«Ferien, Ferien.«
Offensichtlich genügte dieses eine Wort; es enthielt alles, was man von ihm wissen musste. Alles über seine Schwäche und Verlogenheit. Alles über G., seine Angst und sein Unglück, alles über seine zwanzig hölzernen Gedichte aus dreizehn Schreibanfängen in hundert Jahren und alles über die tatsächlichen Gründe dieser Reise, wie sie Ed bisher selbst kaum begriffen hatte. Er sah die Zentrale, das Büro der Transportpolizei, irgendwo weit oben, über der stählernen Konstruktion dieser Juninacht, eine kornblumenblaue Kapsel, verglast und sauber mit Linoleum ausgelegt, die den unendlichen Raum seines schlechten Gewissens durchquerte.
Er war jetzt sehr müde, und das erste Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, auf der Flucht zu sein.
Trakl
Nur drei Wochen waren vergangen, seit Dr. Z. ihn gefragt hatte, ob er nicht willens wäre (er gebrauchte diese Formulierung), seine Abschlussarbeit über den expressionistischen Dichter Georg Trakl zu schreiben.»Vielleicht kann sich später sogar mehr daraus ergeben«, hatte Z. hinzugefügt, stolz auf die Attraktivität seines Angebots, an das offensichtlich keine weitere Bedingung geknüpft werden sollte. Auch gab es keinerlei Beiklang in seiner Stimme, keine Geste des Mitleids, wie sie Ed mehr als einmal sprachlos gemacht hatte. Für Dr. Z. war Ed in erster Linie jener Student, der jeden der behandelten Texte auswendig hersagen konnte. Auch wenn er sich dafür in die entlegenste Ecke des Seminarraums verkroch und sein dunkles, schulterlanges Haar vors Gesicht hängen ließ, so redete er doch, irgendwann, hastig, lange und in sauber ausformulierten Sätzen.
Zwei Nächte schlief Ed kaum, um alles über Trakl zu lesen, was in der Institutsbibliothek vorrätig war. Die Trakl-Literatur befand sich im letzten einer Reihe schmaler Durchgangszimmer, wo man in der Regel allein und ungestört blieb. Ein kleiner Arbeitstisch stand unter dem Fenster, mit Ausblick auf den winzigen Garten und die unförmige, von Spinnweben überzogene Laube im Hinterhof, in die sich der Hausmeister des Instituts tagsüber zurückzog. Wahrscheinlich wohnte er auch dort, über den Mann kursierten die verschiedensten Gerüchte.
Die Bücher standen sehr weit oben, fast unter der Decke, man musste die Leiter benutzen. Ohne die Leiter erst Richtung T und Tr zu verschieben, war Ed hinaufgestiegen. Umständlich lehnte er sich zur Seite und zog Buch für Buch aus dem Regal. Die Leiter wurde unruhig, mahnend tackerten ihre stählernen Haken gegen die Schiene, wo sie eingehängt war, was Ed jedoch nicht vorsichtiger machte, im Gegenteil. Er beugte seinen Oberkörper noch ein Stück weiter Richtung Trakl und dann noch ein Stück und noch ein wenig. In diesem Moment hatte er es gespürt, das erste Mal.
Am Abend, wenn er am Schreibtisch saß, sprach er die Gedichte halblaut vor sich hin. Jeder Wortklang verknüpfte sich mit dem Bild einer großen kühlen Landschaft, die Ed vollständig gefangennahm; weiß, braun, blau, ein einziges Geheimnis. Schreiben und Leben des Georg Trakl — Pharmaziestudent, Heeresapotheker, Morphinist und Opiumesser. Neben Ed, in seinem Sessel, den er mit einem Laken bedeckt hielt, lag Matthew und schlief. Ab und zu drehte die Katze ein Ohr in seine Richtung, manchmal zuckte das Ohr, heftig und mehrmals hintereinander, als stünde der alte Sessel unter Strom.
Matthew — der Name stammte von G. Sie hatte das Tier gefunden, in einem Lichtschacht im Hof, winzig, schreiend, ein Flausch, kaum größer als ein Tennisball. Sie hatte zwei oder drei Stunden vor dem Schacht gehockt und es schließlich herausgelockt und nach oben getragen. Bis heute wusste er nicht, wie G. auf diesen Namen gekommen war, und er würde es niemals erfahren, es sei denn, die Katze würde es ihm sagen, irgendwann einmal.
Allen Hilfsangeboten hatte Ed sich entzogen. Er besuchte Seminare und legte Prüfungen ab, für die ihn Sektionsdirektor Professor H. gern freigestellt hätte: Die verständnisvolle Neigung seines großen Schädels, das gütig gewellte Haar, weiß und glänzend, und die Hand an seinem Arm, als er Ed im Treppenhaus des Instituts beiseitenahm, vor allem aber: seine samtene Stimme, der sich Ed gern hingegeben hätte … Aber Wissen war nicht sein Problem. Und Prüfungen ebenfalls nicht.
