Was die Ausbürgerung betraf, so hielt er sich in seinem folgenden Schreiben an den Herrn Kreispräsidenten kurz und knapp, er schrieb, daß seine Mitteilung insoweit richtig sei, „als ich tatsächlich staatenlos bin. Das ändert jedoch nichts daran, daß ich nicht zu den Nichtdeutschen gehöre, die niemals die deutsche Staatsbürgerschaft besessen haben, sondern daß mir gerade durch einen nationalsozialistischen Verfolgungsakt die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt worden ist, die meine Vorfahren und ich selbst seit Geburt immer hatten.“ Weiterhin erklärte er, daß sich bis jetzt keine andere Behörde gegenüber den aus Übersee zurückgekehrten Emigranten auf Ähnliches berufen habe. „Vielmehr“, schrieb er weiter, „haben diese bei ihrer Ankunft 4 Care-Pakete, für drei Monate die höchsten Lebensmittelkarten und ab dem 4. Monat laufend eine Karte um eine Stufe höher als sonst anfallend erhalten. Ich habe dagegen seit drei Monaten nur die Non-Travailleur-Karte erhalten, die nur in einigem besser ist als die deutsche Karte, in anderem aber sogar schlechter. Außerdem habe ich nur Zigaretten und Seife erhalten. In anderen Orten sind den Rückkehrern auch Kleidung, Möbel, Geschirr u. a. zugewiesen worden, ganz abgesehen davon, was sie aus Übersee mitbringen durften.“ Er berichtete weiter, seine Kleidung sei unter dem Durchschnitt der hiesigen Bevölkerung, und seine Ehefrau sei, da sie die Scheidung der Ehe standhaft verweigerte und den Nationalsozialismus bekämpfte, von der Gestapo körperlich schwer mißhandelt und wirtschaftlich ruiniert worden. Die geringen Ersparnisse, die sie seit ihrer Ansässigmachung im Landkreis aus Arbeitseinkünften gemacht habe, seien durch die Währungsreform ganz herabgesunken. Und er schloß ganz formell und verbindlich: „Ich wäre dankbar, wenn sich in dieser Sache eine faire Regelung herbeiführen ließe, wofür ich Ihre frdl. Hilfe erbitte. Ergebenst
Dr. Richard Kornitzer“
Er ist wirklich angekommen in einem Winkel Deutschlands, an den er vorher nicht gedacht hat. Und das war sicher ein Fehler, für den er jetzt büßte. Claire legte ihm, als er diesen Beschwerdebrief nachts in die Schreibmaschine geklimpert hatte, keine beruhigende Hand auf den Arm, sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und hielt ihn fest: Richard, es ist genug, wir leiden doch keine Not. Ein wenig irritierte ihn diese Justierung seines Kopfes, seines Blickes. Und sie verwies auf die Flüchtlinge im Weiler, die sehr schweigsam waren und die aus Schlesien oder aus dem Sudetengau gekommen sind mit nichts, mit einem Rucksack, Paketen, Körben und vielen Kindern an der Hand. Wir, sagte sie, haben doch Überlegungen anstellen können, Richard, sagte sie, und die Überlegungen waren nicht so falsch. Ja, wenn du an die Schornsteine denkst, waren sie nicht falsch, antwortete Kornitzer, und dann wollte er nicht mehr sprechen, wollte eine Decke über den Kopf ziehen, aber die Decke, die Claire hatte, war zu kurz und nicht breit genug, so war sein Verschwindenwollen, Verstecken eine belanglose, hilflose, ja kindische Angelegenheit, die seine Frau mit ruhiger Hand aufdeckte. Sie deckte seinen Zorn und seine Erbitterung auf und erbat sich einen ordentlichen Anteil an „ihrer“ Decke, dem konnte er nicht widersprechen, also war er ins Unrecht gesetzt. Sollte seine Frau frieren, weil er in Kuba geschwitzt hatte? Sollte sein Leid das der Leute, die aus den Lagern gekommen waren und die deutsche Sprache nur als eine Kommandosprache, eine Sprache der Appelle, kennengelernt hatten, übertreffen? Nein, das war nicht richtig. Claire hatte ihn ins Unrecht gesetzt, wie er sie bei dem Thema des polnischen Knechtes, den er korrekt als Zwangsarbeiter bezeichnen wollte, ins Unrecht gesetzt hatte. Jedenfalls hatte es ihn irritiert, daß sie eine Sprache sprach und eine Sprachregelung benutzte, die zur Kapitulation gezwungen worden waren, mit allen Konsequenzen, auch sprachlichen. Also versuchte er, sich unter der geliehenen, halb von seiner Frau generös überlassenen Decke zu beruhigen, er war lange schlaflos in dieser Nacht, es rollten schwere Gedanken in seinem Kopf, und etwas wartete auf die Erlösung. Er hielt viel von der Regulierung der Gefühle, aber jetzt kamen ihm seine Gefühle unsicher vor, archaisch.
