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«Rimbaud!«

Jemand hatte gerufen, und Ed war aufgesprungen, um vorzutragen, es geschah automatisch, er konnte nichts dagegen tun, im allerersten Moment jedenfalls, in seinem Schädel polterten die Bestände: Das trunkene Schiff in der freien Nachdichtung Paul Zechs …»Rimbaud!«, rief es noch einmal aus dem Inneren des Klausners, und Ed begriff, dass der Kellner mit dem Schnauzbart gemeint war.

Fast eine Stunde verging, bevor ein anderer, kleinerer Mann in der Tür erschien und eine Weile regungslos zu ihm hinsah. Sein Gesicht blieb im Schatten. Etwas an seiner Haltung verriet, dass er die Schwelle nicht überschreiten würde. Nach einer Weile hob er auf undefinierbare Weise die Hand, nur halb hoch, als begrüße er Ed oder als winke er ab. Ed erhob sich, und obwohl er noch einige Tische weit von der Tür entfernt war, begann der Mann zu sprechen, so laut, als wäre draußen auf der Terrasse eine halbe Hundertschaft von Leuten versammelt, für die es wichtig sein würde, ihn von Anfang an gut zu verstehen.

«Mein Name ist Krombach, Werner Krombach, Direktor des Betriebsferienheims Zum Klausner.«

«Mein Name ist Edgar Bendler«, beeilte sich Ed zu erwidern, er rief es in den Rücken des vorauseilenden Direktors und beschleunigte dabei seinen Schritt. Sie durchquerten den Gastraum, der Mann wirkte sportlich, untersetzt, das glänzende Ei einer kleinen gepflegten Glatze zog sich bis auf den Hinterkopf, das Haar an den Seiten war grau und kurz geschoren. Mit halbem Auge nahm Ed den Tresen und eine gusseiserne Kasse wahr. Sie betraten ein winziges Kontor, geschickt schob sich der Direktor an seinem Schreibtisch vorbei, nahm Aufstellung und reichte ihm die Hand.

«Bitte nehmen Sie doch Platz, Herr Bendler.«

Nichts in seinem Auftritt verriet Misstrauen oder Verachtung. Er nahm Eds Ausweis zur Hand, schlug ihn auf, blätterte darin, strich sich dabei mehrmals über die hohe Stirn, als wäre das, was er dort zu sehen bekäme, im Grunde schon zu viel, und fragte ihn schließlich, ob er gesund sei.

Auf Krombachs Tisch stand eine vorsintflutliche Schreibmaschine der Marke Torpedo, daneben ein graues Telefon und ein Foto, das ihn vor dem Eingang eines großen, kupferglänzenden Gebäudes zeigte; es war das sagenumwobene Palasthotel — von den Schweden errichtet, wann und wo auch immer im Land die Sprache darauf kam, fand sich einer, der diese Bemerkung in die Runde raunte,»von den Schweden …«Das Foto zeigte den Direktor umgeben von einer ganzen Schar Frauen und Männer in Kellnerkleidung oder Hoteluniformen, nur Krombach trug beinah dasselbe wie an diesem Tag: ein blassrosa Sommerhemd mit weinroten Manschettenknöpfen, ein leichtes Sakko, hellbraun kariert, und ein Tuch um den Hals, vielleicht aus Seide. Nur die Krawatte fehlte.

«Keine Krankheiten, nirgendwo?«Ed blickte auf, und Krombach sah ihn ernst und eindringlich an.

Wahrscheinlich war, dass er die Frage nicht richtig verstand. Ed hatte keine Ahnung, worauf Krombach hinauswollte, und schwieg vorsichtshalber. Er hatte beschlossen, in jedem Fall geeignet zu sein. Woher Ed komme und was er bisher getan habe — Krombachs Fragen, beiläufig und nur so, als entsprächen sie irgendeinem Protokoll, das ihn selbst nicht besonders interessierte. Zu Eds beruflicher Laufbahn gehörte, dass er Maurer gelernt hatte, und er sagte es.»Baufacharbeiter also«, korrigierte ihn Krombach.»Putzarbeiten, Mauerwerksbau, Beton und Schalung und so weiter, dann Ihr Studium, Germanistik und Geschichte, Lehrerstudium vermute ich, der übliche Verlauf, und dann das Übliche?«

Noch bevor Ed etwas erwidern konnte, sprach Krombach über die Insel und sein Restaurant. Seine Stimme veränderte sich, sie wurde leise und wie abwesend.»Wir haben hier oben eine besondere Lage, besondere Bedingungen, in jeder Hinsicht, aber das ist Ihnen sicher bewusst, Herr Bendler, ich glaube, sonst wären Sie jetzt nicht hier. Zunächst die Strömungsverhältnisse. Das ständige Abbrechen und langsame Abdriften der Küste, auf der man dieses Restaurant einmal errichtet hat, vor beinah achtzig Jahren, auf den Steinen der alten Einsiedelei, den Fundamenten, die der Einsiedler uns hinterlassen …«

