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Noch ehe Ed die Szene begriffen hatte, krachten die Teller der Kellner in sein Becken; Chris stürzte an allen vorbei, er brüllte» So bereit nach dem Meer!«und umarmte Kruso, der dabei nahezu unbewegt blieb, was nicht eigentlich abweisend oder unnatürlich wirkte. Es entsprach nur der Würde des Gedichts, das sie gemeinsam vorgetragen hatten, offensichtlich eine Art Hymne des Klausners,»unser Heiliges«, wie Kruso es später noch öfter erklärte.

Wie die verknoteten Herzen oder das Wiehern Cavallos gehörte der Chor vom Mann und dem Meer zum Ritual der Stoßzeit und ihres Deliriums, es war ihr Höhepunkt. In den folgenden Minuten brüllte Koch-Mike sein» finito «aus der Küche, das Ende der Bestellungen à la carte. Rasch wurden die Menüs eingezogen, manchen besonders enttäuschten Gästen mussten die blassen Durchschläge regelrecht aus der Hand gerissen werden. Zwei oder drei Speisen blieben im Angebot, meist handelte es sich um Soljanka, Jägerschnitzel und Roulade. Das Ausrufen der Notkarte wurde von Chris übernommen, dem bei den Gästen wegen seiner burschikosen und umgänglichen Art beliebtesten Kellner. Unser bester Mann im Service, flötete Rimbaud und spitzte die Lippen, Rimbaud und Cavallo spotteten gern über Chris, der im vergangenen Jahr aus Magdeburg auf die Insel gekommen war, aus einem früheren Leben als Elektriker; als Elektrischer, wie er es selbst ausdrückte.

Nachdem Chris zwei Stunden lang wie ein Derwisch hin- und hergehumpelt war (im Nacken die träge federnde Matte seines fettigen, schwarzlockigen Haars), trat er hinaus und verharrte wie ein Bote des Königs auf den Stufen zur Terrasse. Er wartete, bis Ruhe einkehrte und sich alle Augen auf ihn gerichtet hatten. Dann rief er» Soljanka«, und wer Soljanka essen wollte, lernte es, sich laut und deutlich mit» hier «zu melden und gleichzeitig aufzustehen,»damit ich eine Übersicht habe«, wie Chris es begründete, logisch und nachvollziehbar. Ähnlich verhielt es sich beim Austragen der Speisen. Oft hatte Chris sechs oder sieben Teller auf den Armen, wenn er auf die Terrasse hinausstürmte und» Schnitzel «rief und sich die Besteller erhoben und» hier «brüllten, oft unnötig laut in der Hoffnung, bei denen zu sein, die zuerst bedient werden würden. Einige übertrieben dabei und riefen» HierSirr!«oder schlugen die Hacken zusammen, woraufhin Chris, der in einer einzigen fließenden Bewegung Teller für Teller oder Schüssel für Schüssel auf die Tische gleiten ließ, etwas zurückbrüllte wie» Zwanzig Liegestütze!«oder» Zum Hockstrecksprung weggetreten!«, dabei warf er den Kopf zurück, der Ausdruck seiner Gesichtszüge schwankte zwischen Verachtung und Wahnsinn, und natürlich war das Ganze nur ein Spiel.

Trotzdem trug das Salutieren hier und da ernsthafte Züge, als sei von Chris tatsächlich irgendeine höhere Gewalt ausgegangen oder als hätte er damit etwas geweckt, was mancher Gast kaum im Zaum halten konnte. Es gab Gäste, die in den Liegestütz fielen oder ihre Arme in Seitschlaghalte brachten und die Vögel, die in den angrenzenden Büschen versteckt auf Essensreste spekulierten, mit Hockstrecksprüngen entsetzten. Manche Gäste kannten einfach keine Grenzen (wie Eds Mutter es ausgedrückt hätte), offensichtlich bekam ihnen ihr Urlaub nicht, oder es war ihr ganzes unerfülltes Dasein. Chris war das egal. Am Ende der Stoßzeit überließ er sie ihrem Schicksal. 13.30 Uhr war Küchenschluss, Punkt 14 Uhr wurde die Tür zur Terrasse verriegelt.

Rimbaud und Cavallo warfen Jacken und Hemden ab, beugten sich über die Abwaschbecken und schöpften Hände voll kalten Wassers in ihre Achselhöhlen. Wenn Ed nach überstandener Stoßzeit nach draußen auf die Rampe trat, um frische Luft in seine von den Ausdünstungen des Abwaschs gereizten Lungen zu pumpen, kam er sich vor wie verkrustet, wie ein Fossil, dessen Versteinerung noch nicht abgeschlossen war. Während die Haut im Gesicht spannte wie altes Leder, löste sie sich an den Händen auf und franste in weißlichen Fetzchen um die Fingerkuppen. Er fühlte sich unsicher auf seinen Beinen, ein leichter Schwindel, der auch von dem sirupartigen Spülmittel rührte, das kaum Schaum produzierte, aber ätzende Dämpfe verströmte, die ihm auf den Magen schlugen.

