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«Ich möchte dich um etwas bitten.«

Die Sachen rochen verstockt und hatten rußige Ränder. Ed war nicht sicher, ob er sie tragen wollte, zugleich empfand er die Auszeichnung — für treue Dienste, oder wie sollte man es nennen? Er hatte eine Gänsehaut unter der Jacke.

«Es ist sehr wichtig für unsere Aufgabe hier. Es geht um die Frage, ob du einen der Öfen übernehmen könntest. Das frühe Anheizen, sechs Uhr, unser Hausmeister versäumt es zu oft. Du weißt, wie schwierig es ist mit kaltem Wasser im Abwasch, im Grunde unmöglich …«

Während Kruso die Öfen und die Ausstattung des Schwarzen Lochs erklärte, sah Ed den Hausmeister des Germanistischen Instituts in seiner Gartenlaube, der Boden voller Flaschen, und er sah den Hausmeister des» Hotels am Bahnhof«, der in seinem Keller saß und Zahlen einbrannte in Klötzchen, und er sah Ebeling, den Hausmeister des Klausners (bisher war er ihm nicht begegnet), betrunken in seinem Bett, in einem Haus auf der Insel, das er gemeinsam mit seiner Mutter bewohnte. Und für einen Moment sah Ed sich selbst; wie beim Sportunterricht waren alle Hausmeister der Welt der Größe nach angetreten, und er war der Letzte in dieser Reihe, und über seinem Kopf stand»6-Uhr-morgens«.

Im Verlauf der kommenden Tage wurde der Keller seine Höhle, sein Versteck, voller Ruhe und Abgeschiedenheit. In einer Ecke, in der altes Gaststubenmobiliar aufgestapelt war, hatte er einen winzigen Tisch und einen Barhocker gefunden. Er hatte die Sachen ins Freie getragen, den Schimmel heruntergeschrubbt und alles für zwei Tage in die Sonne gestellt. Der Tisch passte gut unter sein Fenster, ein Nachteil war sein Kummergeruch (Moder und Kohle). Dem Hocker sägte Ed die Beine ab; die Tischplatte lag trotzdem noch zu niedrig.

War angeheizt (das Holz musste gut brennen, bevor er die feuchte Kohle auflegen konnte), machte Ed seine Runde. Einer der Schränke war voller kleiner Seifenstücke, Hotelseife, in einem ehemals weißen Papier mit der feinen kupferfarbenen Aufschrift» Palasthotel«. Dann der Stahlschrank mit Ordnern und Kassenbüchern. Hinter dem Stahlschrank, der halb verrostet, aber unverrückbar war, gab es eine Nische. Durch einen armdicken Spalt sah man Gerümpel, vorzeitliche Turngeräte, vermodertes Sackleinen und eine Zinkwanne.»Alexander Ettenburg nannte diese Wanne seine Verbrennungsanstalt, sein Krematorium«, hatte Kruso erklärt, als wäre auch das für Eds Arbeit von Bedeutung.»Früher gehörte dazu eine Aschenurne. Der Urklausner hat alles vorbereitet. Er war ein Mensch der Natur, seiner Zeit weit voraus. Er hat allen Orten hier ihre Namen gegeben, die Swantewitschlucht, der Flaggenberg, der Zeppelinstein. Am Ende wünschte sich der Alte nichts mehr, als auf der Insel begraben zu werden, aber sie haben seine Asche ins Meer geschüttet. Die Inselleute wollen keine Fremden in ihrer Erde, und das ist bis heute so, von Ausnahmen abgesehen. Größen wie Hauptmann oder namenlose Wasserleichen.«

Am Ende seines Rundgangs zündete Ed die Kellerkerze an. In einer von Plastikplanen verhangenen Ecke gab es einen kleinen, quadratischen Schacht, in den eine hölzerne Treppe führte. Ed stellte die Kerze auf den Grund und begann, die Schnecken von den Wänden abzulesen. Er staunte über die Kraft, mit der sie sich festsaugten auf dem glatten, von Schimmel geschwärzten Beton. An jedem Morgen waren dort neue braune und schwarze Exemplare, es gab keine Erklärung dafür. Er machte so lange, bis ihm die Hand überquoll, dann stieg er nach oben und warf den Batzen ins Feuer.

Ed hatte entdeckt, dass der Schacht ursprünglich eine Dusche gewesen war, und seine Zeit im Keller genutzt für ihre Urbarmachung — er hatte uralten Schlamm aus dem Abfluss gekratzt und den Kalk aus dem Duschkopf geklopft. Anfangs war das Wasser rostig und faulig, doch nach einer Weile wurde es besser. Die Armaturen quietschten und knirschten erbärmlich, aber sie funktionierten. Eine Weile stand man knietief im Wasser, dann schaltete ein Füllstandsmesser die Pumpe ein. Wenn er geheizt hatte und das Wasser im Kessel ausreichend erwärmt war, konnte er duschen: ein Luxus ohnegleichen. Nach der Zwiebel seine zweite ganz eigene Sache.

Im Feuer leuchteten die Schnecken. Sie richteten sich noch einmal auf, in ihrer ganzen Gestalt, wie neugeboren, ehe sie schlagartig schrumpften, mit einem kleinen Pfiff, als würde Luft entweichen.»Weiß Gott, wo sie immer wieder herkommen«, flüsterte Ed in den Ofen. Eine kleine Weile das Pfeifen aus der Glut, dann begann er Briketts aufzulegen, sorgsam, Stück für Stück.