Während der Direktor vom langsamen, unaufhaltsamen Verschwinden der Insel in den Weiten der Ostsee zur Geschichte des Klausners wechselte, schien er zu vergessen, dass Ed vor ihm saß. Länger war von einem Mann namens Ettersberg oder Ettenburg die Rede, den er mit warmer Stimme den Urklausner nannte, ein Mann in langen Gewändern,»immer unterwegs zwischen Turngeräten und Tusculum, Brausebad und Bibliothek …«

Zerstreut genoss Ed die einschläfernde Musik in Krombachs Rede. Offensichtlich gefiel es dem Direktor, seemännische Ausdrücke zu verwenden; jeder seiner Mitarbeiter zählte für ihn zur» Besatzung«, und er selbst hieß gelegentlich» der Kapitän«.»Sie haben es also gesehen? Scholle für Scholle bricht ab von der Küste und rutscht in diese schöne Schlucht, tatsächlich ein Naturtheater, und irgendwann wird sich auch der Klausner, unsere Arche, auf den Weg machen, eines Nachts, vielleicht schon beim nächsten oder übernächsten Sturm, hinaus aufs Meer, und mit ihm Passagiere und Besatzung, und dann kommt es wirklich darauf an, verstehen Sie?«

Tatsächlich war das Büro nur ein Kabuff, dessen Decke in Krombachs Rücken steil abfiel, so dass der Raum an seinem Ende nicht mehr als einen guten Meter Höhe maß. Dort war ein Schlafsofa aufgestellt, geschützt von einer Tagesdecke. Links von Ed stand ein Schrank. In seinem oberen, offenen Teil stapelten sich Blechschachteln mit Zigarillos der Marke Dannemann Brasil, im Fach darunter standen zwanzig oder dreißig kleine dunkle Flaschen, das Etikett war nicht zu entziffern. An der Wand über dem Schrank thronte ein Bullauge mit Aussicht auf die hellbraun gestreifte Tapete. Erst jetzt bemerkte es Ed: Das Büro hatte kein Fenster. Den Geräuschen nach zu urteilen, war es direkt unter eine Treppe gebaut, die ins Obergeschoss führte. Ohne Zweifel der Ort, der gewöhnlich für Abstell- oder Besenkammern reserviert war. Neben dem Bullauge hing eine Reihe quadratischer Schaukästchen mit komplizierten Seemannsknoten, die aussahen wie hinter Glas ergraute Herzen, ihre Windungen wie ewige Rätsel –

«… und der Iphigenie?«, fragte der Direktor. Ed stotterte, aber die Bestände sprangen an, sein kleiner Überlebensdynamo.

«Richtig, genau dieses Stück!«

Ed nickte, sobald der Blick des Direktors ihn streifte. Tatsächlich fiel es ihm schwer, der Rede zu folgen, die Krombachs Einstellungsansprache sein musste. Vielleicht waren diese Sätze schon zu oft gesprochen worden. Trotz ihres ungewöhnlichen Inhalts hatten sie etwas Abgenutztes, aber auch Wärmendes, Stubenhaftes, und dazu passte das Kabuff. Vier Tage nach seinem Sprung (nein, er war nicht gesprungen) erschien es Ed nur gut, in diesem winzigen Kontor zu hocken und den Worten des Direktors zu lauschen. Ja, er wollte weg, abtauchen, einsam sein, aber nicht mehr allein. Krombachs sanft murmelnde Rede, das genügte ihm, er fühlte sich geborgen. Es hatte auch mit dem Geruch zu tun, von dem das Kabuff erfüllt war, Geruch aus einer viel früheren Zeit, stark und beizend; es schien von Krombach selbst auszugehen, von der glatten Haut, die seinen Schädel umspannte wie frisch geölt, vielleicht aber auch von den Flaschen im Schrank …

«Also gut. Warum sind Sie hier, Herr Bendler?«

Ich habe mich zu weit aus dem Fenster gelehnt, flog es Ed durch den Kopf. Nur mit Mühe brachte er seinen Satz heraus, versehentlich auf die alte, unbrauchbare Weise:»Ich suche eine Arbeit, aber ich bräuchte auch ein Zimmer.«

Krombach holte Luft, drehte sich auf seinem Bürostuhl ins Profil und betrachtete die angegrauten Herzen.

«Keine Angst. Auf diesem Stuhl musste sich noch niemand entschuldigen dafür, im Gegenteil, gewissermaßen ist es die Voraussetzung. Meine Besatzung, glauben Sie mir, das sind die verschiedensten Typen, verschiedenste Wege, aber alle führten in dieses Büro, und noch kein Einziger wurde hier schlecht behandelt, nur weil ihn das Festland ausgespuckt hat. Verschiedene Wege, aber letztlich ist es überall dasselbe. Das kennt man, das weiß man, irgendwann kommt der Punkt. Die Insel hat uns aufgenommen. Wir haben hier unseren Platz gefunden, und unter den Esskaas ist einer für den andern da, wenn es darauf ankommt. In dieser Besatzung allerdings«, seine Hand kreiste weiträumig über dem Schreibtisch und streifte dabei fast die Wände seines Kabuffs,»geht es um mehr, und darin sind wir uns alle einig …«