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Ursula Krechel

Landgericht

Mitten durch den Schmerz, die Welt in einer so ungeheuren Unordnung zu erblicken, zuckte die innerliche Zufriedenheit empor, seine eigne Brust nunmehr in Ordnung zu sehen.

Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas

Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.

Joh. 1, 11

Über dem See

Er war angekommen. Angekommen, aber wo. Der Bahnhof war ein Kopfbahnhof, die Perrons unspektakulär, ein Dutzend Gleise, aber dann betrat er die Bahnhofshalle. Es war ein großartiges Artefakt, eine Bahnhofskathedrale, von einem kassettierten Tonnengewölbe überspannt, durch die Fenster flutete ein blaues, fließend helles Licht, ein Licht wie neugeboren nach der langen Reise. Die hohen Wände waren mit dunklem Marmor verkleidet, „reichskanzleidunkel“, so hätte er ironisch vor seiner Emigration diesen Farbton für sich genannt, jetzt fand er ihn nur herrschaftlich und vornehm, ja auch einschüchternd. Aber der Marmor war nicht einfach nur als Verkleidung auf die Wand gebracht worden, sondern ebenfalls abgesetzt, abgetreppt, so daß die Wände rhythmisch gegliedert waren. Der Fußboden blank, hinter den Schaltern ordentlich uniformierte Männer, die durch ein rundes Fensterchen blickten, davor Schlangen von Menschen, die gar nicht so schlecht gekleidet waren. (Wenn er bedachte, es handelte sich um Kriegsverlierer, um Geschlagene, trugen sie den Kopf erstaunlich hoch.) Er sah auch französisches Wachpersonal in den Nischen der Halle, das einen höflichen Blick hatte auf das Bahnhofstreiben. Die Männer trugen olivfarbene Uniformen und Waffen. Wie er mit einem Blick die vornehme Halle erfaßte, konnte er sich keinen Anlaß eines Eingreifens vorstellen, und dabei blieb es auch. Eine stille, mahnende, Gewißheit herbeizwingende Gegenwart.

Er spürte die beruhigende Zivilisiertheit, die Zeitlosigkeit dieser Bahnhofshalle, er sah die hohen Schwingtüren, sicher drei Meter hoch und ganz mit Messingblech verkleidet. Mit feiner Schreibschrift war das Wort „Drücken“ in die Messingoberfläche graviert worden, etwa in Brusthöhe. Kathedralentüren, Türen, die dem Reisenden alle Allüren nahmen, das Bahnhofswesen war wichtig und bedeutend, und der einzelne Reisende würde schon sicher und pünktlich an sein Ziel kommen. Kornitzers Ziel war so lange im Ungefähren geblieben, nicht einmal ein verschwommenes Sehnsuchtsziel dachte er sich aus, so daß er diesen Widerspruch überaus schmerzlich empfand. Seine transitorische Existenz war ihm Gewißheit geworden. Alles war erhaben und auf gediegene Weise erhebend in dieser Halle, er sah sich um, er sah seine Frau, der er seine Ankunftszeit mitgeteilt hatte, nicht. (Oder übersah er sie nach zehn Jahren?) Nein, Claire war nicht da. Zu seiner Überraschung sah er aber zahlreiche Tagestouristen, die mit geschulterten Skiern aus dem nahen Wintersportgebiet kamen, freudig aufgekratzt, mit gebräunten Gesichtern.

Er stieß eine der hohen Türen auf und war geblendet. Hier lag der See, der große blaue Spiegel, nur ein paar Schritte waren es zum Kai, sanftes Wasser schwappte heran, kein Kräuseln der Oberfläche. Natürlich hatte sich seine Ankunft verzögert, um gut zwei Stunden, aber dieses Verzögern kam ihm wie eine Überdehnung vor, die Freude, anzukommen und seine Frau wiederzusehen, war in eine unbestimmte Zeit verwiesen. Hier war der Leuchtturm, der aus dem Wasser aufragte, hier war der bayerische Löwe, der mit gelassener Herrschaftsgeste den Hafen bewachte, und dort waren die Berge, die fernen und gleichzeitig nahen Berge, eine Kulisse aus Weiß und Grau und Alpenrosa, ihr Geschiebe, ihre archaische Kraft, unverrückbar, unerhört schön. Da hörte er seinen Namen rufen.