Am Morgen waren seine Füße eiskalt, er tastete mit den Zehen nach Claires Füßen, die warm waren, aber er wagte nicht, die Decke auf seine Seite herüberzuzerren, eigentlich wagte er überhaupt nicht viel, sagte er sich in der fahlen Morgenbeleuchtung, und daß sich dies ändern müsse, bald, bald. Dann öffnete Claire ihre grünen Augen, seufzte behaglich, und er wußte eine halbe Stunde später doch nicht mehr so genau, was sich ändern müßte. Aber es hatte sich ja schon viel geändert, und wie viel mehr änderte sich, wenn sie nicht nur zögerlich Mann und Frau wären, sondern auch Vater und Mutter, wenn die eigenen Erfahrungen mit denen der Kinder in Übereinstimmung gebracht würden. Wenn die Erschütterung der Kinder, ihr Schrecken, ihre Fremdheit so wichtig würden wie die disparaten Erfahrungen der Eltern. Ja, darauf mußte man sich sorgsam vorbereiten.
Kornitzers Brief an den Kreispräsidenten hatte eine erstaunliche Wirkung. Der Kreispräsident schrieb dem Landrat, der schrieb dem Kreispräsidenten zurück: Nach den für die Betreuung der politischen Verfolgten bestehenden Richtlinien ist die Betreuung von Staatenlosen nicht vorgesehen. Der von Herrn Dr. Kornitzer für seine Person geschilderte Tatbestand, nämlich die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit als ein Verfolgungsakt, ist in den Richtlinien nicht erwähnt. Als Grund hierfür darf wohl angenommen werden, daß die seinerzeit von der nationalsozialistischen Regierung ausgesprochene Ausbürgerung auf Antrag des Betroffenen für nichtig erklärt werden kann, und daß die Betreuung ohnedies von der UNRAA, bzw. IRO auf die deutschen Betreuungsstellen übergeht, andererseits aber ein Ausgebürgerter, der die deutsche Staatsangehörigkeit nicht wieder erwerben will, seine Betreuungsansprüche bei der UNRAA, bzw. IRO stellen kann. Die Nichtigkeitserklärung von Ausbürgerungen regelt sich in Bayern nach dem Gesetz Nr. 108 über die Staatsangehörigkeit von Ausgebürgerten vom 27. 3. 1948. Für Württemberg und Hohenzollern ist ein gleiches Gesetz der Betreuungsstelle nicht bekannt geworden. Kornitzer wurde empfohlen, die Nichtigkeit seiner Ausbürgerung zu beantragen, sobald das Gesetz auch im Kreise Lindau in Kraft getreten sei. Und er solle die erforderlichen Unterlagen, nämlich den Nachweis der jüdischen Abstammung und der erlittenen Schäden beibringen. Dagegen konnte er wenig sagen, die Nichtigkeit seiner Ausbürgerung war ein Teil anderer Nichtigkeiten. Die Schreibmaschine klapperte, die Farbbänder spulten sich weiter und weiter. Wäre die Nichtigkeit der Ausbürgerung beantragt, würde ihm, Dr. Richard Kornitzer, mehr Achtung entgegengebracht, so dachte er, wenigstens eine Maßnahme, die zu seiner Demütigung und Behinderung im öffentlichen Leben geführt hatte (in der Nachfolge anderer Maßnahmen) wäre vom Tisch. Von der Ausbürgerung, die ihn in Kuba traf, wußte er damals nichts. Sein deutscher Paß verlor seine Gültigkeit, und er merkte es nicht einmal; ein hoffnungsvolleres Emigrationsland war nicht mehr zu erreichen. Zwischen England und den USA torpedierte Schiffe, zwischen den USA und Kuba komplizierte, vorwiegend mit Geld geschmierte Beziehungen. Die Kinder in England und weit weg, unerreichbar: Claire, die ihre nichtarischen Verwicklungen verleugnen, verstecken mußte als arische Geisel in Deutschland. Und so war eine Fremdheit entstanden, die eigene Not und die fremde Not, außerhalb der Restriktionen und innerhalb der Grenzen des eigenen Empfindungsvermögens nicht vermitteln zu können. In Kuba war es häßlich und deprimierend für einen Flüchtling. Das einzige Interesse bestand darin, Geld aus ihm zu pressen und, wenn das nicht gelang, ihn in die Obhut von Hilfsorganisationen zu pressen, die dann das Geld, das erpreßt werden sollte, aus irgendwelchen Fonds zahlten, die gutmütige jüdische Gemeinden in den USA oder in Portugal aufbrachten in der Hoffnung, sie würden Glaubensbrüdern helfen, aber Kornitzer war kein Glaubensbruder, er war ein abtrünnig gewordener Bruder, und daß nur Hitler oder seine absurde Gesetzgebung, wer ein Geltungsjude, ein halber Jude, ein Vierteljude oder ein Nennjude war und wie seine Kinder zu schikanieren waren unter welchen Bedingungen, ihn an seine Herkunft erinnerten, das wollte er in der Tat nicht an jedem Tag wissen, solange er noch juristische Fachzeitschriften gelesen hatte, solange er noch in öffentliche Bibliotheken ging, solange die Staatsbibliothek ihm noch offen stand, ihm, dem geschaßten Justizassessor am Landgericht, der danach gefiebert hatte, ein Landgerichtsrat zu werden.