«Matrosen, ich möchte euch Edgar Bendler vorstellen.«
Der Direktor erhob sich. Sein auf diese Weise ausgesprochener Name, vollständig, kräftig, mit einem guten, fast fröhlichen Klang, berührte Ed. Es war wie eine seltene Zärtlichkeit, und für einen Moment erlosch das ungute Gefühl, es ginge dabei um einen Dritten, den er hier nur vertrat; ja, es war, als könne er jetzt davon ausgehen, dass er selbst an diesem Tisch saß und tatsächlich ein Teil war dieser für ihn noch gar nicht fassbaren Runde, angekommen im Herzen des Klausners, hoch über dem Meer.
«In einer für ihn schwierigen Situation und nach Nächten des Umherirrens …«
Es folgte eine kurze Rede, in der Krombach ihn mit einer halb erfundenen und halb zutreffenden Beschreibung» seines bisherigen Werdegangs «präsentierte. Niemand verzog eine Miene. Mit seiner flachen, offenen Hand deutete der Direktor schließlich auf jeden einzelnen Platz am Tisch, zuerst jedoch auf den leeren Stuhl rechts von ihm:
«Monika, meine Tochter — die heute entschuldigt ist.«
Seine Hand zeigte auf das Obergeschoss, dann begann sie ihre Reise rund um den Tisch.»Chris, Mirko und Rimbaud aus dem Service, unsere Kellnerschaft, hervorragend, ich möchte sagen unschlagbar. Sowohl in Schnelligkeit und Ausdauer als auch in Klugheit und Weisheit, gastronomisches und philosophisches Wissen sind hier aufs Schönste vereint. «Krombach lächelte. Keine Spur von Ironie oder Zynismus in seinem glatten, glänzenden Gesicht.»Mirko, promoviert in Soziologie, er kommt wie du, Edgar, aus Halle an der Saale und wird hier bei uns Cavallo genannt. Und hier, vom gleichen akademischen Grad, sein Freund Rimbaud, unser Philosoph — hab schon fast vergessen, wie du wirklich heißt, mein Lieber, einmal geheißen hast, meine ich …«Einen Moment lang stockte seine Hand auf ihrer Wanderung.»Kruso kennst du inzwischen, Schirmherr dieses Eilands, möchte man sagen, und auch Koch-Mike aus Samtens auf Rügen, mit dem du deine ersten Tage gearbeitet hast, ich habe darüber nur Gutes gehört. Rolf, unser fleißiger Smutje. Und dort, zu deiner Linken, sitzen Karo und Rick, das heißt Karola und Richard, unser Tresenehepaar, tatsächlich ein Paar! Sie und ich, wir haben, wenn ich das sagen darf, eine gemeinsame Vergangenheit, eine Hauptstadt-Vergangenheit, nicht wahr, sagen wir eine Palastgeschichte! Rick jedenfalls ist der, an den du dich wenden kannst in allen Fragen, er ist Chef der Bar und Chef des Service. Und rechts von dir René, unser Eisverkäufer, mein Schwiegersohn.«
Allein die letzte Mitteilung des Direktors wirkte seltsam gepresst. Das Auf und Ab seiner weichen, auf Kopfhöhe erhobenen Hand und ihr Weiterrücken im Halbkreis von Stuhl zu Stuhl erinnerte Ed an die Erteilung des Segens. Schon während der Vorstellung hatte sich der Eisverkäufer angewidert abgewandt, weshalb Ed seinen Kopf zunächst gesenkt hielt, um ihm nicht ins Gesicht blicken zu müssen.
«Vergessen wir nicht, dass wir alle auf irgendeine Weise Schiffbrüchige sind …«Der Direktor hob beide Hände, als wollte er den Erdkreis einbeziehen in seinen Segen, seine Stimme wurde wieder leiser. Dann sah es so aus, als tauche er seine Hände in eine unsichtbare Wand oder in Wasser oder jedenfalls in etwas, das sich zwischen ihn und den Rest der Welt geschoben hatte.
