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Er schob den Schlüssel unter die Matte, das Blech seiner Briefkastentür war nur eingeklemmt; im Ernstfall würde Verlass auf die Bunesen sein.

Hotel am Bahnhof

Noch vor dem Aussteigen roch er das Meer. Aus seiner Kindheit (Erinnerungen an ihre einzige Ostseereise) kannte er das Hotel am Bahnhof. Es lag dem Bahnhof direkt gegenüber, eine große, schöne Verlockung mit zu Rundtürmen ausgebauten Erkern und Wetterfahnen, in denen die Jahreszahlen bröckelten.

Er ließ ein paar Autos vorbei und zögerte. Es ist nicht klug, besonders was das Geld betrifft, so lautete der Einwand. Andererseits ergab es keinen Sinn, erst am Nachmittag auf der Insel zu landen, denn dann bliebe wahrscheinlich nicht genug Zeit, irgendwo unterzukommen — falls ihm das überhaupt gelingen sollte. Etwa hundertfünfzig Mark trug er bei sich, wenn er gut wirtschaftete, konnte er damit drei, vielleicht sogar vier Wochen überbrücken. Neunzig Mark hatte er für Mietüberweisungen auf seinem Konto zurückgelassen, genug bis September. Wenn er Glück hatte, würde niemand Anstoß nehmen an seinem Verschwinden. Er konnte krank geworden sein. In drei Wochen begannen die Semesterferien. Seinen Eltern hatte er eine Karte geschrieben. Für sie befand er sich in Polen, in Katowice, im sogenannten Internationalen Studentensommer, genau wie im vorigen Jahr.

Die Rezeption war ungewöhnlich hoch gebaut und wie leergefegt, keine Papiere, keine Schlüssel. Andererseits: Was wusste Ed schon von Hotels. Erst im letzten Moment tauchten die Köpfe dreier Frauen auf, versetzt wie die Kolben eines Viertaktmotors, bei dem die vierte Kerze nicht gezündet hatte. Unmöglich, genauer auszumachen, aus welcher Tiefe die Rezeptionistinnen plötzlich heraufgekommen waren; vielleicht stand das hohe Bord in Verbindung mit einem Hinterzimmer, oder die Frauen hatten sich über die Jahre einfach daran gewöhnt, so lange wie möglich in Deckung zu bleiben, still für sich, hinter ihrer dunkel furnierten Barriere.

«Guten Tag, ich …«

Seine Stimme klang matt. Allein im Abteil, war es ihm wieder nicht gelungen zu schlafen. Eine Militärstreife, wahrscheinlich eine Art vorgelagerter Grenzschutz, hatte seine Ostseekarte eingezogen. Der Zug hatte lange in Anklam gehalten, dort mussten sie zugestiegen sein. Er bereute, dass ihm nichts Klügeres eingefallen war, als zu behaupten, dies sei eigentlich nicht seine eigene Karte … Demzufolge er auch nicht wissen könne, warum bestimmte Orte unterstrichen und bestimmte Küstenlinien nachgezeichnet … Plötzlich hatte seine Stimme versagt, stattdessen das Summen in seinem Schädel, Brockes, Eichendorff und immer wieder Trakl, der am unerbittlichsten tönte mit seinen Versen aus Laub und Braun, weshalb Ed sich an den Kopf fassen musste. Die plötzliche Gebärde: Im Reflex hob einer der Soldaten sein Maschinengewehr.

Am Ende konnte Ed wohl von Glück sagen, dass sie ihn sitzen gelassen hatten.»Komischer Vogel«, raunte der Kalaschnikow-Soldat draußen im Gang. Ed stand der Schweiß auf der Stirn, Felder zogen vorüber, schwarzes Gras, den Bahndamm entlang.