Alles, was Ed las in dieser Zeit, prägte sich ein, wie von selbst und buchstäblich, Wort für Wort, jedes Gedicht und jeder Kommentar, alles, was ihm vor Augen kam, während er allein zu Hause saß oder an seinem Tisch im letzten Raum der Bibliothek und auf die Hütte des Hausmeisters starrte. Sein Dasein ohne G. — fast war es eine Art Hypnose. Wenn er daraus auftauchte, nach einer bestimmten Zeit, summte das, was er gelesen hatte, in seinem Schädel. Das Studieren war eine Droge, die ihn ruhigstellte. Er las, er schrieb, er zitierte und rezitierte, und irgendwann ließen die Mitleidsbekundungen nach, die Hilfsangebote verstummten, die besorgten Blicke blieben aus. Dabei hatte Ed nie mit jemandem darüber gesprochen, weder über G. noch über seine Situation. Nur wenn er zu Hause war, redete er, unentwegt plapperte er etwas vor sich hin, und natürlich sprach er mit Matthew.
Nach seinen ersten Tagen mit Trakl hatte Ed nur noch Lehrveranstaltungen von Dr. Z. besucht. Lyrik des Barock, der Romantik, des Expressionismus. Laut Studienplan war das nicht erlaubt. Es gab Anwesenheitslisten und Eintragungen ins Studienbuch. Eine Tatsache, der sich auch Dr. Z. auf Dauer nicht würde verschließen können. Auf gewisse Weise schien Ed noch immer geschützt. Selten geschah es, dass ein Kommilitone den Versuch unternahm, statt seiner das Wort zu ergreifen. Lieber hörte man ihm zu, eingeschüchtert und fasziniert zugleich, als wäre Ed ein exotisches Wesen aus dem Zoo des menschlichen Unglücks, umgeben von einem Wassergraben furchtsamer Achtung.
Nach vier Jahren im selben Studiengang hatten alle die passenden Bilder im Kopf: G. und Ed an jedem Morgen Hand in Hand auf dem Parkplatz vor dem Institut; G. und Ed und die lange, zärtliche, nicht nachlassende Umarmung, während der Vorlesungssaal sich langsam füllte; G. und Ed und ihre Szenen am Abend im Café Corso (zuerst ging es um etwas, dann um alles) und dann, spätnachts, die überschwänglichen Versöhnungen, draußen auf der Straße, an der Straßenbahnhaltestelle. Aber erst, nachdem die letzte Bahn abgefahren war und sie nach Hause laufen mussten, drei Stationen bis zum Rannischen Platz und von dort noch einmal ein Stück zu Fuß bis vor ihre Tür. Während die Tram ihre letzten Kurven machte auf ihrer letzten Fahrt durch die Stadt und das höllische Jaulen und Kreischen des stählernen Fahrwerks die Nacht über Halle erfüllte wie ein Vorbote des Jüngsten Gerichts.
Ed, so hatte G. ihn genannt, manchmal auch Edsch oder Ede.
Ab und zu (immer öfter) stieg Ed auf die Leiter, um es zu spüren. Er nannte es den Stoff der Piloten. Zuerst das zittrige Schlagen der Haken. Dann das betörende Strömen, ein Schauder, der ihm ins Mark fuhr, in die Lenden — die Anspannung ließ nach. Er schloss die Augen und atmete tief. Er war ein Pilot in seiner Kapsel, er hing in der Luft, am seidenen Faden.
Vor der Hütte des Hausmeisters blühte seit Tagen der Flieder. Ein Holundergebüsch quoll direkt unter der Türschwelle hervor. Die Spinnweben im Türrahmen waren zerrissen, und ihre Enden schaukelten im Wind. Der Mann ist zu Hause, dachte Ed. Manchmal sah er ihn durch seinen verwilderten Garten schleichen oder bewegungslos dastehen, als lausche er auf irgendetwas. Wenn er seine Hütte betrat, tat er das sehr vorsichtig, mit ausgebreiteten Armen. Trotzdem klirrte es schon beim ersten Schritt, ein Meer von Flaschen bedeckte den Boden.
Eines der Gerüchte besagte, der Hausmeister sei habilitiert und ehemals im Ausland tätig gewesen, sogar» im NSW«, wie es hieß. Jetzt gehörte er zur Kaste der Ausgestoßenen, die ihr eigenes Leben lebten, der Garten und die Hütte waren Teil einer anderen Welt. Ed versuchte sich vorzustellen, was der Mann zum Frühstück aß. Er fand kein Bild, aber dann sah er einen kleinen Camembert (»Rügener Badejunge«), den der Hausmeister auf einem abgenutzten Schneidebrett in kleine mundgerechte Viertel schnitt. Er spickte die Käseecken auf die Spitze seines Messers und schob sie sich in den Mund, Stück für Stück. Für andere schwer vorstellbar, dass einsame Menschen überhaupt etwas essen, dachte Ed. Für ihn hingegen war der Hausmeister der einzige wirkliche Mensch in dieser Zeit, einsam und verlassen wie er selbst. Für einen verwirrenden Augenblick schien unklar, ob Ed sich lieber in die Obhut des Hausmeisters und seiner Hütte begeben hätte als unter die Fittiche Dr. Z. s.