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Ans Meer

Gefesselt vom Anblick der Topographien, die unter der Oberfläche des Wassers zu wandern schienen, wäre Ed fast gestürzt. Der Abstieg zum Strand führte über mehrere Tableaus aus Lehm und Sand, verbunden durch Treppen, die ihrer Bauart nach aus verschiedenen Jahrhunderten stammen mussten und in jämmerlichem Zustand waren. Von Stufe zu Stufe ergab sich ein neues Panorama. Der Anblick des Meeres! Ed fühlte die Verheißung. Und nichts anderes war es doch, wonach er sich sehnte, eine Art Jenseits, groß, rein, übermächtig.

Auf halber Höhe öffnete sich die Aussicht nach Norden, auf den höchsten Küstenabschnitt. Dort im Gestrüpp auf dem Kliff lag das Gelände der Beobachtungskompanie.»Keine große Bewaffnung«, so erzählten es die Festlandlegenden, andere raunten von extrem genauen Geschützen mit einer nahezu unvorstellbaren Reichweite.

Ed war der Einzige, der die Mittagspause dazu nutzte, ans Wasser zu kommen. Das Leben im Haus stand um diese Zeit still. Nach dem Chaos der Mittagsschicht mit den Schiffen voller Tagestouristen senkte sich Schlaf über die Lichtung. Ed erinnerte das an die Mittagsruhe seiner frühen Schulzeit, wenn sie nach dem Essen die Pritschen von der Rückwand des Klassenzimmers genommen und ausgeklappt hatten und wie auf Kommando in schwere Träume gesunken waren. Rimbaud fiel auf das abgewetzte Chaiselongue im Speisesaal, das in Verlängerung der sogenannten Leseecke aufgestellt war, ein kleiner runder Tisch mit Zeitschriften, FF-Dabei, Du und dein Garten, Guter Rat. Er ließ seine Füße mit den abgelaufenen Kellnerschuhen über die Lehne hängen und bedeckte sein Gesicht mit der Ostsee-Zeitung, die täglich mit dem Postboot angeliefert wurde. Alle Fähren, die zwischen den Inseln verkehrten, wurden von den Einheimischen» das Postboot «genannt. Schiffe, die vom Festland kamen, hießen» der Dampfer«.»Kommst du mit dem Postboot oder mit dem Dampfer?«, war eine der ersten, richtungsweisenden Fragen … Ab und zu legte Rimbaud sich auch zu den anderen auf die grasbewachsene Böschung am Waldrand, nicht weit von der Stelle, wo der Weg hinüber zum Leuchtturm begann. An manchen Tagen sah Ed dort alle drei Kellner nebeneinander, in ihren weißen, aufgeknöpften Hemden, regungslos ausgestreckt, wie erschossen, wie nach einem Blutbad zu Zeiten der Prohibition — drei tote Freunde, mit weit ausgebreiteten Armen, auf einem der Römerlaken:

«Was hast du all die Jahre gemacht?«

«Ich bin früh schlafen gegangen.«

Nur Kruso ruhte nie. Und er schien nie zu ermüden. Oft arbeitete er im Keller unter dem Abwasch, wo es einen Ofen zum Erhitzen des Wassers und eine Art Werkstatt geben musste. Oder er sammelte Totholz und trug es zum Hackstock. Sein Schurz aus einem rotkarierten Geschirrtuch, der freie Oberkörper, das zum Zopf gebundene Haar — tatsächlich glich Kruso einem Indianer, der mit großer Bestimmtheit, ja, mit Kraft und Eleganz, die nötigen Vorkehrungen traf — ohne dass Ed hätte sagen können, wofür. Es musste etwas Großes sein.

An jedem Tag wurde Holz gemacht, wie Kruso es nannte, Treibholz oder Totholz auf Ofenlänge geschnitten oder zerstückelt mit der Axt. Öfter baute er auch an seiner Barriere, die sich im Halbkreis um den Klausner zog, eine Art Wildzaun vielleicht, für den er weniger gutes, dünnes Unterholz geschickt ineinanderflocht und dabei die kleineren, dicht beieinanderstehenden Stämme der Kiefern als Pfähle benutzte. Er selbst nannte den Zaun die äußere Palisade, wobei nicht klar war, wo dann die innere Palisade liegen sollte. Die Palisade war eine natürliche Barriere, die sich begrünte mit der Zeit und von selbst zu wachsen schien.

War Kruso am Hackstock, vibrierte das Wasser in den Becken. Einmal hatte Ed ihn dabei beobachtet, wie gefangen vom Rhythmus der Axt und dem Anblick der ruhigen, kraftvollen Bewegung eines makellosen Körpers. Gewissenhaft wurde ein Holzklotz zu Scheiten zerkleinert. Ed wusste, dass es unmöglich war, ihn durch das verkrustete Fenster des Abwaschs zu erkennen, aber plötzlich hatte Kruso innegehalten und gewunken. Wenig später stand er an seiner Seite, die Axt noch in der Faust. Ernsthaft lächelnd (jene irritierende Verbindung zweier Ausdrücke in seinem großen, ovalen Gesicht) nahm Kruso ihn abermals am Arm und führte ihn im Hof herum.

