«Bräuchten Sie noch Unterstützung in Ihrer Küche? Ich hätte gerade etwas Zeit.«
Vom Kellner der Offenbach-Stuben (überall hielt er Ausschau nach dem Marx-Bart) wusste Ed, dass es gefährlich sein konnte, am Strand zu schlafen. Es hatte mit den Grenzpatrouillen zu tun. Sie würden ihn finden, sie würden ihm mitten im Traum ins Gesicht leuchten mit ihren Stabtaschenlampen und ihn nach seinem Fluchtplan befragen. Ohne Passierschein oder Quartier war der Aufenthalt im Grenzgebiet verboten. Die Kontrolleure auf dem Dampfer hatten sich nicht besonders dafür interessiert, Benutzer der frühen Fähre hielt man für Tagestouristen. Wichtig war, dass man bei Nachfrage irgendetwas erzählen konnte, irgendeinen Namen, irgendeine Adresse. Der Naturalist Gerhart Hauptmann hatte behauptet, auf der Insel hießen alle Menschen Schluck und Jau, eigentlich gäbe es nur diese beiden Familien: Schluck und Jau. Ed misstraute diesen Namen, Schluck oder Jau, das klang unglaubwürdig, erfunden. Ja, in der Literatur war es möglich, aber nicht im Leben. Im Stralsunder Hafen hatte er im Telefonbuch nachgeschlagen und den Namen Weidner gewählt und ihn auf einen Zettel gekritzelt, den er eng zusammengefaltet bei sich trug: Familie Weidner, Kloster Nr. 42.
«Bräuchten Sie zufällig noch Hilfe in Ihrer Betriebsgaststätte?«
Ein Satz wie aus Holz.
Und wahrscheinlich sah man ihm an, dass er nur unterkriechen, nur verschwinden wollte, dass er im Grunde gescheitert war, aufgelaufen, ein Wrack, erst vierundzwanzig Jahre alt und schon ein Wrack.
Der Strand kam nicht in Frage und auch die Reste des Küstenbunkers nicht. Seine Ängste waren kindlich: Jemand könnte ihm im Schlaf auf den Kopf treten, versehentlich. Das Wasser könnte plötzlich ansteigen und ihn ertränken. Es könnte Ratten geben im Bunker.
Mit Einbruch der Dunkelheit erreichte Ed das nördliche Ende der Insel. Alle drei Dörfer hatte er zweifach durchwandert: Neuendorf, Vitte und Kloster. Auf einer Tafel, die er im Hafen fand (seltsam, dort wieder anzukommen, wo er am Vormittag an Land gegangen war, schon vor Jahren, wie ihm schien), hieß die Gegend hinter dem Ort Bessiner Haken, ein Vogelschutzgebiet.
Eine Nacht unter freiem Himmel gehörte jetzt zu seinem Leben, davon war Ed überzeugt, und es war richtig, dass es so begann, trotz seiner Ängste. Am Ortsausgang stand ein verwitterter Wegweiser mit der Aufschrift» Strahleninstitut«. Auf einem Hügel in der Ferne, hinter Pappeln, war der Umriss eines größeren Gebäudes zu erkennen. Er kam an einer großen Scheune und an Zäunen vorbei, die mit Altöl gestrichen waren. Das Schilf am Weg rauschte, es überragte ihn, so dass er das Wasser aus dem Blick verlor; die Abendschreie irgendwelcher Gänse tönten durch die Luft. Das letzte Haus, ein mit Moos überwachsenes Reetdach. Der Gemüsegarten erinnerte Ed an den Garten seiner Großmutter: Kartoffeln, Kohlrabi und Astern. Der Panzerplattenweg, nachlässig verlegt, verlor sich in einer sumpfigen Wiese.
Der erste Hochstand glich eher einer Kabine, einem Baumhaus, ein überaus gutes Versteck, leider war es verriegelt. Der zweite, kleinere Hochsitz stand offen und schwankte, so dass Ed sich fragen musste, ob er überhaupt noch in Benutzung war. Mit Mühe hievte er seine Tasche nach oben. Er versuchte, alles möglichst leise zu verrichten. Er las etwas Holz auf, um den Eingang zum Turm am Ende der Leiter provisorisch zu verbarrikadieren. Als er mit ein paar morschen Ästen oben anlangte, streifte ihn ein Licht. Wie getroffen warf Ed sich zu Boden und prallte mit der Stirn gegen die Sitzbank. Regungslos blieb er liegen. Er atmete schwer, er roch das Holz, seine Stirn brannte. Die kleine Grundfläche des Hochstands erlaubte es nicht, die Füße auszustrecken. Er dachte an Klondike-Fieber, an den Mann in der Wüste aus Schnee, dem es in letzter Sekunde gelungen war, ein Feuer zu entzünden, mit seinem letzten Streichholz, aber dann … Nach einer Weile kehrte das Licht zurück. Langsam erhob sich Ed und begrüßte den Leuchtturm wie einen alten Freund, den er nur vorübergehend aus den Augen verloren hatte.
