Um 19 Uhr schloss die Institutsbibliothek. Gleich nach seiner Heimkehr fütterte er Matthew. Er gab ihm Brot, ein in Scheiben geschnittenes Würstchen und etwas Milch. Früher war das G.s Aufgabe gewesen. So zuverlässig Ed für Matthew sorgte, hatte er doch noch immer nicht verstanden, dass Katzen keine Milch, aber Wasser benötigten zum Überleben. Deshalb wunderte es ihn, wenn das Tier im Hydrotopf mit der Zitronenpflanze scharrte, sobald er das Zimmer verließ. Wie angewurzelt stand er in der Küche und hörte das Geräusch. Das Klacken, mit dem die Kieselsteinchen aus dem Topf auf den Schrank und von dort auf die Dielen regneten. Er konnte nichts anderes tun, als zu lauschen. Er konnte nicht glauben, dass diese Dinge zu seinem Leben gehörten — dass er es war, dem all das geschah.
Matthew
Dann, am Vorabend seines vierundzwanzigsten Geburtstags, war Matthew verschwunden. Die halbe Nacht hatte Ed gelesen, für das Brockes-Seminar von Dr. Z.:»Indem ich nun bald hin, bald her / Im Schatten dieses Baumes gehe …«Irgendwann war er eingeschlafen an seinem Tisch. Am Morgen ging er ins Institut, über den Rannischen Platz bis zum Markt und Richtung Universität, die Barfüßerstraße entlang. In der engen, dunklen Straße lag der Merseburger Hof, wo Ed vor Beginn seiner Lehrveranstaltungen einkehrte, um Kaffee zu trinken. Der fettverschmierte Text auf der Rückseite der Speisekarte (vielleicht der Auszug aus einer älteren Chronik) verriet, dass die Barfüßerstraße früher» Bei den Brüdern «geheißen hatte, dann» Bei den geringeren Brüdern «und dann» Bei den Barfüßern«— ein seltsamer Abstieg, der Ed dazu brachte, sich mit der Straße solidarisch zu fühlen.
Am Nachmittag fehlte Matthew noch immer, und er begann, ihn zu rufen. Erst unten im Hof, dann aus dem Fenster, aber der kleine, vorwurfsvolle Schrei, mit dem das Tier gewöhnlich Antwort gab, blieb aus.
«Matthew!«
Der Geruch des Hofes: Es war, als würde man einen alten, schon stockfleckigen Kummer inhalieren. Ein Kummer aus Moder und Kohle, der gegenüber, in der eingestürzten Schuppenzeile, wohnte und unablässig abgesondert wurde von den darin verschütteten, für immer begrabenen Dingen. Im Haus wohnten vorwiegend Bunesen, Chemiearbeiter aus dem Bunawerk, das Richtung Süden vor der Stadt lag. Bunesen — Ed erinnerte sich, dass die Arbeiter selbst mit diesem Wort voneinander sprachen; sie verwendeten es selbstverständlich und nicht ohne Stolz, wie man die Zugehörigkeit zu einem Volk unterstreicht, dessen Geschichte bekannt ist, ein Stamm, in den man hineingeboren wurde und von dem man sicher sein kann, dass es ihn noch lange, lange geben wird.
«Matthew!«
Eine Weile stand Ed am geöffneten Fenster und lauschte den Ratten. Er dachte ›Geburtstag, mein Geburtstag‹ und begann erneut zu rufen:»Matthew!«Um unsichtbar zu bleiben, hatte er das Licht gelöscht. Gegenüber, auf dem Berg über der Böschung, lag der flache, langgestreckte Ziegelbau des Pflegeheims. Seit er rief, waren die Fenster der Baracke bevölkert. Er sah die verwaschenen Farben von Hemden und Strickjacken und die grauen, im Neonlicht glänzenden Schädel — die Alten interessierte alles im Hof, besonders nachts. Oft dauerte es einige Sekunden, ehe sie ihre Deckenlampen wieder ausgeschaltet hatten. Ed beobachtete das lila Nachglühen des Neons und stellte sich vor, wie sie dort in der Finsternis standen, dicht beieinander, und wie die hinten in den Nacken ihrer Vorderleute bliesen mit ihrem schlechten, fauligen Atem. Vielleicht hatte einer von ihnen Matthew gesehen? Und jetzt diskutierten sie leise (erst leise, dann heftiger, dann wieder gedämpft, um die Aufsicht nicht zu alarmieren), ob und wie sie ihren Kassiber zustellen sollten.