Ed war nervös. Der rednerische Aufwand machte ihn verlegen, zu viel für einen Abwäscher, einen Nachrücker zumal, und es fiel ihm schwer, sich auf Krombachs Predigt zu konzentrieren. In der Ecke über Koch-Mikes schwitzendem Walrossschädel hingen Fotos der Belegschaften vergangener Jahre. Bei einigen war der Jahrgang mit Filzstift auf den Rahmen geschrieben, 1984, 1976, 1968. Auf einem der Bilder, es war das von 1968, hoben alle Männer und Frauen gleichzeitig eine Bierflasche an den Mund. Die Aufnahme wirkte obszön, sie beeindruckte Ed. In einer zweiten Gruppe, praktisch übereck, den alten Besatzungen gegenüber, hingen die Bilder berühmter Gäste, von denen Ed nur Billy Wilder und Thomas Mann sofort erkannte, dann entdeckte er noch Lotte Lenya. Neben ihr eine winzige Reproduktion des Abendmahls von Leonardo. Darunter eine stilisierte Darstellung König Hedins, eine Gestalt aus der Edda, soviel Ed wusste. Das Bild zeigte zwei Männer im Kampf, eng umschlungen, dabei war nicht zu entscheiden, ob es um Tod oder Liebe oder vielleicht um beides ging. Die Bildunterschrift hieß»Hedin auf Hedinsey«. Berühmtheiten und Belegschaften waren so platziert, dass sie sich praktisch in die Augen sehen mussten. Über allen aber, schon knapp unter der Gaststubendecke und wie eine Ikone auf der Spitze des Altars, thronte die Fotografie Alexander Ettenburgs im Mönchsgewand, begleitet von einem Esel und einer Katze,»begreifen wir als das Vermächtnis des Urklausners …«— in diesem Punkt kannte Ed die Rede. Die neueste Fotografie war noch nicht gerahmt, nur mit Nadeln angesteckt, eine Aufnahme vom Saisonbeginn im April. Ed entdeckte den Mann, der Speiche sein musste. Er war groß und ausgesprochen schmal. Sein schiefes Lächeln zeigte eine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Zuerst hatte ihn Ed an seiner Brille erkannt; warum hatte er seine Brille zurückgelassen?
«… und die Insel hier unsere Rettung war, als uns nicht etwa das Meer oder ein Fisch, sondern das Land ausgespuckt hat …«Während Krombach über» die weiteren Aufgaben des Klausners «sprach und ihn erneut» unsere Arche «nannte (offensichtlich war die Belegschaft entschlossen, das Gasthaus auf der Steilküste in diesem Jahr wenigstens bis Heiligabend, vielleicht auch den Winter über geöffnet zu halten und» hier oben beieinanderzubleiben«, wie Krombach es sagte, als ginge es um den Zusammenhalt einer Familie in schwieriger Zeit), träumte Ed, Teil der obszönen Besatzung von 1968 gewesen zu sein. Unauffällig sah er zu Kruso, um zu prüfen, ob auch er ein 68er war.
Krusos Gesicht war jetzt starr, wie versteinert, und es sah aus, als würde er beten. Koch-Mike wischte sich das Wasser von der Stirn und knetete sein Schweißtuch zu einer kleinen Pyramide. Der Kellner, den Krombach Cavallo genannt hatte, atmete schwer und blickte nervös auf den Hof hinaus. Der Ventilator an der Decke machte ein feines Geräusch. Die nikotingelben, mit flockigem Schmutz verklebten Geräte waren ein Überbleibsel aus den zwanziger Jahren, der Ausstattung Emil Hirsekorns, eines Berliner Händlers von Herrenstoffen,»feinsten Stoffen«, wie es Krombach in seinem Abriss der Geschichte betonte, jedenfalls war es so in Eds Ohr geflossen oder an seinen Ohren vorübergeströmt. Das Schrappen der Ventilatoren versetzte den Klausner in eine südlichere Gegend, die in diesem Fall auch nördlich oder westlich liegen konnte, irgendwo im offenen Meer. Ihr unablässiges Wirbeln verstärkte die Drift; wie phantastische Propeller hoben sie den Persotisch mit seiner Frühstücks-Besatzung weit hinaus in den Raum, weiter noch, als er ohnehin schon von Land und Staat entfernt zu sein schien …
Als Ed wieder auftauchte aus seinem Traum, sah er, dass Krombach ihm seine Segenshand entgegenhielt, quer über den Tisch. Ed sprang auf, überrascht griff er nach der Hand und deshalb etwas zu hastig. Und Krombach drückte sie länger, als vielleicht nötig gewesen wäre. Wie man es Ed von Kindsbeinen an beigebracht hatte, blickte er dem Direktor dabei in die Augen. Auch Krombach sah ihn an, aber Ed spürte den Blick nicht. Er sah nur die glänzende, wie immer frisch gecremte Haut, von der das Auge eingefasst war, dann den wässrigen blauen Knopf mit dem schwarzen Punkt in der Mitte. Als hätte irgendeine Erschöpfung oder Krankheit das Sehen stumpf gemacht oder als käme das Sehen nicht mehr recht heraus aus den Augen des Direktors, der so fürsorglich und ernst wie ein wirklicher Kapitän gesprochen hatte. Tatsächlich ging kein Angeschautwerden von ihm aus, es war, als erblicke er nichts Bestimmtes — oder alles. Alles, was ihn und Ed und Kruso betraf, auch das, was noch kommen würde, ja, Krombach durchschaute ihn. Er konnte sehen, dass Ed die unausgesprochene Voraussetzung nicht erfüllte, dass er im Grunde ungeeignet war.