ozeanriesen draußen, oder es verbarg sich in der Dämmerung, die es eigentlich nicht gab; es gab nur das goldene Licht, das die fleckigen Wände langsam nach oben stieg und das Zimmer überschwemmte, und dann, nach Sonnenuntergang, den langen Finger des Suchscheinwerfers, der über das Wasser tastete und mit jeder Berührung die Wellenkämme zum Leuchten brachte, als wäre dort etwas.