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Eine gepflasterte Straße, die nach links abbog, hieß An den Bleichen. Er kam an ein paar heruntergekommenen Villen vorbei, mit Wintergärten, Höfen und Garagen darin. Er trat vor eines der Klingelschilder, um einen Blick auf die bisherige Reiseroute des Hauses zu werfen. Das kleine tapfere Licht im Inneren des Klingelbretts hielt auch einige der unteren, schon länger, vielleicht seit Jahren überklebten Namen lesbar. Im Weitergehen versuchte Ed, ihren Rhythmus aufzunehmen: Schiele, Dahme, Glambeck, Krieger … Aus seinem Gemurmel wurde ein Steg über den See, und seine Schritte auf dem Holz ergaben eine Art Metronom.»Die-schon-mal-ge-stor-ben-sind …«, flüsterte Ed und fasste sich unwillkürlich ins Gesicht, … sehen alles mit anderen Augen? Die alte Stadtmauer tauchte auf, ein Torbogen und ein Café namens Torschließerhaus.

Er durchquerte die Altstadt bis zum Hafen und kontrollierte die Abfahrtszeiten der Fähre. Im Kiosk der» Weißen Flotte «erwarb er eine Überfahrt für den nächsten Tag. Der Anblick der Schiffe stimmte ihn euphorisch. Die Stufen bis zum Kai, ein hellgrauer Beton, und dann: das Meer.

Um billig zu essen, kehrte Ed in den Bahnhof zurück. Er fühlte sich ausgeruht und erwog seine Chancen. Versteck im See, geheime See, Hiddensee … Er kannte die Geschichten. Ein unablässiges Raunen umspülte das Eiland.

Ed kaute bedächtig und trank seinen Kaffee in winzigen Schlucken. Zuerst würde es nicht leicht sein, auf eines der Schiffe zu kommen. Dann fast unmöglich, ein Quartier zu finden, aber ein anderes Ziel war nicht denkbar innerhalb der Grenzen. Sicher, er hatte Experten gehört, die behaupteten, dass Hiddensee im Grunde schon außerhalb läge, exterritorial, eine Insel der Seligen, der Träumer und Traumtänzer, der Gescheiterten und Ausgestoßenen. Andere nannten sie das Capri des Nordens, auf Jahrzehnte ausgebucht.

In Halle hatte Ed einen Historiker kennengelernt, der den Winter über in den Offenbach-Stuben bediente, einem Weinrestaurant, wo er mit G. einige Male an der Bar gewesen war. In jedem Frühjahr, zu Saisonbeginn, kehrte der Historiker (so nannte man ihn noch) auf die Insel zurück.»Endlich, endlich!«, wie er seinen Gästen gern zurief, die nachsichtig nickten, wenn er anhob zu einer seiner Elogen, für die er das Publikum der Offenbach-Stuben gewöhnlich mit» Ihr Lieben!«ansprach.»Die Insel, ihr Lieben, hat alles, was ich brauche, immer gesucht habe, bereits wenn sie auftaucht am Horizont, vom Dampfer aus gesehen, ihre schmale zerbrechliche Gestalt, ihr feiner Umriss, im Rücken noch der letzte graue Hahnenkamm des Festlands, Stralsund mit seinen Türmen, das ganze Hinterland mit seinem Dreck, ihr wisst, ihr Lieben, was ich meine, ihr Lieben, die Insel taucht auf und augenblicklich vergesst ihr das alles, denn jetzt liegt sie vor euch, und etwas Neues fängt an, ja, schon da, auf dem Dampfer!«, schwärmte der Mann, ein grauhaariger Mittvierziger, aus dem Universitätsdienst ausgeschieden, freiwillig, wie es hieß, und dafür umso tiefer in Träume versunken; wie viele Denker des Landes trug er eine Art Marx-Bart.»Die Freiheit, ihr Lieben, besteht im Kern darin, im Rahmen der existierenden Gesetze eigene Gesetze zu erfinden, Objekt und Subjekt der Gesetzgebung zugleich zu sein, das ist ein Hauptzug des Lebens dort oben, im Norden. «So fasste es der Historiker der Offenbach-Stuben zusammen, eine Trommel voller Schoppen vor der Brust.

Die für Ed wichtigste Nachricht besagte, dass auch während der Saison plötzlich Stellen frei werden konnten. Von einem Tag auf den anderen wurden Kellner gesucht, Abwäscher, Küchengehilfen. Es gab Saisonkräfte, die über Nacht verschwanden, aus den verschiedensten Gründen. In der Regel verstummten die Erzähler an diesem Punkt, um einen Blick auf ihr Gegenüber zu werfen, und dann, je nach Lage der Dinge, in eine der möglichen oder unmöglichen Richtungen fortzufahren:»Natürlich gibt es immer wieder Leute, die aufgeben, zurückgehen aufs Festland, die einfach nicht geschaffen sind dafür. «Oder:»Du weißt, eine Ausreise wird plötzlich genehmigt, mitten im Sommer …«Oder:»Sicher, es ist kaum zu glauben, fünfzig Kilometer, aber gute Schwimmer hat es schon immer gegeben …«Am Ende aller Reden schien Hiddensee ein schmales Stück Land von mythischem Glanz, der letzte, der einzige Ort, eine Insel, die immer weiter hinaustrieb, außer Sichtweite geriet — man musste sich beeilen, wenn man noch mitgenommen werden wollte.

