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Beim zweiten Rezitativ bat er seine Frau, den Plattenspieler abzustellen, warum, hätte er selbst nicht sagen können. Claire tat es, sie hörte gleichzeitig abrupt mit dem Bügeln auf, als sei die eine Tätigkeit mit der anderen unmittelbar verknüpft. Und er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, setzte sich an den Tisch, tat gar nichts, sah sich beim Nichtstun zu, wie er seiner Frau beim Bügeln zugesehen hatte, nur das Ergebnis war ein vollkommen anderes. Seine Frau hatte er gesehen, gespürt, sich selbst sah, spürte er nicht. Er war abgeschnitten von sich.

Und dann, nach vier Tagen, an die sich Kornitzer nicht wirklich erinnerte, Nebeltagen, Telephontagen, Schreibtagen, entschloß er sich unter dem Druck des Telephongespräches, ja auch unter dem Zeitdruck bis zum nächsten Morgen um 10 Uhr, an seinen unmittelbaren Vorgesetzten, den Landgerichtsdirektor Haldt, zu schreiben, und er schrieb sorgsam, da sein Schreiben unmittelbar an den Justizminister weitergeleitet werden mußte. Die Dienstwege, die Wasserwege, die Schiffahrtswege, den Rhein hinauf und den Rhein hinab. Wenn er sich vorstellte, auf welchen Wegen er (endlich!) Landgerichtsrat und dann Landgerichtsdirektor geworden war, schwindelte ihn. Er war wiedergekommen, ja, nicht nur, weil Claire ihn „angefordert“ hatte bei der Hilfsorganisation, wie der Terminus technicus hieß; er selbst hatte es so gewollt. Ein neues demokratisches Deutschland, ein Glück, vorbereitet und geschenkt von den Befreiern, so sah er das, ein Glück, zu dem er seinen Beitrag leisten wollte. Und nun fühlte er sich allein mit diesem Blick, furchtbar alleingelassen. Aber ein solcher Angstanfall, eine solche Beklemmung war seiner Sache nicht dienlich, er mußte weiter, weitergehen.

„An Herrn Landgerichtsdirektor Haldt. Mainz, Landgericht“ adressierte er seinen Brief und fuhr fort:

„Ihrem Wunsch entsprechend gebe ich folgende Erklärung ab: Ich habe zu Beginn der Sitzung vom 20. September d. J. gesagt, daß ich mich persönlich bei der Wiederaufnahme der Gerichtstätigkeit nach den Ferien für verpflichtet halte, die Artikel 3, Abs. III und Artikel 97, Abs. I des Grundgesetzes wie folgt vorzulesen:

Art. 3, Abs. III. Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.

Art. 97, Abs. I. Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.

Die Verlesung erfolgte ohne jede Bezugnahme auf Vorkommnisse, ohne sonstige Worte, ohne Kommentar, Kritik oder dergl., und nur in meinem eigenen Namen. Danach sagte ich noch kurz, daß ich privat eine Konferenz mit Herren der Presse abhalten und dazu — auch Anwälte — einladen würde. Ich nannte weder Zeit noch Themen. Ich bin“, schrieb Kornitzer weiter, „der Überzeugung, daß dem vorstehend geschilderten kurzen Vorgang — zumal beim Arbeitsbeginn nach den Ferien und da ich dem Dienstalter nach der älteste Landgerichtsdirektor des Landgerichts Mainz bin — nichts Ungewöhnliches anhaftet. Es erfolgte keinerlei Bezugnahme oder Hinweis auf Pressenotizen. Der Zweck deckte sich mit dem Inhalt der Artikel des Grundgesetzes selbst. Kritik an irgendwelchen Maßnahmen einer Behörde wurde in keiner Weise zum Ausdrucke gebracht oder auch nur angedeutet. Wenn ich nach meinen Gedanken und inneren Vorstellungen dabei gefragt werde, so bin ich überfordert.“ Eben das verwundert bei einem Menschen, der Außerordentliches leistet, der sich aufrichtet in der geschlossenen Zivilkammer des Gerichts.

„Vornehmlich hatte mein Gewissen ganz allgemein die Pflicht des Richters zur Wahrung und Pflege demokratischer Justiz und die Treue zur freiheitlichen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes vor Augen.

Über den Zeitpunkt und den Inhalt meiner Besprechung mit den Herren der Presse und Anwaltschaft habe ich noch keine Entschlüsse gefaßt. Die Besprechung wird privatim und voraussichtlich in meiner Wohnung stattfinden.“ (Eine Pressekonferenz in einem Privathaus? In Mombach? Für wen? Eine sonderbare Konstruktion.) Und er fügte hinzu: „Selbstverständlich werde ich meine Pflichten als Staatsbürger und als Richter dabei nicht verletzen.

Weitere Erklärungen habe ich nicht abzugeben.

Mit vorzüglicher kollegialer Hochachtung!

