Tatsächlich brachte die Stoßzeit von allen das Beste zum Vorschein, und bald begann Ed zu verstehen, was sich hinter den hohen Begriffen von Besatzung und Mannschaft verbarg. Krombach, der das Büro ansonsten nie verließ, zog ein kurzes graues Stück Tau aus seiner Hosentasche und begann, Seemannsknoten vorzuführen, mit erhobenen Händen. Er knotete Herzen verschiedenster Gestalt, hielt sie in die Luft und erhielt Beifall. Dass jemand etwas vorführte, erweckte sofort Aufmerksamkeit, vor allem, weil das Ganze offensichtlich ungeplant geschah, spontan, ohne Eintritt und Kontrolle, und also einem seltenen, exotischen Ereignis gleichkam, etwas, das man eben nur hier, auf dieser Insel, erleben konnte.
Ed erfuhr nie, was Krombach während seiner Knotungen zum Besten gab. Auf die Touristen schienen die grauen Herzen dieselbe hypnotisierende Kraft auszuüben wie auf ihn. Nach vier oder fünf Herzen verbeugte sich der Direktor. Dann zog er weitere kleine Stricke aus seiner Hosentasche und verteilte sie unter den Umstehenden, die sie ungläubig und wie etwas außerordentlich Kostbares entgegennahmen. Augenblicklich begannen einige damit, die kurzen Enden zu verknoten, zumindest versuchten sie es, und eine Zeitlang erschien die Herstellung eigener Herzen begehrenswerter als Schnitzel oder Steak au four.
Rimbaud und Cavallo fielen schon bald in eine Art Dauerlauf, während Chris versuchte, sein Gehen beizubehalten, es dafür aber aufs Äußerste beschleunigen musste und schließlich zu dem für ihn typischen Humpelschritt steigerte. Das Geschirr kam jetzt in großen, schwankenden, von Speiseresten verklebten Stapeln ans Becken und musste (es war einfach immer zu wenig vorrätig davon) sofort gespült, getrocknet und erneut bereitgestellt werden. In Abständen erschien der bleiche Walrossschädel Koch-Mikes über der Schwenktür zur Küche. Seine Beschimpfungen waren nicht bösartig oder aggressiv, aber auf eine nicht zu überbietende Weise dramatisch, dringlich, eine täglich zur Stoßzeit einsetzende Arie über fehlende Teller, Messer, Schüsseln und den unter diesen Umständen zu erwartenden Ausgang, endgültigen Kollaps, Exitus. Ertönte die Arie, war die Zeit für Feinheiten vorbei. Ganze Stapel unabgeräumter Teller wurden ohne weiteres ins Becken gestürzt und die fettigen Reste von Schnitzeln, Kartoffeln, Salat oder Bouletten mit einem Schwung der Rückhand von der Wasseroberfläche zu Boden gefegt. Nachdem Ed einige Übung hatte, genügten ihm zwei, drei Rückhände in schneller Folge, eine Sache von Sekunden, und sein Becken war frei. Dabei musste er nur darauf achten, dass sauberes Geschirr nicht besudelt wurde, und ein gewisser Nachteil war, dass sie bis zum Abend in einem ekelerregenden Morast aus zertretenen Abfällen stapften, ein Sumpf aus Speisebrei, der obszöne Geräusche machte unter den Sohlen, weshalb Ed sich bald wie auf Gleitschuhen über die Fliesen bewegte. Damit die Kellner nicht ausrutschten, wischte und trocknete Kruso in Abständen die Einflugschneise — selbst jetzt, da kaum einer wusste, wo ihm der Kopf stand, zeigte er Übersicht, Verantwortung und Fürsorge. Ed hätte ihn gern umarmt dafür.
Das Klausner-Thermometer zeigte 43 Grad. Sie arbeiteten wie die Berserker, blieben aber in Verzug. Die Sonne stach durch die Fenster und das Waschwasser verbreitete eine ätzende Schwüle. Literweise schütteten sie Tee in sich hinein, den Karola am Tresen zubereitete und in einer großen braunen Steingutkanne in den Abwasch trug. Stammplatz der Kanne war die Öffnung zum Speiseaufzug in Eds Rücken, der früher vielleicht in den Keller hinunter- oder in die Dienstbotenetage hinaufgefahren war, inzwischen aber nur noch als Ablage diente. Da keine Zeit zum Einschenken blieb, trank Ed aus der Tülle. In der Eile stürzte ihm der lauwarme Tee über den Rand der Kanne ins Gesicht, was keine besondere Rolle spielte, da ihre Oberkörper frei und die Trockentücher um die Hüften ohnehin längst durchnässt waren von Spülwasser und Schweiß. Er war ein Galeerensklave. Er fühlte sich nackt, auch sein Geschlecht war nass, und es juckte zwischen den Beinen.
