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Und er, der in die Niederlande, in einem bequemen Schnellzug mit roten Samtpolstern den Rhein entlang, reiste, mußte in der Stille manchmal annehmen, es sei sein Fehler. Er war, auf ihn selbst verwundernde Art, Vizepräsident der Akademie für Völkerrecht in Den Haag geworden. Darauf war er einerseits stolz, andererseits verstand er sehr gut, daß die Niederländer in einem kleinen Land Juristen aus großen europäischen Ländern in die Akademie einbinden wollten und mußten. Und da es entschiedene Zweifel gab, ob überhaupt ein deutscher Völkerrechtler zu finden war, den man in Anbetracht seiner Vergangenheit in diese feine Akademie einladen konnte, so fielen seine Herkunft, seine Emigration, seine Vielsprachigkeit in die Waagschale, und sie waren gewichtige Argumente. Ja, sein Lebenslauf und seine Karriere waren untadelig, wie sehr er auch selbst daran herumkrittelte und herumfeilte. Nein, er war kein Fachmann für internationales Recht, für Völkerrecht schon überhaupt nicht, aber wenn das nicht störend war, dann war sein Beitrag, seine nicht gesuchte, aber doch gelebte Internationalität willkommen. Wer sich in das kubanische Rechtssystem einarbeiten konnte, der konnte auch andere Rechtssysteme analysieren und Wissen vermitteln, sagten die Juristen, die ihn berufen hatten. Er meldete die Nebentätigkeit ordnungsgemäß dem Präsidenten des Landgerichts in Mainz und fügte abwiegelnd hinzu: „Irgendwie erheblicher Arbeitsanfall ist damit nicht verbunden.“

Er saß also ab und zu Gremien vor, in denen haarscharf Argumente durch die Luft geschossen wurden, vor denen er sich als Deutscher ducken mußte, auch manchmal peinvoll schweigen, und er dachte mit den Niederländern in einer kleinen Runde über Maßnahmen der Verfolgung von Straftaten nach, die überall justiziabel waren (theoretisch) oder sein sollten (praktisch in eine Zukunft gedacht). Die Niederländer fragten ihn nach den Vorbereitungen zum Auschwitz-Prozeß, und er gab Auskunft, so gut er konnte. Sie fragten ihn Löcher in den Bauch, wollten mehr wissen als das, was die deutschen Zeitungen hergaben. Es sah noch aus, als werde es mehrere Prozesse geben und nicht einen (den!) großen, spektakulären. Fritz Bauer, den Namen des Frankfurter Generalstaatsanwaltes, buchstabierte Kornitzer in Den Haag, ein Mann, von dem noch viel zu erwarten war, betonte er. Der Mann, der nach Dänemark und dann nach Schweden emigriert war und zurückgekommen war. Der 1952 als Generalstaatsanwalt in Braunschweig vom NS-Staat als einem „Unrechtsstaat“ sprach und die Rehabilitierung der Attentäter des 20. Juli vorbereitete. Der nach dem Aufenthaltsort Adolf Eichmanns forschte. Und es freute Kornitzer, wie seine Zuhörer an seinen Lippen hingen. Fritz Bauer, der den Auschwitz-Prozeß vorbereitete. (Daß Bauer geäußert hatte: „Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, betrete ich feindliches Ausland“, zitierte er nicht vor den Niederländern.)