Viola

28. JUNI

Rimbaud hat mir heute ein Buch gezeigt und daraus vorgelesen, es heißt» Das Theater der Grausamkeit«, ein Westbuch. Jede Woche liegt ein anderer Titel im Nest, manchmal sogar mehrere. Hat er sicher vom Buchdealer. Ich darf das Nest jetzt auch allein benutzen, wenn dafür Zeit ist. Alle hier sind eine Gemeinschaft.

Täglich um zwölf Uhr aß Ed seine Zwiebel. Gemeinsam mit seinem Schweigen ergab das Zwiebelritual (als hätte diese Koordinate noch gefehlt) das Bild eines gemäßigten Sonderlings, von dem nicht viel zu befürchten war und, ja, dessen Aufnahme keine schlechte Entscheidung gewesen sein konnte. Auf gewisse Weise begründete die Zwiebel seine Stellung im Klausner. Bald wurde Ed als eine Art Ruhepol angesehen zwischen den galoppierenden und rezitierenden Vertretern im Service, dem cholerischen Eisverkäufer mit seinem Eiskübelgehämmer und Rick am Tresen, der mit Geschichten und Weisheiten eine Art lebensphilosophischen Ausschank betrieb. Bei Ed am Becken hingegen herrschte Konzentration und Besonnenheit. Schon von daher lag seine Nähe zu Kruso auf der Hand, ein Freitag an der Seite Robinsons, und niemand musste sich besonders wundern darüber, dass beide immer öfter zusammen anzutreffen waren. Dabei ging es in der Regel nur um die täglichen Unterweisungen Eds, des neuen Abwäschers und Heizers. Ed bestaunte die Veränderungen, und wieder einmal wunderte er sich darüber, dass er es selbst war, dem all das geschah. Ab und zu tauchte jenes verschämte Glück auf, das sich weigerte, direkt mit ihm in Verbindung zu treten, und manchmal, ganz unvermittelt, stand ihm G. plötzlich vor Augen — er hatte keinen Einfluss darauf.

Warum tat es so gut, wenig zu reden?

Er hatte das nicht vorgehabt, aber dann begriff Ed, dass das Schweigen innerster Bestandteil seiner Flucht war, inzwischen nannte er es so. Er musste einfach für sich bleiben, aber er wusste auch, dass er jetzt nicht allein sein durfte … Im Geiste hatte er es versehentlich umgekehrt formuliert und doch genau so gemeint: Ich möchte einen Platz auf der Welt, der mich aus allem heraushält. Später war er den Strand entlanggegangen und hatte den Satz aufs Meer hinaus gesprochen, wie eine Bitte, aber die Wellen waren zu hoch, das Meer zu laut, und der Wind schob ihm die Worte in den Mund zurück.

Seine Zurückhaltung half ihm, Anzeichen von Schwäche oder Unerfahrenheit zu vermeiden. Er sagte» Hallo «oder» Ja «und» Genau«. Bei allem konnte man» Genau «verwenden.»Genau «war die bestmögliche Antwort, wenn sich jemand einen Scherz mit ihm erlaubte oder versuchen wollte, ihn zu verspotten, was anfangs öfter und dann immer seltener vorkam. Alles, was Ed widerfuhr, wurde von» Genau «schlicht verdoppelt und in der Verdopplung seines Gewichts enthoben, seiner Größe beraubt. Alles konnte auf diese Weise rasch akzeptiert oder zurückgewiesen werden. Er brauchte keine Verteidigung, keinen Graben. Alles, was auf ihn zukam in dieser Fremde, war nicht mehr als genau das.»Genau «war die kürzeste und beste Beschreibung der Insel. Die Insel» Genau «lag mitten in seinem Schweigen, uneinnehmbar.

Vom Abwasch aus hatte Ed es irgendwann entdeckt — ein Radio, das von Koch-Mike» meine Viola «genannt wurde. Es handelte sich um ein Röhrenradio der Marke Violetta, ein dunkler Holzkasten auf einem unerreichbar hohen Bord über den Gefrierschränken, direkt unter der Küchendecke; offensichtlich konnte es nicht mehr abgeschaltet werden. Das Bord war aus rohen Stahlwinkeln gefertigt und schien stabiler als die Grundmauern des Klausners. Die Bespannung des Lautsprecherkastens war verkrustet von uraltem Fett, aus dem grünflackernd die kleine Linse des magischen Auges blinkte. Wie ein Lidstrich im Make-up einer Greisin glänzte darüber das Silber ihres Namenszugs; Viola zwinkerte Ed zu. Sie zwinkerte in seinem Rücken, während er sich über das Becken beugte. Oft verschwand sie auch vollkommen im Nebel. In den sich überlagernden Echos der Küche wurde ihre Stimme auf irritierende Weise ortlos und schien direkt dem gespenstischen Gewaber zu entspringen, das von den Kochstellen aufstieg. Viola, so erzählte Koch-Mike, stamme noch von seinem Vorgänger, der beim Nachtbaden ertrunken war, im Sommer 1985. Der Sender wäre noch eingestellt und das Radio eingeschaltet gewesen, als er und Rolf wenig später die Küche des Klausners übernommen hätten. Mehr gab es aus Koch-Mikes Sicht darüber nicht zu sagen.