Dr. Richard Kornitzer LG. Direktor“

Äußere Verwirrung und innere Ordnung, die eine äußere Ordnung werden muß. Nach Kornitzers Auffassung regiert die Kälte. Er ist Teil der Kälte, aber er friert nicht, geht mechanisch in sein Dienstzimmer, er grüßt mechanisch die Landgerichtsdirektoren, die Gerichtsräte, die Assessoren, die Referendare, er sieht geradeaus, sein Gesicht bleibt unbewegt, er rückt die Brille zurecht, aber sie sitzt schon genau am richtigen Platz, keinen Millimeter zu tief oder zu hoch auf der Nasenwurzel. Es ist nicht die Brille, die er zurechtrückt, es ist die Ordnung der Welt, die er nicht zurechtrücken kann. Es ist das Gesetz, auf dem er bestehen muß. Er ist ein Teil des Gesetzes, das andere bedenkenlos beiseite schieben, und so fühlt er sich auch beiseite geschoben, übergangen, gefangen in seiner Vorstellung vom Gesetz, von Grund auf verletzt. Nein, am Anfang war die Tat nicht.

Rechnungen, Brechungen

Etwas bewegte sich, kam ins Rutschen, es war, wie wenn ein großer Papierstapel, dessen Seiten noch unpaginiert sind, vom Sofa heruntergleitet und sich auf dem Weg zum Fußboden auffächert, mühsam muß man die Blätter wieder zusammenfügen, den passenden Übergang finden, und gleichzeitig ist man ungehalten über den Vorfall und möchte alles auf einen Haufen werfen oder vernichten. Aber in diesem Fall handelte es sich ja nur um Papier, in Kornitzers Fall ging es um die Wirklichkeit, seine Karriere, sein Leben, seine Existenz. Kornitzer spürte das Gleiten, wenn er das Landgericht betrat, und gleichzeitig wehte ihm etwas wie Gegenwind entgegen. Er hielt Dr. Funk, dem Grundbuchrichter, der inzwischen nicht mehr im hölzernen Selbstfahrer saß, sondern in einem blitzblanken Rollstuhl, die Tür auf. Und Dr. Funk tat so, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Der Rollstuhlbesitzer rollt heran, er ist eine anerkannte Institution, man sieht ihm den Schaden von weitem an. Er rollt, er räuspert sich, er hat eine tragende Rolle, die der Remigrant nicht hat. (Seine Rolle ist undefiniert, er fällt nicht auf, und er hat gelernt, daß es besser ist, nicht aufzufallen.) Es gibt viele, viele Beinamputierte, Kriegsverletzte, und es gibt ein großes Reservoir von Hirnverletzten, und was in ihren Köpfen vorgeht, ist manchmal vollkommen unklar: Man nimmt Rücksicht, schweigt. Man kann (vielleicht glücklicherweise) nicht in ihre Köpfe hineinschauen, aber man glaubt, sie versorgungstechnisch bevorzugen zu müssen, und tut es auch. Behindertengerecht muß Dr. Funk hinaufkomplimentiert werden in eines der oberen Stockwerke. Das Land baut einen Fahrstuhl, und der Steuerzahler bezahlt den Fahrstuhl. Wie Dr. Funk eine Toilette aufsuchen kann, ob überhaupt, unter welchen Umständen, vielleicht unter beschämenden Umständen, und mit welchen Rücksichten, Vorsichtsmaßnahmen oder vielleicht den Steuerzahler exorbitant belastenden Kosten, darüber möchte sich Kornitzer eigentlich keine Gedanken machen.

Kornitzer dachte jetzt auch wieder an die vielen Beinamputierten in Havanna, die offenkundig keine Kriegsopfer oder keine Opfer von Verkehrsunfällen waren: es wurde einfach zu fett und zu schwer und zu süß im Land gegessen, und dies hatte dramatische Folgen, die der einzelne Esser, die genußfreudige Tortenvertilgerin, nicht wirklich bedachte. Oder: niemand hatte sie im Zweifelsfall vor den Folgen der dauernden Süßspeisen-Attentate gewarnt. Und plötzlich mußte ein Bein amputiert werden. Und die schönen Torten sackten zusammen und bildeten eine weiche Barriere zwischen den Gefährdeten und den noch Gesunden. Und es war gut, daß die Emigranten, was immer sie entbehrt hatten in der Zwischenzeit, nicht so versessen auf Süßes waren. Sie hatten eine multiple Vernünftigkeit, eine ermüdete Anpassungsbereitschaft mitgebracht, die nicht in jeden Zuckertopf fiel, und das bewahrte sie vor vielem, an das sie gar nicht denken konnten, als sie Deutschland verlassen hatten. Die Gefährdung durch Süße war nicht in den Faltblättern, den Ausreise-Erläuterungen der Jüdischen Gemeinden erwähnt worden. Und die Faltblätter, die Richtlinien waren enorm wichtig gewesen. Kornitzer dachte in solchen Augenblicken auch an Amanda: daß man sie mit zu viel Zucker fütterte, war die banalste Sorge um sie, aber auch keine geringe. Es war manchmal wie ein Horchen, ob er das kleine Mädchen über die Meere hinweg hören könnte, ob es nach ihm riefe, ob es etwas brauchte, ob es ihn brauchte, und wenn er nichts hörte oder nur die kalte, sprudelnde Spur, die die Rheindampfer zogen, rheinaufwärts nach Basel, rheinabwärts nach den Niederlanden, die Dampfer waren blütenweiß lackiert, die Rheinschiffahrt funktionierte, länderübergreifend, die Devisen abgreifend, so gut funktionierte kaum etwas zwischendurch, war er bekümmert.