«Der Garten muss geschützt werden, die Wildschweine pflügen alles um mit ihren Schnauzen«, dabei deutete er auf eine Anlage am Waldrand, in der mit gutem Willen einige Beete zu erkennen waren. Rund um die Anpflanzungen waren Schnapsflaschen eingegraben. Das Ganze erinnerte an den Garten eines Trinkers und seinen Wunsch nach Versöhnung mit der Welt.

Kruso ging in die Knie und legte seine Hand auf das Beet.

«Nur deshalb kommen sie hier herüber — sie wittern die Freiheit, sie sind wie die Menschen.«

Für einen Moment schaute er Ed in die Augen.

«Im vergangenen Jahr haben sie den Garten vollständig verwüstet, sämtliche Pilze und die heiligen Kräuter. Die Dosis war natürlich zu hoch. Danach fühlten die Schweine sich vollkommen frei, frei von allem. Sie sind etliche Runden geschwommen, rund um die Insel, und haben Gefechtsalarm ausgelöst. Hast du Schweine je schwimmen sehen, Ed? Vater, Mutter, Kind, in einer Reihe, so ziehen sie durchs Wasser, viel schneller, als du es für möglich hältst, mit weit aus dem Wasser gereckten Schnauzen. Und genauso haben sie sie abgeschossen, Vater, Mutter, Kind — paff, paff, paff. Sie dachten, was sie denken mussten: Flüchtlinge, hartgesottene Grenzverletzer, die nicht einmal auf Zuruf oder Warnschuss reagierten. Der Sand da unten war rot für eine Weile. Es dauerte Stunden, bis sie ihren Irrtum eingesehen und alle Kadaver aus dem Wasser gefischt hatten. Koch-Mike hat natürlich versucht, ein bisschen frisches Fleisch für den Klausner abzustauben, aber da führte kein Weg rein; Flüchtlinge werden wie Flüchtlinge behandelt: Es gibt sie nicht, und also gibt es keine Leichen — sie existieren einfach nicht.«

Kruso sah zu Boden. Seine Lippen waren blass, die Augen fast geschlossen. Dieser Mann war Ed fremd und doch vertraut. Und nicht wirklich vertraut — es war mehr ein Vertrauen, nach dem man sich sehnte.

Kruso zupfte etwas aus dem Beet. Für Ed waren Kraut und Unkraut nicht zu unterscheiden. Er versuchte, sich einen Reim auf die Geschichte zu machen, und wollte Kruso nach den Kräutern fragen.

«Die Schweine hatten zu viel Freiheit im Blut, verstehst du das, Ed? Diese Freiheit …«, er deutete auf den Kräutergarten und machte eine Handbewegung hinüber zum Klausner und verstummte.

Da der Strand zu Füßen der Treppe steinig war, wanderte Ed ein Stück Richtung Norden, bis zum ersten Küstenvorsprung, wo es sandige Stellen gab. Er hatte das große unhandliche Notizbuch dabei (mit der Widmung von G. im Einband), er verbarg es in seinem Handtuch. Ed hegte die Vorstellung, auf irgendeine Weise zu sich zu kommen in dieser Pausenstunde, das Meer zu atmen, nachzudenken, aber er war viel zu erschöpft. Also saß er einfach nur da und schaute hinaus. Seine Hände schienen, trotz Creme, wie aufgelöst, die Haut porös, weiß und faltig. Die Hände einer Wasserleiche, dachte Ed. Seine Fingernägel wackelten wie lose in den Nagelbetten, und hätte er es gewollt, hätte er sie mit wenig Mühe aus dem Fleisch ziehen können. Er öffnete seine Handflächen zur Sonne, legte sie in den Schoß und sah aufs Wasser hinaus.

Seine Augen hatten sich erholt, immerhin. Und die seifigen, fauligen Dünste des Abwaschs hatten den Umriss jenes Schreckens aufgeweicht, der ihm noch immer in den Knochen pochte (nicht gesprungen!). Seine Erschöpfung erinnerte ihn an seine Zeit als Lehrling auf dem Bau. An die fast vergessene Müdigkeit der jungen Jahre (wieder nannte er es so, als wäre er inzwischen alt), und er fühlte etwas wie ein Heimweh nach Arbeit. Eine körperliche, wie eingeborene Sehnsucht, die beinah in Vergessenheit geraten oder, mehr noch, vollkommen verschüttet worden war. Das Studium hatte ihn konturlos und beliebig gemacht. Bei der Arbeit wurde er sich wieder ähnlich, die Arbeit führte ihn zurück in eine spürbare Ähnlichkeit.»Müdseligkeit«, summte es aus seinen Beständen, woraufhin Ed Steine ins Wasser zu schleudern begann. Er fragte sich, ob er bestanden hatte, ob er jetzt der Abwäscher des Klausners war.