Nach dem Essen kehrte Ed ins Hotel zurück. Jemand hatte sich an seinen Sachen zu schaffen gemacht, doch nichts fehlte. Er trat ans Fenster und sah zum Bahnhof hinüber. Im Bett begann er nach Matthew zu rufen — ein Rückfall. Aber er rief nur sehr leise und nur, um noch einmal seine Stimme zu hören vor dem Schlafen. Nein, er war nicht gesprungen.

Die Insel

Meist kam die Absage sofort. Irgendjemand, der im Vorbeigehen rief:»Alles voll!«, ein paar Köpfe, die sich hoben, wenn Ed sich halblaut bedankte und möglichst rasch wieder entfernte, die Faust geballt um den verschwitzten Riemen seiner Kunstledertasche.

Er war im Norden an Land gegangen und Richtung Süden gewandert, etwa sechs Kilometer, die er dann noch einmal in umgekehrter Richtung zurücklegte. Die Insel war stellenweise so schmal, dass man zu beiden Seiten das Wasser sehen konnte. Links das Meer aus Silber, rechts der Bodden, ein dunkelblaues Glas, fast schwarz. Die Wolken schienen tiefer zu ziehen als gewöhnlich, und für eine Weile hing Ed ihren sonderbar langgestreckten Formen nach. Während der Horizont noch wuchs, schrumpfte der Abstand zum Himmel, eine Dimension verschob die andere. Am Ende des Tages, als er die Hoffnung bereits zu verlieren begann, machte ihm die Frage so gut wie nichts mehr aus:»Hätten Sie vielleicht eine Arbeit für mich? Aber ich bräuchte auch ein Zimmer.«

In einer Gastwirtschaft namens» Norderende «bot man ihm 1,40 Mark die Stunde, für alle möglichen Tätigkeiten, wie es hieß,»aber ohne Quartier«. Etwas abseits standen ein paar ausrangierte Strandkörbe. Ed mochte das ausgeblichene Blau ihrer Markisen, es war die Farbe von Nichtstun, Juli, Sonne im Gesicht. Während der übelgelaunte Wirt ein paar Worte mit ihm wechselte (Eds erstes Gespräch auf der Insel), huschten zwei seiner Angestellten vorüber, mit gesenktem Kopf, als hätten sie den Verlust ihrer Anstellung zu befürchten. Einen Moment verharrte Ed noch zwischen den Abfalltonnen und Getränkekisten. Ohne es zu bemerken, hatte er die Demutshaltung eines Bettlers angenommen.

Als er weiterzog, rief ihm einer der Angestellten etwas nach, durch die fast geschlossene Tür des Lagerschuppens, so dass Ed den Mann nicht genauer erkennen konnte. Alles, was er verstand, war das Wort» Klausner«, und dann» Crusoe, Crusoe — «, als würde Ed eine geheime Botschaft übermittelt. Wahrscheinlicher war, dass der Mann ihn verspotten wollte mit der alten Geschichte vom Schiffbruch.

Es dämmerte bereits, und in den Häusern gingen die Lichter an. Das Gewicht seines Gepäcks zwang Ed, beständig etwas schief zu gehen. Der Trageriemen war viel zu schmal und schnitt in die Schulter, das Kunstleder war brüchig geworden. Ed überlegte, ob es günstiger gewesen wäre, wenn er die Tasche abgestellt, besser noch, versteckt hätte in einem der Sanddornbüsche am Weg. Die Frage nach Arbeit hatte er mit Sicherheit falsch formuliert, falsch und dumm, als gehöre er nicht zur selben Gesellschaft. Hier hatte man die Arbeit, niemand musste darum bitten, und schon gar nicht auf diese Weise, von Haus zu Haus, mit einer verlotterten Tasche über der Schulter. Die Arbeit war wie ein Ausweis, man musste sie vorzeigen können; keine Arbeit zu haben widersprach dem Gesetz und war strafbar. Ed ahnte, dass die Frage, so wie er sie gestellt hatte, gar nicht erhört werden konnte, im Gegenteil, sie glich einer Provokation. Und während er so vor sich hin trottete mit seiner viel zu schweren Tasche, formulierte er neu:

Benötigen Sie vielleicht noch etwas Hilfe in dieser Saison?

Es kam auf die richtigen Worte an.

Auf dem Weg durch Kloster, das nördlichste Dorf der Insel, begegneten ihm ein paar Urlauber. Kurzerhand bat er sie um Unterkunft. Sie lachten, als hätte er einen großartigen Scherz gemacht, und wünschten ihm» noch alles Glück der Welt«. Er kam an einer Reihe schöner älterer Holzhäuser vorüber. Ein Mann im Alter seines Vaters beschimpfte ihn vom Balkon aus, dabei stieß er seine Bierflasche mehrmals ruckartig in die Luft. Offensichtlich war er betrunken genug, um einen Dahergelaufenen ohne weiteres zu erkennen.