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«Both of us.«

Der Finger in seinem Mund bewegte sich jetzt und erklärte ihm alles. Alles, was ihm fehlte.

«Und jetzt noch einmal both of us, und dann solange Sie können, bitte.«

«Both, both …«

Steif wie eine kleine schwarze Sphinx setzte sich Matthew neben das Bett, um eine Weile dabei zuzusehen, wie er langsam, sehr langsam, in G. eindrang, so, wie es ihr am besten gefiel, millimeterweise.

Wolfstraße

Genau genommen war sein Aufenthalt in der Wolfstraße 18 nicht ganz legal. In dem vom täglichen Auswurf der beiden großen Chemiewerke ergrauten Backsteinbau wohnte er nur zur Untermiete bei einer Untermieterin, war also eine Art Unteruntermieter. Mit Sicherheit existierten auch noch weitere Untervermietungen in der wenigstens hundertjährigen Mietgeschichte dieser Wohnung, lose zusammengehalten durch selbstgemachte, oft nur handgeschriebene Verträge, Inventarlisten oder Absprachen über Kellerbenutzung und verbindliche Vereinbarungen die Benutzung der Toilette betreffend, an die sich kein Mensch mehr erinnern konnte. Fern der Wohnungsämter und ihrer Prozeduren der zentralen Vergabe wuchsen über die Jahre ganze Stammbäume von Untermietverhältnissen heran, aber schon nach zwei Mietgenerationen begann man, die Vorbewohner aus dem Blick zu verlieren. Bald wusste man nur noch ihre Namen, sie sammelten sich auf Briefkästen und Türen, ähnlich den verblassten und zerschrammten Wappen ferngelegener Städte auf einem weitgereisten Stück Gepäck. Ja, so ist es, dachte Ed, man reist nur so in Wohnungen durch die Welt, als alterndes Gepäck.

Den ganzen Tag war er halb bewusstlos durch die Stadt geirrt. Der Schreck dröhnte noch in seinem Schädel, und er schämte sich, was auf irgendeine Weise mit der Frage zusammenhing, ob er gesprungen war oder nicht.

Noch immer stand er vor seiner Tür, auf deren grau überstrichenem Holz sich eine kleine Herde von Plastik- und Messingschildchen aneinanderdrängte. Er dachte an den Wanderstock seines Großvaters, der vom Griff bis zur Spitze mit den silbernen oder goldglänzenden Abzeichen fremder Orte bestückt gewesen war. Später hatte ihm der Stock als Krücke gedient. Als Kind, noch vor der Einschulung, zur Zeit der größten Entdeckungsreisen also, war es für Ed ein reiner Genuss gewesen, mit dem Finger über die kleinen, glänzenden Metallplättchen zu gleiten, von der Spitze des Stockes bis zum Griff und zurück, immer wieder, hin und her. Dabei spürte er die Kühle der Wappen, und während er die fremden Orte streichelte, buchstabierte er sie, so gut er es eben vermochte, und sein Großvater korrigierte ihn:

«A-a-schch-chn. Aschn!«

«M-mm-me-met-tss, Mee-tss.«

«Ss-ss-sst-ssstuuu, sstuutt, sstutt ‌…«

«K-K-Kooop-en-Koopeen-…«

Aachen oder Kopenhagen lauteten die Worte für Orte, die in einer Art Jenseits, jedenfalls in seltsamer Ferne zu liegen schienen und deren Existenz mindestens fraglich war; eigenartigerweise bezweifelte Ed das noch immer, trotz besseren Wissens. Am Ende hatten die Abzeichen die vertraute Gestalt seines Großvaters fremd gemacht und den Alten selbst in eine gewisse Ferne gerückt, in eine Vorzeit, deren Verbindung zur Gegenwart nicht mehr hergestellt werden konnte. Ähnlich verhielt es sich mit Stengel, Kolpacki, Augenlos und Rust — so lauteten die Namen, die noch lesbar waren auf Edgars Tür. Auf einem Zettel über dem Türknauf stand sein eigener Name. Der Name darunter war sauber ausradiert, für ihn aber sichtbar geblieben, auch bei vollständiger Finsternis, auch ohne Papier und ohne Tür. Er hatte damals mit Bleistift geschrieben und das Papier, das sich inzwischen wellte und an den Rändern zu vergilben begann, sorgfältig aufgeklebt.

«Meine weitgereiste Tür«, flüsterte Ed und drehte den Schlüssel im Schloss.

Einerseits herrschte die Allmacht der Ämter und das scharfe Instrument der Zentralen Wohnraumlenkung, andererseits wusste niemand im Haus, wohin Stengel, Kolpacki, Augenlos und Rust gegangen sein konnten oder ob sie überhaupt noch existierten — was Ed für ein gutes Omen zu halten begann.

Er öffnete den Küchenschrank und sah seine kümmerlichen Vorräte durch. Das meiste warf er in den Müll. Einer Eingebung folgend, schraubte er die Ofenklappe auf. Er griff nach dem Hefter mit den Seminaraufzeichnungen der letzten Wochen, steckte ihn ins Ofenloch und zündete ihn an. Er brannte gut. Er nahm einen anderen Hefter und einen weiteren, ohne besondere Auswahl. Schnell wurde es warm im Zimmer, die Schamottesteine knackten. Er zog die grau marmorierte Mappe mit seinen Schreibanfängen aus dem Regal und legte sie aufs Ofenblech. Nach einer Weile stellte er sie zurück und öffnete das Fenster. Es war ein Versuch.