Beim gemeinsamen Essen am Pausentisch fiel es Ed schwer, das Bild des sehnigen Schweineschnitzels auf seinem Teller zu trennen von denen, die er zuvor gesehen hatte, zerschnitten, durchgekaut, ausgespien, zertreten oder schwimmend in der Lauge seines Beckens. Eigentlich genügte ihm seine tägliche Zwiebel, er brauchte nicht mehr. Er war müde, und er wollte sich nicht mehr bewegen, nur noch liegen, ausstrecken, schlafen, aber er hielt fest an seinem Gang hinunter ans Meer.

Bevor Ed aufbrach, blieb er für einen Moment bei den anderen am Tisch im Hof, irgendwann aß er doch etwas und rauchte, er hatte wieder begonnen zu rauchen, alle rauchten, und es wurde kaum gesprochen. Es herrschte dieselbe schwerwiegende Zufriedenheit, die ihm damals auf dem Bau so gutgetan hatte, in den Jahren, bevor er zum Studium gegangen war, um sich zu verirren in den Geschichten der Sprache, ihren labyrinthischen Konstruktionen aus Syntax, Morphologie, Orthographie und Lexikologie, das ganze Idiotenkarussell, wie die Studenten die Prüfung jener Fächer am Ende des ersten Studienjahres nannten, voller Abscheu und Respekt, es war ihr Physikum, bestehend aus Sätzen von Musil oder Kleist, an denen nicht wenige verzweifelt und gescheitert waren.

Ed genoss die Befriedigung; es war eine Art Ehrgefühclass="underline" Für diesen Moment waren sie alle vereint in ihrem Stolz. Ein aufrichtiger Stolz, der vielleicht weniger von der Art ihrer Arbeit (Sklavenarbeit) herrührte als davon, etwas im Grunde Unmögliches geschafft, ja, einem Sturm standgehalten zu haben. Nichts gab ihnen so deutlich das Gefühl von Gemeinschaft wie die Stoßzeiten der Hauptsaison mit ihren Tumulten und Zumutungen. Sie gehörten zu jener Besatzung, die ihr Schiff bis zum Letzten verteidigen würde, so viel war sicher, unter Aufbietung all ihrer Geschicklichkeit, ihres gastronomischen Draufgängertums und jener Künste, über die sie aufgrund ihrer akademischen oder künstlerischen Herkunft verfügten. Indem sie das Unmögliche schafften, in dieser gewaltigen, chaotischen Aktion, erfüllten sie offensichtlich den Ehrenkodex, von dem Kruso gesprochen hatte. Jenen Kodex, der die Esskaas miteinander verband. Mit Hilfe eines speziellen Irrsinns, einer Essenz aus Gastronomie und Poesie, hielten sie ihre Arche über Wasser, Tag für Tag. Und retteten die schlingernde Insel.

Der Lurch

Punkt 15 Uhr kehrte Ed über die Hochufertreppe vom Strand zurück. Beim Aufstieg brach der Schweiß aus allen Poren, sein Körper war von der Sonne überhitzt, es gab keinen Schatten am Ufer. Wie immer schlug er einen kleinen Bogen halb durch den Wald, um möglichst ungesehen an der mit ersten Kaffeegästen besetzten Terrasse vorbeizukommen.

«Wozu, wozu, wozu sonst bist du hier?«, plapperte er leise vor sich hin, während er nackt auf dem schmierigen Boden des Abwaschs hockte und sich das wunderbar kalte Wasser über Schädel und Rücken laufen ließ. Er starrte in die Flucht der Bottiche, sein Umriss spiegelte sich im Stahl des Beckens, in dem das Besteck noch weichen sollte — erst dann sah er die Füße. Füße und Beine, die reglos hervorragten unter dem Becken wie die Gliedmaßen eines Toten. Dem Gefälle des Bodens folgend, floss das Wasser, mit dem Ed sich kühlte, genau dorthin, unaufhaltsam. Erschrocken entschuldigte sich Ed, das heißt, er stotterte etwas zu den Füßen, Krusos Füße, wie er inzwischen zu erkennen glaubte.

Die Abflüsse der Becken endeten handbreit über den Fliesen, das Wasser stürzte in freiem Fall auf die vergitterten Abflusslöcher. Um während der Arbeit nicht in einer fauligen Brühe alten Waschwassers zu waten, war es unvermeidlich, ab und zu den beständig nachwachsenden Morast von Speiseresten aus den Gittern zu pflücken; Kruso nannte es» das Unkraut jäten«, eine Arbeit, die noch unbeliebter war als» der Römer«. Ed verstand nicht, warum Kruso so still lag unter dem Becken. Vielleicht hatte er ihn auch gar nicht bemerkt, und also bestünde noch immer Gelegenheit, nach draußen zu verschwinden, dachte Ed, als es krachte. Im nächsten Augenblick stand der Beine-Mann vor ihm, ebenfalls nackt, ein Buschbewohner, mächtig und glänzend von schlieriger Feuchte. In der rechten Hand hielt er seine Machete, ein großes Küchenmesser. Mit der linken stemmte er das Abflussgitter in die Luft, an dem ein meterlanger Batzen Schleim baumelte. Am Arm floss ein Streifen Blut; ein bestialischer Gestank erfüllte den Raum.