«Haben Sie reserviert?«

Zum ersten Mal in seinem Leben nahm er ein Zimmer. Das Wunder war, dass es funktionierte. Ed erhielt ein längeres Formular aus stumpfem Papier, sein Personalausweis wurde verlangt. Während er mit Mühe seinen Ellbogen über das hohe Bord schob und mit steifem Handgelenk das Formular ausfüllte, blätterten die Rezeptionistinnen abwechselnd in dem Ausweisheftchen herum. Für einen unsinnigen Moment befürchtete Ed, dass sein heimlicher Aufbruch sich unterwegs automatisch eingetragen haben könnte, ganz hinten, auf einer der leeren Seiten, unter Visa und Reisen. Unerlaubt entfernt — schon während seiner Zeit beim Militär hatte es diesen kleinen, verhängnisvollen Stempel gegeben, der die verschiedensten Strafen nach sich zog.

«Entschuldigung, ich mache das zum ersten Mal«, sagte Ed.

«Was?«, fragte die Concierge.

Ed hob den Kopf und versuchte ein Lächeln, aber der Brückenschlag funktionierte nicht. Er bekam einen Schlüssel, an den mit kurzem Strick ein lackierter Holzwürfel gebunden war. Er schloss die Faust um den Würfel und wusste die Nummer seines Zimmers. Die Zahl war sauber eingebrannt. Augenblicklich sah er den Hausmeister des Hotels in seiner Werkstatt im Keller; er hockte dort vor einer endlosen Reihe mühsam auf Größe gesägter und geschmirgelter Klötzchen, auf die er das glühende Eisen seines Lötkolbens setzte — Zahl für Zahl, Zimmer für Zimmer. Auch Ed war einmal ein Arbeiter gewesen, und noch immer schien ein Teil seiner selbst in den Werkstätten zu Haus, in den Höhlen der werktätigen Klasse, jenen Nebenräumen der Welt, in denen die Dinge ihren klaren, greifbaren Umriss behauptet hatten.

«Zweiter Stock, die Treppe links, junger Mann.«

Über einer messingbeschlagenen Tür neben der Treppe schimmerte das Wort Moccastube. Auf dem ersten Absatz sah Ed sich noch einmal um; zwei der drei Frauenköpfe waren wieder verschwunden, die dritte Frau telefonierte und verfolgte ihn dabei mit ihrem Blick.

Als er erwachte, war es schon nach sechzehn Uhr. Am Fußende des Doppelbettes stand ein Wäscheschrank. In der Ecke ein Fernseher auf einem verchromten Untergestell. Über der Toilette hing ein gusseiserner, mit Kondenswasser beschlagener Spülkasten, der aus einer viel früheren Zeit stammen musste. Der Hebel für die Spülung imitierte zwei springende Delphine. Während die Tiere gemächlich in ihre Ausgangsstellung zurückkehrten, ergoss sich ein endloser Schwall. Ed genoss das Geräusch und fühlte sich befreundet mit den Delphinen.

Dass man ein Hotel betreten, ein Zimmer verlangen und erhalten konnte (einigermaßen umstandslos), musste zu den wenigen Wundern gezählt werden, die überlebt hatten — »trotz al-le-dem und alle-dem«, gurgelte Ed in den Wasserstrahl der Dusche. Mit der Zeit vergaß man einfach, dass diese Dinge noch existierten, im Grunde glaubte man nicht mehr daran, ja, man vergaß, wozu das Leben überhaupt gut sein konnte. So oder so ähnlich dachte Ed. Er wollte onanieren, aber dann fehlte ihm die Konzentration.

Rechts vom Hotel lag ein See mit einer Fontäne, die sich regelmäßig in den Himmel hob, dann wieder in sich zusammenbrach und für Sekunden verschwunden blieb. Ein Pärchen in einem Tretboot glitt langsam an das Wasserspiel heran. Plötzlich, beim Überqueren der Straße zum See, überkam Ed ein gutes Gefühl. Das alles ist der Beginn von etwas. Jemand, der schon einiges hinter sich hat, zeigt sich in der Lage … Hier endete sein Satz. Ihm wurde klar, dass es ein verspäteter Aufbruch war. Er fühlte den Schmerz. Als erwachte er erst jetzt aus seiner Betäubung, millimeterweise.