Er dachte, er schrieb Konzepte, er hörte das stets röchelnde, heisere Niederländisch, das so klang, als kämen die Laute eher aus einem Kamin als aus der Kehle. Man war sehr freundlich zu ihm, und er wußte, warum: Er war ein Deutscher, aber einer, dessen Lebensweg die Niederländer verstanden und achteten. Im Landgericht Mainz reagierte man schmallippig auf seine Nebentätigkeit, vermutlich einfach aus Neid, der mit Geringschätzung verbrämt war. Er fuhr wieder und wieder nach Den Haag und freute sich an der Ordnung der roten Backsteine, den klitzekleinen Altstadtgassen, der bedachtsamen Gemütlichkeit, am Blitzblanken der Fensterrahmen, an den einladenden Wohnzimmern, die von keiner Gardinenpracht verhängt waren, am pfeifenden Wind. Es war unhöflich, er wußte es, aber er konnte nicht anders als vor erleuchteten Fenstern stehen zu bleiben, da saß eine Familie um einen Eßtisch, und alles war auf so ungeheuerliche Weise normal, daß es zugleich schmerzte und beglückte, ihr heimlich bei der Mahlzeit zuzusehen. Er selbst aß Schüsseln mit Miesmuscheln, auf denen sich Zwiebelringe türmten, schlürfte die Brühe auf, er freute sich an der ganzen kleingemusterten, feinfühligen Stadt, ihrer Zierleistenseligkeit, besonders im Hotel Des Indes mit seiner heiteren und gleichzeitig würdigen Geblümtheit, für die er sich zu ungeschlacht, zu groß, zu deutsch empfand. Und über der Stadt leuchtete ein Königshaus, Wachen zogen auf und ab, und man roch das Meer, man sah das graue Meer, und der Wind wehte aus England. Ja, das hatte er verstanden: Man hatte ihn in ein Leitungsgremium gebeten, um die Berufung anderer Deutscher zu verhindern, aber das tat auch nicht wohl, die anderen, die Nicht-Berufenen, waren Schatten, die ihn verdunkelten, seine Unbefangenheit verstörten. Den freundlichen und engagierten Niederländern, die ihn berufen hatten, war das nicht vorzuwerfen. Eher warf er sich selbst seinen Mangel an Bewegung, an Zugriff vor. Ja, in stillen Augenblicken warf er sich vor, daß er die Wahl angenommen hatte, während das Amt gar nicht viel Anspruch an ihn stellte. Er operierte auf einem anderen Gleis und fühlte sich ertappt dabei: Nur ein wenig Völkerrecht, aber er konnte doch nicht mehr umsatteln, er hatte das Patentrecht im Blick, das Handelsrecht, der Blick auf eine juristische Totale war totalitär, gigantomanisch, und er hatte Pflichten in einem Landgericht. Darüber mußte gründlich nachgedacht werden zur richtigen Zeit oder nie. Also entschied sich Kornitzer für die richtige Zeit, und er schwieg über seine Kümmernisse. Ja, er schwieg, und Claire war die Erste, die über sein Schweigen hinwegschwieg, beharrlich schwieg. Aber was gab es zu verbergen?

Von Den Haag aus fuhr er nach England, besuchte George und Selma. Er mußte dem Sohn und der Tochter sagen, daß er von nun an kein Kindergeld mehr für sie in Deutschland erhielt. Das lag nicht daran, wie Selma vorschnell vermutete, daß sie in England lebte und George englischer Staatsbürger war. Der Vater mußte es ihnen so nüchtern wie möglich erklären. Er war vom Justizministerium gebeten worden, nachzuweisen, wie lange noch George seinen Dienst im National Service, bei der Armee, ableistete. Als daraus deutlich wurde, daß George nach seinem Einsatz in einem Technik-Bataillon in eine Ingenieursfirma einträte, erlosch sein Anspruch. Die Zahlung für Selma hatte das Ministerium vorläufig eingestellt, weil sie sich hatte exmatrikulieren lassen. (Daß Kornitzer diesen Akt als unklug und überstürzt ansah, stand auf einem anderen Blatt.) Ein Studierender, der sich nach Ablauf des Semesters exmatrikulieren läßt, scheidet mit Ende des zuletzt belegten Semesters aus. Der Tag, an dem die Exmatrikulationsformalitäten durchgeführt werden, ist hierbei nicht von Bedeutung, da diese auch zu einem viel späteren Zeitpunkt noch nachgeholt werden können, hatte in dem Bescheid gestanden. So blieb für Selma noch ein Schlupfloch, ihr Vater erklärte es ihr so ruhig wie möglich: Sollte sie sich entschließen, im neuen Semester an einer anderen Universität, vielleicht in Deutschland, schlug er zaghaft vor, ihr Studium fortzusetzen, würde der Kinderzuschlag weiter gezahlt. Vorerst brauchte er eine Bescheinigung der Universität über ihr Ausscheiden aus dem Studiengang. Aber Selma sah düster durch ihn hindurch, als hörte sie ihn gar nicht. Die beiden erwachsenen Kinder empfanden es so, daß der deutsche Vater Staat, der sie als kleine Kinder ihrer Nationalität beraubt hatte, keine Fürsorgenotwendigkeit für sie empfand, und ausgerechnet ihr Vater war der Überbringer der schlechten Nachricht. Der schlechten Nachricht, deren objektive Bedingungen Kornitzer einräumen mußte. Er sagte George und Selma auch, wenn sie Geld brauchten, Unterstützung, er gäbe es ihnen selbstverständlich auch ohne den Kinderzuschlag.