Den ganzen Tag verbrachte er damit, seine Wohnung aufzuräumen, Bücher, Hefter und Blätter zu sortieren und alles in irgendeine Ordnung zu bringen, als ginge es um seinen Nachlass. Sicher, er bemerkte auch, dass er an bestimmten Dingen hing,»aber nur, weil du wegwillst«, flüsterte Ed. Es tat gut, ab und zu den Zweig eines leise gesprochenen Halbsatzes in die Glut zu schieben, damit die schwache Feuerstelle seiner Anwesenheit nicht ganz erlosch.

Matthew fehlte.

Matthew.

Am nächsten Morgen nahm er den Aschekasten aus dem Ofen und brachte ihn zum Kübel, bedeckt mit einem Lappen, damit die feine, schwarzblättrige Asche nicht heruntergeweht werden konnte — so hatte es ihm sein Vater beigebracht. Seit seinem zehnten Geburtstag war Ed ein Schlüsselkind gewesen und also verantwortlich für das Heizen ihres Kachelofens, wenn er allein am frühen Nachmittag von der Schule nach Hause kam. Neben der Kellerordnung und dem Abtrocknen des Geschirrs zählte der Ofen zu seinen» kleinen Pflichten«— ein Wort seiner Mutter. Für fast alles, was ihn betraf, gebrauchte sie Formen der Verkleinerung:»Kleine Pflichten«,»kleine Hobbys«,»du und deine kleine Freundin«. Solche Dinge spukten in Eds Kopf (und er spürte die Hitze der Verwirrung auf seiner Stirn), als er entschied, wirklich niemandem Bescheid zu geben. Edgar Bendler hatte beschlossen, zu verschwinden, ein Satz wie aus einem Roman.

Er ging auf die Knie und fegte rund um den Ofen. Er wischte den Boden, sein stumpfes Rotbraun glänzte. Die heruntergetretenen Kanten der Schwellen und die blanken, abgeschabten Stellen wurden schwarz dabei. Die schwarzen Stellen hatten Fragen. Warum nicht gesprungen? Was hier noch verloren? Hhmm? Hhmm? Ed versuchte, nirgendwo anzustoßen, und setzte den Eimer vorsichtig ab. Er fühlte sich bereits als Eindringling, fremd in einem alten, ehemals eigenen Leben, wie ein Mann ohne Land. Er hörte Schritte vor der Tür, er hielt den Atem an. Er schlich in die Küche, nahm das Megalack aus dem Schrank und trank. Es war eine Art flüssiger Kalk, der seine Schleimhäute tünchte; seit seiner frühen Jugend hatte er einfach zu viel Säure im Magen.

Erst am späten Nachmittag konnte er damit beginnen, seine Tasche zu packen. Er wählte ein paar Bücher aus, dazu sein übergroßes braunes Notizbuch, das er sporadisch als eine Art Tagebuch benutzt hatte. Es war sperrig, unpraktisch, aber ein Geschenk von G. Matthews Decke und seine stinkende Schüssel trug er nach unten in den Hof. Ein zerbrochenes Fenster, ein Moment des Zögerns, dann schleuderte er alles zusammen ins Dunkel des Kummerschuppens.

In einem Schuhkarton mit Postkarten und Stadtplänen fand er eine ältere Landkarte der Ostseeküste. Jemand hatte die Namen einiger Orte mit Lineal unterstrichen und die Küste mit blauer Tinte nachgezeichnet.»Wäre schon möglich, durchaus möglich, Ed, dass du das warst«, murmelte Ed. Tatsächlich hätte er nicht sagen können, wie die Karte in seine Sammlung geraten war, vielleicht aus dem Fundus seines Vaters.

Zum Abschied wollte er sich eine Musik auflegen, leise, sehr leise Musik. Eine Weile stand er wie bewusstlos vor dem Herd, ehe er begriff, dass die Schallplatte auf der Kochfläche nicht abgespielt werden konnte. Dass die Kochfläche kein Plattenteller war.

Zuletzt, bevor Ed seine Wohnung in der Wolfstraße verließ, schraubte er die Sicherungen aus dem Elektrokasten und stellte sie in einer Reihe auf den Zähler: eine kostbare automatische Sicherung mit Druckknopf und zwei ältere, schon angegraute Keramik-Sicherungen. Ein paar Sekunden konzentrierte er sich auf das blanke Zählrad. Wegen der feinen, hypnotisierenden Riffelung des Rädchens wusste man nie genau, ob es tatsächlich stillstand. Ed erinnerte sich daran, wie er mit dreizehn oder vierzehn Jahren das erste Mal von seiner Mutter ins Treppenhaus hinausgeschickt worden war, um allein eine Sicherung zu wechseln. Die Geräusche des Hauses und ihr dumpfer Hall, die Stimmen aus der Nachbarwohnung, ein Husten von oben, das Schlagen von Geschirr — diese Welt war Äonen entfernt, als er die alte Sicherung beiseitelegte und seine Angst die Form einer unbändigen Versuchung annahm. Er sah, wie er langsam, aber unaufhaltsam seinen Zeigefinger ausstreckte und ihn in die leere, glänzende Fassung steckte. Es war das erste Mal gewesen, dass er es so klar und deutlich wahrgenommen hatte: Unter der Oberfläche, gewissermaßen hinter dem Leben, herrschte eine immerwährende Verlockung, ein Angebot ohnegleichen. Es brauchte den festen Entschluss, sich abzuwenden, und nichts anderes war es, was Ed tat an diesem Tag.