Das Wiedersehen eines Mannes und einer Frau, die sich so lange nicht gesehen hatten, sich verloren glauben mußten. Das atemlose Erstarren, Sprachlosigkeit, die Augen, die den Blick des anderen suchen, sich festklammern am Blick, Augen, die groß werden, trinken, sich versenken und sich dann abwenden wie erleichtert, ermüdet von der Arbeit des Wiedererkennens, ja, du bist es, du bist es immer noch. Das ganze Gesicht, das sich in den Mantelkragen bohrt, sich dann aber wieder rasch hochreckt, die zitternde Erregung, die den anderen Augen, den zehn Jahre vermißten Augen, nicht standhält. Die hellen, wäßrigen Augen des Mannes hinter der Nickelbrille und die grünen Augen der Frau, die Pupillen haben einen dunklen Ring. Es sind die Augen, die das Wiedersehen inszenieren, aber die, die es aushalten müssen, die ihm standhalten müssen, sind veränderte, in die Jahre gekommene Menschen, etwa gleich groß, auf gleicher Augenhöhe. Sie lächeln, sie lächeln sich an, die Haut um die Augen faltet sich, kein Wimpernzucken, nichts, nichts, nur der Blick, der lang ausgehaltene Blick, die Pupillen sind starr. Dann löst sich eine Hand, ist es die Hand des Mannes oder die der Frau? in jedem Fall ist es eine mutige Hand oder eher nur die Kuppe des rechten Mittelfingers, die Mut beweist und auch Instinkt und über den hohen Backenknochen des verloren geglaubten Ehepartners fährt. Ein vertrauter Finger, eine Nervenerregung, die von einer Gefühlsregung noch sorgsam geschieden ist. Es ist eher die empfindlich gespannte Haut über dem Backenknochen, die reagiert, die dem ganzen Körper „Alarm“ meldet. Eine Vereinigung der Nervenzellen, nicht des Ehepaares, diese dauert sehr, sehr viel länger, es ist eine Empfindung, die das ganze Nervengeflecht durchrüttelt, ein „du bist’s, ja, wirklich, du bist’s“. Das instinktive Wiederfinden der geliebten, der vertrauten Haut war ein Wunder, über das die Kornitzers später noch oft sprachen, später, später, miteinander, ihren Kindern konnten sie es nicht mitteilen. Nicht der „berührte“ Körperteil (Mann oder Frau) sendete den Alarm in den ganzen Körper, es war der aktive „berührende“, und nach einer halben Sekunde war nicht mehr festzustellen, wer berührt hatte und wer berührt worden war. Die noch einsame, knapp zehn Jahre lang den Ehepartner entbehrende Hand bewegte sich, zuckte, streichelte, ja umschlang und wollte nicht mehr loslassen.