Nach einer Stunde Stoßzeit begann Cavallo, das erste Mal zu wiehern. Dabei vollführte er kleine zügellose Sprünge, wie ein Kind, das ein Galoppieren nachahmen möchte; dazu ein kleines Prusten, Schnauben, sein schmaler Schnauzer vibrierte. Diese Auftritte waren mit dem, was Cavallo sonst darstellte (die ganze Verschlossenheit seiner Person), schwer in Einklang zu bringen.»Romacavalli«, brüllte Rimbaud durch den Klausner und spornte sie an:»Avanti, avanti, dilettanti!«Ed bewunderte die Art, wie Rimbaud mit weit ausgebreiteten Armen herumwirbelte, als stünde er auf Zehenspitzen; wie er mit einer Hand die Kasse bediente, Quittungen sortierte, für Sekunden unbewegt etwas entzifferte auf einem der winzigen Bons und gleichzeitig (mit einem Arm, der immer länger wurde) das große Tablett mit Bier und Limonade vom Tresen aufnahm, fließend, als verfüge er über eine teleskopische Kraft; das alles, während er außerdem die Essenausgabe im Auge behielt und eine unmerkliche Geste zu dem in verwinkelten Bewegungen vorüberfegenden Chris hin machte.
«Ruhm, wann kommst du?«
Ging die Stoßzeit auf ihren Höhepunkt zu, begann Rimbaud damit, Zitate zum Besten zu geben, Zitate fäkalischen oder pornographischen Inhalts, die in vollkommenem Gegensatz zu seiner eleganten Erscheinung standen und irgendeinen für Ed nicht benennbaren Hass, eine abgrundtiefe Verachtung ausdrückten, Verachtung für alles im Leben und das Leben selbst, aber doch niemals so gemeint sein konnten, dachte Ed. Auch der euphorische, im Grunde kämpferische Klang seiner Stimme sprach eine andere Sprache. Ed verstand Rimbauds Zoten als Ausdruck der schwierigen Synthese von Philosoph und Oberkellner, wie sie das mit Sicherheit belesenste Mitglied ihrer Besatzung an jedem Tag so gut und stolz wie nur möglich vollzog. Manchmal begann Rimbaud plötzlich französisch zu sprechen;»mon plongeur, mon ami«, und wenn er auf dem Weg in den Abwasch an der Tür Krombachs vorübereilte, beschimpfte er ihn laut:»Chef du personnel — une catastrophe!«Nach seinem Einsatz auf der Terrasse blieb der Direktor unsichtbar.
Ed schuftete und schwitzte sich den Rest seiner Gedanken und Gefühle aus dem Leib. Er arbeitete sich durch bis auf den stabilen Grund einer wirklichen Erschöpfung, und für diese Stunden fühlte er sich rein, erlöst von sich selbst und seinem Unglück; er war nicht mehr und nicht weniger als ein Abwäscher, der auf passable Weise Stellung hielt im Chaos.
Beim ersten Mal hatte Ed geglaubt, Kruso erläutere etwas, eine Fortsetzung seiner Unterweisungen, auf die gut zu achten wäre. Sein Ohr hatte sich an den Hallraum des Abwaschs gewöhnt, trotzdem verstand er nur einzelne Worte, die sich wiederholten, es waren die Worte» Mann «und» Meer«.
«Was?«, brüllte Ed durch das Tosen der Stoßzeit, zu heftig vielleicht, denn augenblicklich hielt Kruso seine Hände still; das Wasser klatschte gegen die Wandung des Beckens.
«Am Hochried vorbei, am Niedermoor vorbei, zieht das Boot nach dem Meer.«
Es schien sich um eine Art Zauberformel zu handeln, denn schlagartig wurde es still ringsum, sogar das Radio in der Küche verstummte. Krusos Kopf blieb gesenkt, und Ed ging davon aus, dass das Gespräch, noch ehe es begonnen hatte, wieder beendet war. Er tauchte die Hände in sein Becken, um sich einen Teller zu greifen, als der Chor anhob:
«Am Hochried vorbei, am Niedermoor vorbei, zieht das Boot nach dem Meer. Zieht mit dem ziehenden Mond das Boot nach dem Meer …«
Ed registrierte Rimbaud und Cavallo in seinem Rücken; singend, keuchend und schwer beladen. Mit ihren ausgestreckten, von schmutzigem Geschirr bedeckten Armen wirkten sie wie Komparsen in einem absurden Stück. Dann, hinter ihnen, im Halbdunkel, Karola, mit ihrer dunklen, wunderbar singenden Stimme:
«So sind sie Gefährten zum Meer, das Boot, der Mond und der Mann …«
Kruso flüsterte nur noch, umso kräftiger die Bässe, es waren die Stimmen Koch-Mikes und Rolfs:
«Warum ziehen der Mond und der Mann zu zweit so bereit nach dem Meer, so bereit nach dem Meer!«