«Und, brauchst du vielleicht noch jemanden?«
Das Leuchtfeuer fächerte sich ruckweise auf und schob sich wieder ineinander — wahrscheinlich war das ein Nein. Seltsam, wie der prismatische Finger aus Licht abschnittsweise vorschnellen konnte, um im nächsten Moment innezuhalten, als wäre er auf etwas gestoßen, das wichtiger war, als sich endlos weiter im Kreis zu drehen.
«Ich meine nur so, als Hilfe, für diese Saison?«, murmelte Ed.
Seinen Plan, noch einmal in den Ort zu gehen, um in einer der Kneipen etwas zu essen, hatte er aufgegeben. Er war auch noch gar nicht am Strand gewesen. Aber allein die Tatsache, hier zu sein, auf der Insel … Eine Weile lauschte er noch ins Dunkel des Dschungels ringsum, dann streifte er Pullover und Jacke über. Den Rest seiner Sachen breitete er, so gut es ging, auf dem Bretterboden des Hochstands aus. Es war kalt in dieser Nacht.
Zum Klausner
13. Juni. Eds Hochstand war noch in Dunkelheit getaucht, als ein ohrenbetäubender Lärm anhob. Die Vögel des Vogelschutzgebiets erwachten und forderten den Tag, ein Getöse voller Unwillen und langwieriger, sich endlos wiederholender Beschwerden. Noch vor Sonnenaufgang verließ Ed sein Quartier und trabte landeinwärts, sein Gesicht war von Insekten zerstochen, die Stirn brannte.
Seine erste Aufgabe würde es sein, die Gegend zu erkunden, vor allem ein besseres Versteck aufzuspüren oder wenigstens einen Ort, wo er tagsüber seine Tasche und seine Sachen (die schwere Thälmannjacke, den Pullover) sicher unterbringen konnte. Bis auf die Märchen und Mythen des Festlands wusste Ed nicht viel über die Insel, weder über ihre Geographie noch über die Zyklen von Überwachung und Kontrolle durch die Grenzkompanie. Zunächst schien alles sehr übersichtlich: Wiesen, Heide und eine einzige Straße, halbwegs befestigt mit Platten aus Beton, keine Landschaft für Verstecke. Verlockend dagegen der Wald und das Hochland im Norden.
Die folgende Nacht kroch Ed in eine der hohen Einbuchtungen zu Füßen der Küste. Seine Höhle glich einem breiten frischen Riss; der Steilhang hatte sich für ihn geöffnet. Es gab keine Mücken, aber aus dem Lehm tropfte Wasser in seinen Nacken. Das Meer war schwarz und fast stumm, bis auf ein regelmäßig wiederkehrendes Siedegeräusch im Kies zwischen den Ufersteinen — als gieße jemand Wasser auf eine glühende Kochplatte. In seiner Höhle gab es eine Vielzahl von Geräuschen, die Ed nicht zuordnen konnte. Etwas raschelte über ihm, und es raschelte im Lehm. Und manchmal atmete es oder stöhnte leise. Aus den Auswendigbeständen summten ein paar Verse herüber, in denen es hieß, die kleine schlappe Ostseewelle ahme das Flüstern der Toten nach. Ed verdrossen diese Einflüsterungen; wenn er es ernst meinte mit seinem Aufbruch (und Neuanfang), würde er dagegen angehen müssen, weshalb er es noch einmal mit eigenen Gedanken versuchte.
Er schloss die Augen, und nach einer Weile sah er den Ostseewellenmann. Er war groß, gebeugt, es war der Hausmeister des Instituts. Er schöpfte Wasser aus dem Meer und goss es über seine Feuerstelle am Strand. Das Wasser verdampfte, Rauch stieg auf, und der Mann selbst wurde immer dünner und durchsichtiger dabei. Zuletzt blieb nur noch sein Gesicht. Es lächelte ihn an aus dem Sand und entblößte dabei sein fauliges Gebiss, eine Masse aus Miesmuscheln, Teer und Algen; es sprach:»Meine Anwesenheit ist verbraucht.«
Am Morgen waren seine Sachen durchnässt, und ein feines Delta hatte sich in den Strand gegraben. Das Quellwasser formte den Lehm zu glänzenden Schollen, auf denen man ausgezeichnet gehen konnte. An einigen Stellen staute es sich. Erst umständlich kniend (wie ein Tier mit erhobenem Hinterteil und vorgerecktem Schädel) und dann lang ausgestreckt, versuchte er zu trinken. Obwohl so kurz nach Sonnenaufgang kein Mensch am Strand sein würde, fühlte Ed sich beobachtet. Mit einer Hand schob er sein halblanges Haar in den Nacken, mit der anderen hielt er die Steine auf Abstand, die sich zwischen seine Rippen pressen wollten.»Die Natur ist kein Zuckerschlecken, jawoll«, murmelte Ed; er imitierte die Stimme seines Vaters und musste kichern dabei. Er hatte die zweite Nacht geschafft.