Das war das Ankommen. Dieses Signal der Nervenzellen bereitete dem ganzen Menschen einen Weg. Einen Weg vom Bahnhof in der Bodensee-Stadt zum Gasthaus am Hafen, das Kornitzer kaum sah, in dem er seiner Frau gegenübersaß und eine Suppe löffelte, das Gepäck rund um ihn verstreut, gestapelt. Er sah seine Frau jetzt eher wie einen Umriß, sie war knochig geworden, die Schultern vom Frieren hochgereckt, er sah ihren großen Mund, den sie nun öffnete, um den einen oder anderen Löffel Suppe hineinzuschieben, er sah ihre Zähne, das goldene Tüpfelchen, das einen ihrer Eckzähne, auf den sie einmal gefallen war, ausflickte, er sah ihre Hände, die rauher und gröber geworden waren seit dem Abschied in Berlin. Seine eigenen Hände versteckte er im Schoß. Die Suppe hatte er rasch und sachlich hinuntergelöffelt. Er sah seine Frau an, Schicht für Schicht versuchte er das jetzige Bild, das Bild der Frau, die ihm gegenübersaß, mit dem Bild, das er sich gemacht hatte alle Jahre zwischendurch, in Übereinstimmung zu bringen. Es gelang nicht. Auch das Photo in seiner Brieftasche, das er so häufig angestarrt hatte, bis er glaubte, es auswendig zu können — wenn dies bei einem Bild überhaupt möglich war —, half ihm nicht. Claire war jetzt jemand, der Suppe löffelte und sich offenkundig nicht fürchtete, einem nahezu Fremden gegenüberzusitzen. Einen Augenblick dachte er: Was hat sie zu fürchten gelernt, daß sie sich jetzt nicht fürchtet? Er unterließ es zu fragen: Claire, wie ist es dir ergangen? Die Frage setzte eine größere Vertrautheit voraus, eine Frage, die Zeit zu einer langen, romanhaften Antwort brauchte, und vor allen Dingen Zuhörzeit, ein ruhiges, entspanntes: Erzähl doch mal. Und auch sie fragte nicht: Richard, wie ist es dir ergangen? Er hätte mit den Schultern zucken müssen, ein Rafftempo, ein schneller Vorlauf und ein langsamer Rücklauf und wo anfangen? dann hatte seine Frau endlich ihren Suppenteller ausgekratzt und den Löffel klirrend (vielleicht zitterte sie?) auf das Porzellan gelegt und fragte: Wie viele Tage bist du gereist? Darauf war eine knappe Antwort möglich: Vierzehn auf dem Schiff und drei Tage von Hamburg an den Bodensee. Das schien ihr nicht übermäßig lang, sie machte nicht den Eindruck, als wolle sie ihn deshalb bedauern. Sie nahm ihn mit in ihr Dorf, das war eigentlich nicht vorgesehen. Die Hilfsorganisation, die ihm seine Reise bezahlt hatte, die ihn an den Bodensee transportiert hatte, hatte ihm ein Merkblatt mitgegeben, in dem es hieß, daß er sich sofort nach seiner Ankunft bei der entsprechenden Stelle an dem zukünftigen Wohnort zu melden hätte. Kornitzer sagte es Claire, aber davon wollte sie nichts wissen. Die Hilfsorganisation läuft nicht weg, da kannst du auch noch morgen hin. Kornitzers Gepäck sollte nachgeschickt werden mit einem Fuhrwerk, Claire hatte mit einem bäuerlich wirkenden Mann am Bahnhof verhandelt, in einer Stunde vielleicht solle er sie abholen, und so kam der Mann ins Gasthaus. Kornitzer und seine Frau halfen ihm, die Gepäckstücke aufzuladen. Sich gemeinsam zu bücken und zu recken, zu heben und zu schieben, das war die erste gemeinsame Handlung, die den Grund hatte, eine Privatheit herzustellen. Einen Vorhang, der sich vor das Paar schob, als es sich in Claires geblümtem Zimmerchen im Haus 6 eines Weilers mit dem Namen Bettnang zurückzog, in dem ihre einzigen geretteten Kostbarkeiten ein Plattenspieler und eine Schreibmaschine waren. Die Schreibmaschine glaubte er noch aus Berlin zu kennen, sie hieß „Erika“, und ihre Hebelmechanik hatte unverdrossen den ganzen Krieg und die Evakuierung überstanden. Hut ab vor „Erika“, und eine der ersten triumphierenden Bemerkungen, die Claire ihrem zurückgekehrten Mann gegenüber machte, war: Ich habe eine ganze Menge Farbbänder gehortet, Farbbänder waren angeblich nicht kriegswichtig, oder man hatte vergessen, sie als kriegswichtig zu erklären. Und sie nehmen sehr wenig Platz in einem Fluchtgepäck ein. Wir können also Anträge und Briefe schreiben, die eine gute Form haben. Darauf wußte er nichts zu sagen, er nickte nur, er sah, wie vorausschauend sie gehandelt hatte. Er hatte auch überlegt, was er mitbringen sollte von der langen Reise. Kaffee? Tabak? Süßigkeiten? Südfrüchte? Dokumente seiner Tätigkeit? Aber die Bestimmungen änderten sich fast jeden Tag, was heute erlaubt war, war aus politischen oder hygienischen Gründen (oder aus praktischen Gründen, die sich hinter ideologischen oder ganz unerfindlichen Gründen verbargen, aus Gründen der Zoll-Erfassung vielleicht) plötzlich verboten. Niemand wußte es. Was sprach gegen ein Säckchen Zucker? Was sprach gegen die noch vor einem Monat erlaubte Menge von Parfum und Tabak? Man stand wie ein Idiot da, und vielleicht war genau das der Sinn der sich dauernd widersprechenden Maßnahmen.