Zwei Tage später rief er noch immer. Am Anfang war ihm das laute Rufen unangenehm gewesen, jetzt konnte er nicht mehr aufhören damit. Jede Stunde rief er eine Weile in den Hof, mechanisch, fast bewusstlos, mit einem an der Nachtluft erkalteten Gesicht, einer Maske, die ihm bis unter die Haarspitzen wuchs. Das Mitgefühl im Haus war aufgebraucht. Fenster wurden aufgerissen und zugeschlagen, es wurde geflucht, auf Hallisch oder Bunesisch. Man klingelte bei ihm oder schlug gegen die Tür.
«Matthew! Würstchen, feine Milch!«
«Steck dir dein Würstchen sonst wohin, du Penner, dann können wir vielleicht schlafen!«
Der Juniabend war kühl, aber jetzt ließ Ed das Fenster offen. Ohne dass er es eigentlich bemerkte, hatte er sich erst ganz leicht und dann immer weiter vorgebeugt über den niedrigen, aus Sicherheitsgründen mit einer Eisenstange aufgestockten Fenstersims. Wie ein Turngerät umklammerte er mit beiden Händen die rostige Stange und entließ seinen Oberkörper langsam in den Hof:
«Matthew!«
Seine Stimme gewann an Volumen, ihr Klang wurde reiner und stärker, ein dunkles, sauber hallendes U:
«Matth- ew!«
Drinnen, irgendwo weit hinter ihm, tänzelten seine Fußspitzen über das Linoleum, und rund um die letzten Fortsätze seiner Wirbelsäule begann der Stoff der Piloten zu strömen, in einem ganz unbekannten, unvergleichlichen Maß. Eine angenehme Steife setzte ein, nein, es war viel mehr, eine Wollust, die ihn zum Erstarren brachte, vom Scheitel bis zur Sohle –
«Matth--ew!«
Sein Körper schwamm oder schwebte. Er genoss die warme, samtweiche Färbung des Echos am Grund, alles Fremde darin war verschwunden. Noch einmal, vorsichtig, holte er Luft und setzte zum Rufen an, und ohne weiteres traf er den Ton, der den Hof und die Finsternis und die umliegende Welt von Halle an der Saale zu einer einzigen, weichen, schwingenden Einheit verband, in die einzutauchen er geneigt und nun endlich auch vollkommen bereit war —
«Matthew!«
Wie getroffen schlug Ed ins Zimmer zurück. Zwei Schritte schaffte er noch, dann knickte er ein und ging zu Boden. Es war Matthew gewesen, Matthews Schrei. Ein empörtes, beleidigtes Kreischen oder Quietschen, das Geräusch eines ungeölten Scharniers, einer Tür zwischen Diesseits und Jenseits, die mit einem Knall zugeschlagen war und ihn zurückgeschleudert hatte aus dem Sturz — erstes, zweites, drittes Stockwerk. Ihm war schwarz vor Augen; er musste Luft einsaugen und wieder ausblasen, unauffällig, als atme er nicht wirklich, als atme er eigentlich nicht mehr.
Nach einer Weile gelang es ihm, die Hände vom Gesicht zu nehmen. Sein Blick fiel auf das offene Fenster.
Die Katze war sehr still.
Sie war gar nicht da.
Während er einschlief, beugte sich G. über ihn. Sie war ganz nah und deutete mit dem Finger auf ihren halb offenen Mund. Dabei zog sie ihre Lippen in die Breite und presste die Spitze ihrer kleinen, glänzenden Zunge hinter die Vorderzähne, die bei ihr leicht schräg zueinander standen, wie der Schieber eines Schneepflugs:»Matthew, sagen Sie mal Ma-tthhew«.
Er versuchte auszuweichen und fragte, ob alle Englisch-Lehrerinnen diesen kleinen Schneepflug im Mund hätten, in den die Zunge sich so gut einschmiegen ließe.
G. schüttelte den Kopf und schob ihren Zeigefinger in seinen Mund.
«Edgar Bendler, ist das Ihr Name? Edgar Bendler, vierundzwanzig Jahre? Was fehlt Ihnen denn, Ed? Sie meinen, Ihre Behinderung sei angeboren? Dann sagen Sie mal thanks.«
«Thanks.«
«Sagen Sie mal both of us.«